Projektbeschreibung
Kontext
Eine Geschichte des gewerkschaftlichen Unterstützungswesens ist bis heute nicht geschrieben worden. Sie leistet einen Beitrag zur Historisierung aktueller gewerkschaftspolitischer Herausforderungen: wie beispielsweise jener der hybriden Sozialstaaten, die in der Folge staatlicher Sparpolitik zunehmend auf interagierende, ergänzende Versorgungssysteme auch in Betrieben und Unternehmen setzen. Vor dem Hintergrund eines dort noch immer vorherrschenden paternalistischen Subtextes, in dem betriebliche Altersversorgungssysteme als Fürsorgeleistungen der Eignerseite für die Arbeitnehmer gedeutet werden, erweitert eine historische Bewusstseinsbildung über die Traditionen der sozialen Selbsthilfe und der Versicherungskompetenzen in der Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung den Blickwinkel.
Fragestellung
Das Interesse des Projektes gilt den sozialen Unterstützungsleistungen der Gewerkschaften in den Jahren zwischen 1890 und 1933. Erkenntnisleitend wird der Frage gefolgt: Kann über die Darstellung und Deutung des sozialen Unterstützungswesens durch die Gewerkschaften selbst, also durch die diesbezügliche Selbstdarstellung und Selbstdeutung oder, einfacher gesagt, durch die von den Gewerkschaften in ihren Darstellungen vorgenommenen Bedeutungszuweisungen und Sinnstiftungen gegenüber dem sozialen Kassenwesen, ein neuer Blick auf das gewerkschaftliche Selbstverständnis in der untersuchten Zeit geworfen werden, wie es sich unter dem Brennglas des friedlichen Unterstützungswesens zeigte?
Untersuchungsmethoden
Nach 1945 wurde das gewerkschaftliche Unterstützungswesen in Deutschland, abgesehen von einem Sonderweg des FDGB, zunächst erneut restauriert. Mit dem zunehmenden Ausbau des Sozialstaats jedoch begann die westdeutsche Gewerkschaftsbewegung, das soziale Unterstützungswesen abzubauen. Daher nimmt die Untersuchung die Jahre von 1890 bis 1933 als Blütezeit des gewerkschaftlichen Unterstützungswesens in den Blick. Dafür wurden gedruckte Quellen gewerkschaftlicher Vorläufer der heutigen Dienstleistungsgewerkschaft Verdi ausgewertet. Es wurde keine sozialgeschichtliche Vermessung oder Katalogisierung von Unterstützungssystemen angestrebt, sondern eine gewerkschaftliche Texte und Sprache in veröffentlichten gewerkschaftlichen Medien reflektierende Kultur- und Identitätsgeschichte der Gewerkschaften, welche eine Identifikation und historische Interpretation der gewerkschaftlichen "Erzählungen" vom sozialen Unterstützungswesen verfolgt.
Darstellung der Ergebnisse
In der Studie wird die starke organisationspolitische Bedeutungszuweisung anschaulich, die das soziale Unterstützungswesen in den untersuchten Gewerkschaften besonders bis zum Ersten Weltkrieg erfuhr. Akzentuiert sozialpolitisch gedeutet wurden vor 1914 Renten- und Krankenkassenfragen mit verbandlichen Selbsthilfeeinrichtungen in den Angestelltengewerkschaften. Mit den Krisen zwischen Weltkrieg, Inflation und Weltwirtschaftskrise nahm die soziale und sozialpolitische Deutung des Unterstützungswesens in den Gewerkschaften generell zu. Dabei erfolgte im gesamten Betrachtungszeitraum eine kontinuierlich vertiefte Eintragung des Unterstützungswesens in das kollektive Bewusstsein und Gedächtnis der Gewerkschaften. Als leitendes Narrativ fungierten dabei gewerkschaftliche Großverbandserzählungen, in denen das soziale Unterstützungswesen als Faktor der Mitgliedergewinnung und nachhaltigen -bindung eine zentrale Rolle zugewiesen bekam. In sozialen Krisenlagen wurde in jenen Erzählungen in den 1920ern die erklärte Finanzstärke etablierter Großgewerkschaften akzentuiert, die sich in der Höhe der ausgezahlten sozialen Unterstützungen materialisierte.