Projektbeschreibung
Kontext
Seit Kurzem setzen Unternehmen algorithmische Vorhersage für das Risikomanagement in Wertschöpfungsnetzwerken ein. Auf Basis von öffentlichen Daten und Daten von Social-Media-Plattformen werden nicht nur Umweltereignisse (z. B. Überschwemmungen), sondern auch Praktiken der Mitbestimmung (wie etwa Demonstrationen oder Streiks) vorhergesagt. Mit diesem Projekt wollten wir untersuchen, wie und mit welchen Konsequenzen für die betriebliche und überbetriebliche Mitbestimmung Predictive Risk Intelligence (PRI) von Unternehmen bereits eingesetzt wird. Zudem wollten wir untersuchen, wie algorithmische Vorhersagesysteme (ähnlich zu PRI oder auch neuartig) von Arbeitnehmer:innenvertretungen genutzt werden können, um Mitbestimmung in Zeiten der Entsolidarisierung weiterzuentwickeln.
Fragestellung
Übergeordnete Forschungsfrage:
Wie beeinflussen Predictive Risk Intelligence und andere algorithmische Vorhersageverfahren die betriebliche und überbetriebliche Mitbestimmung in Wertschöpfungsnetzwerken?
Unterfragen:
a) Wie werden PRI-Technologien entwickelt? Welche Akteur:innen und Perspektiven werden in die Entwicklung einbezogen?
b) Wie setzen Unternehmen PRI-Technologien ein? Wie reagieren Gewerkschaften und Arbeitnehmer:innenvertretungen auf den (geplanten) Einsatz von PRI-Technologien?
c) Gibt es Möglichkeiten für Arbeitnehmer:innen, der Erfassung durch PRI-Technologien (zumindest teilweise) zu entgehen?
d) Welche Möglichkeiten bietet die Umfunktionierung von PRI-Verfahren („Dual Use“-Prinzip) für Mobilisierung und Interessenvertretung von Arbeitnehmer:innen?
e) Sind darüber hinaus neuartige Formen der algorithmischen Analyse von Social-Media-Daten denkbar, die Arbeitnehmer:innen in der Mobilisierung und Vertretung ihrer Interessen unterstützen können?
Untersuchungsmethoden
Wir bearbeiteten die Forschungsfragen mittels qualitativer Methoden der Organisations- und Technikforschung (insb. Dokumentanalyse, Interviews, Beobachtungen und Multi-Stakeholder-Workshops). Zum einen untersuchten wir mittels dieser Methoden, wie Anbieter von PRI diese Technologie entwickeln, wie diese Technologie von Kund:innen der Unternehmen eingesetzt wird, und wie Arbeitnehmer:innenvertretungen in diese Prozesse eingebunden sind oder anderweitig versuchen auf diese Prozesse einzuwirken. Zum anderen untersuchten wir, welche Möglichkeiten sich aus Arbeitnehmer:innenperspektive bieten, algorithmische Auswertung von Social-Media-Daten zum Zwecke der Mobilisierung und Mitbestimmung einzusetzen.
Darstellung der Ergebnisse
Zentrale Erkenntnis des Forschungsprojekts ist, dass mehrere Faktoren zusammen dazu geführt haben, dass Supply-Chain-Verantwortliche in deutschen Leitbetrieben sich überhaupt für neuartige Technologien wie algorithmische Vorhersage interessieren und die Nutzung existierender Transparenz-Tools (wie z. B. sozialer Audits) als nicht mehr ausreichend empfunden wird: Unsicherheit als Resultat neuer Transparenzvorschriften (wie etwa des LkSG), steigende Komplexität im tagtäglichen Management der Lieferketten, und eine grundlegende Gutgläubigkeit bzgl. Big-Data-Narrativen. All das hat den Markt für einen neuen Typ von Anbieter eröffnet, den wir »Merchants of Transparency« nennen. Diese reagieren auf die Marktlücke durch verschiedene Strategien, die an die Erwartungen und Bedürfnisse der Leitbetriebe anknüpfen. In einer Art Double Value Proposition wird hierbei auch der »Nebennutzen« neuer Transparenztools für den operativen Betrieb hervorgestrichen, und die Merchants versuchen gleichzeitig auch, potenzielle Kritik vorab einzuhegen und abzufangen, indem kritische Diskurse gezielt in »sichere« Themen (ab)gelenkt werden.