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Magazin Mitbestimmung

: Erziehung zum Homo oeconomicus

Ausgabe 05/2011

UNTERRICHT Wirtschaftsverbände erobern mit ihren Vorstellungen von ökonomischer Bildung die Schulen. Wie können Gegenstrategien aussehen? Diese Frage treibt Lehrer und Gewerkschafter um. Von Philipp Wolter

PHILIPP WOLTER ist Redakteur in der Hans-Böckler-Stiftung.

"There is no such thing as society", mit diesen Worten beschrieb Margret Thatcher einst das Fundament des neoliberalen Denkgebäudes. Es gibt keine Gesellschaft, nur Individuen. "Aus der individualistischen Norm folgt auch, dass kein überindividuelles ,Gemeinwohl' begründbar ist" - so lernen es unsere Kinder heute im Sozialkunde- oder Wirtschaftsunterricht aus einem Schulbuch des Westermann-Verlags.

In einem anderen Kapitel des bei der Bildungsmesse Didacta 2011 in Stuttgart ausgestellten Bändchens "Die Funktionen des Staates in einer marktwirtschaftlichen Ordnung" geht es um Lohnpolitik. Hier wird zum einen das übliche produktivitätsorientierte Konzept vorgestellt, zum anderen die einst vom Sachverständigenrat vorgeschlagene, "kostenniveauneutrale Lohnpolitik". Grob gesprochen geht es bei Ersterem darum, den Anteil der Arbeitnehmer am Volkseinkommen konstant zu halten, bei Letzterer darum, die Gewinne zu stabilisieren. Während die produktivitätsorientierte Lohnpolitik lediglich mit dem Hinweis in den Raum gestellt wird, dass zwischen den Tarifparteien "Uneinigkeit" über dieses Konzept herrsche, ist das Modell des Sachverständigenrats mit dem Attribut "von der Wissenschaft entwickelt" versehen und weiter durch die "Ablehnung der Gewerkschaften" charakterisiert. Nuancen, die eine klare Botschaft transportieren: Was die wirtschaftliche Vernunft gebietet, scheitert an den Gewerkschaften.

DER VERENGTE ÖKONOMISCHE BLICK_ Wie kommt ein angesehener, dem didaktischen Gebot der weltanschaulichen Neutralität verpflichteter Schulbuchverlag dazu, Schülern und Lehrern solche tendenziösen Texte vorzusetzen? Das Buch ist aus dem Lehrerfortbildungsprojekt "Ökonomische Bildung online" des Instituts für Ökonomische Bildung an der Uni Oldenburg hervorgegangen. Hinter diesem Projekt steht eine Trägerschaft von "ganz unterschiedlicher Couleur", wie es im Vorwort heißt. Sie besteht aus Heinz-Nixdorf-
Stiftung, Ludwig-Erhard-Stiftung, den Kultusministerien Niedersachsens und Baden-Württembergs, dem norddeutschen Energieversorger EWE AG, der Stiftung der Deutschen Wirtschaft und der Bertelsmann Stiftung.

Gewerkschaften? Wirtschaftskritische Stimmen? Beides kommt kaum vor in den Wirtschaftskonzepten, die arbeitgebernahe Netzwerke auf verschiedensten Kanälen in die Schulen zu schleusen versuchen. Das Buch ist nur ein Beispiel für die vielen von Unternehmensinteressen geleiteten Unterrichtsmaterialien, die in wechselnden Konstellationen von Verbänden und Instituten produziert werden. Nachdem die Inhalte weitgehend ausgearbeitet sind, gehen die Wirtschaftsverbände nun einen Schritt weiter: Sie fordern ein eigenständiges Pflichtfach Wirtschaft an allen allgemeinbildenden Schulen.

Für die Gewerkschaften sei es höchste Zeit zu reagieren - um zu verhindern, dass das Schulsystem "Menschen produziert, die einen verengten ökonomischen Blick haben", meint Oskar Negt. Bei der Tagung "Was unsere Kinder über Wirtschaft denken" Anfang April in der IG-BCE-Bildungsstätte Bad Münder trifft er damit den Nerv der Zuhörer. Der Sozialphilosoph und Reformpädagoge wendet sich insbesondere gegen die Art und Weise, in der ökonomische Bildung häufig betrieben wird: als bloße Anwendung von Optimierungskalkülen. In diesem technisch-betriebswirtschaftlichen Umgang mit ökonomischen Fragen sieht er einen Schritt auf dem Weg zur "innerschulischen Zerstörung der Ausbildung zur Kritikfähigkeit". Negt macht deutlich, was zu kurz kommt: etwa Gerechtigkeitssinn oder "Möglichkeitssinn", die Fähigkeit, Alternativen zu scheinbar Alternativlosem zu entwickeln. Urteilsfähigkeit statt Anwendungswissen. Die Demokratie brauche keine "leistungsbewussten Mitläufer", sondern politische Bürger. Arbeitgeber, die in die Schulen gingen, wollten aber keine Bürger, sondern Konsumenten und Arbeitskräfte.

In die gleiche Richtung gehen die Ausführungen von Gerd Famulla, ehemaliger Direktor am Institut für Politik und Wirtschaft der Uni Flensburg, der die Aktivitäten der verschiedenen Wirtschaftsinitiativen auf der Tagung nachzeichnet. Etwa das Memorandum des Aktieninstituts von 1999, das jungen Leuten die Börse schmackhaft machen wollte; das vom Bankenverband 2008 vorgestellte "Kerncurriculum", das die Lebenswirklichkeit von Schülern auf ökonomische Entscheidungssituationen reduziert. Schließlich die Forderung des Gemeinschaftsausschusses der Deutschen Gewerblichen Wirtschaft vom Oktober 2010, der sich ein standardisiertes bundesweites Pflichtfach Wirtschaft wünscht. Die eingeforderten Standards lagen gleich bei.

Famullas Urteil: Hier solle "vorgefertigtes Wissen in Köpfe gefüllt" werden, es gebe kein Nachdenken über unterschiedliche Sichtweisen, sondern schlichte Modelle mit eindeutigen Lösungen. Die Lebenswelten der Schüler würden ebenso ausgeblendet wie ethische Probleme. Was macht eigentlich ein gutes Leben aus? Die Frage werde nicht gestellt. Und falls doch, ist die Sache für den - grundsätzlich als Referenzmodell unterstellten - Homo oeconomicus klar: Nutzenmaximierung. "Die Schüler sollen möglichst früh lernen, das Effizienzkalkül auch auf sich selbst anzuwenden", sagt Famulla. Dies fordere das Leitbild der Zukunft, das "unternehmerische Selbst". Der eigenverantwortliche Unternehmer, der "weniger Sozialstaat auch als Gewinn" betrachtet.

RAUM FÜR POLITISCHE ÖKONOMIE_ Politische und soziologische Bildung dürfen nicht weiter zurückgedrängt werden, um Platz für BWL und VWL zu machen. Darin sind sich die Teilnehmer der von Hans-Böckler-Stiftung und IG BCE in Zusammenarbeit mit dem DGB-Arbeitskreis Schule und Arbeitswelt organisierten Veranstaltung einig. Gesellschaft besteht aus mehr als der Summe nutzenmaximierender Individuen. Wenngleich dies Schülern, die in einem von der Bankenwerbung "Unterm Strich zähl' ich" geprägten Umfeld aufwachsen, zunehmend schwerer zu vermitteln sei. Beim Wirtschaftsunterricht geht es aber nicht nur um das Ob, sondern ebenso um das Wie. So melden sich auch Lehrkräfte zu Wort, die sagen, gegen Wirtschaftskunde sei im Grundsatz nichts einzuwenden - solange sie Raum für kritische Auseinandersetzung mit den gängigen Theorien biete.

Ökonomie muss nicht zwingend dogmatisch neoklassisch sein. Das führt Achim Truger vom IMK in der Hans-Böckler-Stiftung in seinem Referat zur Euro-Krise vor. Truger spart dabei nicht mit Kritik an der wirtschaftswissenschaftlichen Zunft: Mangels Lernbereitschaft aufseiten der maßgeblichen die Politik beratenden Experten hält er die nächste Krise für programmiert. Dann allerdings führe an der Erkenntnis kein Weg mehr vorbei, dass ein Wirtschaftssystem mit geringeren Einkommensdifferenzen, regulierten Finanzmärkten und starkem Sozialstaat die größere Stabilität verspricht. Heute ist in den von Bankenverband und Versicherungswirtschaft ausgereichten Schüler-Arbeitsblättern davon freilich nichts zu lesen.

"Ich kann doch meinen Schülern mitten in der Finanzkrise nichts von effizienten Märkten erzählen" - vor diesem Problem stehen viele Lehrer sozialwissenschaftlicher Fächer. Andere Tagungsteilnehmer kritisieren die weitgehende Ausblendung von Machtstrukturen in der Mainstream-Ökonomie. Wer so etwas thematisiere, gelte "im Kollegium schnell als Spinner". Und Lehrkräfte haben noch aus anderen Gründen einen schweren Stand: "Ich fühle mich nicht ausgebildet für Ökonomie. Im Studium hatte ich dieses Thema gerade anderthalb Semester lang, und jetzt unterrichten wir in der zwölften Klasse fast nur Wirtschaft", berichtet eine Lehrerin.

SCHULFACH WIRTSCHAFT?_ Könnte ein eigenständiges Fach Wirtschaft langfristig wenigstens zu einer besseren Lehrerausbildung - und damit auch zu kompetenteren und kritischeren Pädagogen - führen? Birgit Weber, Professorin für Sozialwissenschaft mit dem Schwerpunkt ökonomische Bildung an der Uni Köln, bezweifelt das. Mit einem Pflichtfach Wirtschaft wäre es wahrscheinlich, dass die wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten die Lehrerausbildung komplett übernehmen. Doch die Vorbereitung auf ein Leben als mündiger Konsument, Erwerbstätiger und mitgestaltender Bürger gehöre nicht zu deren vorrangigen Zielsetzung. Damit dürften fachdidaktische Prinzipien wie Anknüpfung an gesellschaftliche Realität oder kritische und verantwortliche Urteilsfähigkeit an den Rand gedrängt werden. Gegenwärtig erfolgt die Vorbereitung auf wirtschaftliche Sachverhalte in Integrationsfächern wie Arbeitslehre oder Sozialkunde häufig in speziellen, für künftige Lehrer und Nichtökonomen konzipierten Veranstaltungen. Mit einem Pflichtfach Wirtschaft würden solche Seminare, in denen grundsätzlich thematisiert wird, was junge Menschen über Wirtschaft lernen sollten, vermutlich bald überflüssig - was wenig Hoffnung auf eine baldige Außerdienststellung des Homo oeconomicus macht.

Aber so groß Übermacht und Vorsprung der schulpolitisch rührigen Wirtschaftsverbände sein mögen: Die DGB-Gewerkschaften sind alarmiert. Marianne Demmer, die stellvertretende GEW-Vorsitzende, und Edeltraud Glänzer vom Hauptvorstand der IG BCE sind sich einig, dass ökonomische Bildung an den Schulen nicht auf Unternehmensinteressen verkürzt werden darf. Ebenso kritische Wissenschaftler wie Birgit Weber und Gerd Famulla, die mit ihrer "Initiative für eine bessere ökonomische Bildung" Gegenpositionen zum Gutachten der Gewerblichen Wirtschaft formuliert haben. Und was zu tun ist, liegt auf der Hand. Einerseits gilt es, die Frage nach den Inhalten sozio-ökonomischer Schulbildung von den Fachzirkeln in die öffentliche politische Debatte zu tragen. Andererseits geht es darum, konkrete Alternativangebote zu entwickeln, die Schüler und Lehrer in die Lage versetzen sollen, über die rein betriebswirtschaftliche Perspektive hinauszudenken. Der bislang vergleichsweise geräuschlose Vormarsch arbeitgebernaher Bildungsinhalte lässt sich noch bremsen.

Die DGB-Initiative Schule und Arbeitswelt informiert auf ihrer Webseite www.schule.dgb.de über Projekte und bietet Materialien als Download.

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