zurück
Pressemitteilungen

Vor 70 Jahren wurde das Tarifvertragsgesetz verabschiedet: Tarifpolitik: 5.000 neue Abkommen pro Jahr, steigende Reallöhne, innovative Vereinbarungen – aber stark gesunkene Reichweite

08.04.2019

Jedes Jahr werden in Deutschland mehr als 5.000 Tarifabkommen neu abgeschlossen, zurzeit gibt es rund 77.000 gültige Tarifverträge. Grundlage dafür ist eines der ältesten Arbeitsgesetze der Republik, das morgen 70 Jahre alt wird: Am 9. April 1949, noch vor der Gründung der Bundesrepublik, beschloss der Wirtschaftsrat des Vereinigten Wirtschaftsgebietes der britischen und amerikanischen Zone das Tarifvertragsgesetz (TVG). Seit 1990 gilt es auch in den neuen Bundesländern. In anfangs nur elf und heute in 13 Paragrafen regelt das Gesetz ein zentrales Gebiet der Arbeitsbeziehungen, nämlich die kollektive Aushandlung von Arbeits- und Einkommensbedingungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

Das WSI-Tarifarchiv der Hans-Böckler-Stiftung skizziert in einer aktuellen Auswertung die großen Trends der Tarifpolitik in den vergangenen 70 Jahren. Außerdem dokumentieren die Tarifexperten, wie sich die tariflichen Regelungen und Leistungen – etwa beim Lohn, Arbeitszeit und Urlaubsanspruch – in 13 ausgewählten Branchen und Tarifbereichen seit 1949 entwickelt haben. Die Auswertung zeigt auch: In den vergangenen Jahren sind die Tarifvergütungen im Schnitt spürbar gestiegen, und innovative tarifliche Regeln unterstützen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beispielsweise dabei, Erwerbsjob und Familie besser unter einen Hut zu bekommen.

  • In Lohn-, Gehalts- und Entgeltabkommen werden die Tarifvergütungen und ihre Steigerungen festgelegt. In den vergangenen zehn Jahren sind die Tarifvergütungen preisbereinigt um gut 14 Prozent gestiegen. Entgelte in einigen sozialen Berufen wurden besonders angehoben.
  • In den Manteltarifverträgen werden die allgemeinen Arbeitsbedingungen geregelt wie Arbeitszeit Urlaub, Urlaubsgeld, Jahressonderzahlung, Altersversorgung, Kündigungsschutz u.a.m. In jüngster Zeit spielten vor allem kürzere und flexiblere Arbeitszeiten und Wahloptionen zwischen Geld und Zeit in vielen Tarifabschlüssen eine wichtige Rolle.
  • In speziellen Tarifverträgen werden Fragen der Arbeits- und Leistungsgestaltung geregelt, etwa zur Digitalisierung, Personalbemessung, Arbeitsbelastung und Qualifizierung. Ein aktuelles Beispiel sind Entlastungstarifverträge für das Pflegepersonal in Krankenhäusern. „Verbesserte Arbeitsbedingungen wirken hier auch als wichtiger Beitrag gegen den Fachkräftemangel“, sagt Dr. Reinhard Bispinck, der Autor der Analyse.

Trotz dieser positiven Ergebnisse ist der Zustand des Tarifvertragssystems nach der WSI-Untersuchung aber nicht zufriedenstellend. Das liegt vor allem daran, dass die Reichweite der Tarifverträge seit mehr als zwei Jahrzehnten nahezu kontinuierlich zurückgeht. Mittlerweile sind nur noch rund 55 Prozent der Beschäftigten und 27 Prozent der Betriebe tarifgebunden. Insbesondere in kleineren Betrieben, in verschiedenen Dienstleistungsbereichen und in den ostdeutschen Bundesländern liegt die Tarifbindung erheblich unter dem Durchschnitt. Viele Unternehmen sind in den vergangenen Jahren aus der tariflichen Bindung ausgestiegen und sind allenfalls noch Mitglieder in sogenannten OT-Verbänden (Arbeitgeberverbänden ohne Tarifbindung). „Die rückläufige Tarifbindung untergräbt die bestehenden Tarifstandards und fördert niedrig bezahlte und prekäre Beschäftigung“, warnt Prof. Dr. Thorsten Schulten, der das WSI-Tarifarchiv leitet.

Die zentrale Frage laute daher, wie der Trend gebrochen und dem Tarifvertragssystem zu neuer Stärke verholfen werden kann, so Schulten. Dazu seien verschiedene Ansatzpunkte geeignet und erforderlich: Einerseits seien die Tarifvertragsparteien gefordert, ihre Bindungskraft zu erhöhen. „Die Arbeitgeberstrategie zum Aufbau von OT-Verbänden hat sich als fataler Irrweg erwiesen, der die Erosion des Tarifsystems verstärkt hat. Tarifbindung muss hier Vorrang haben.“ Flankierend sei auch der Gesetzgeber gefordert, so Schulten. „Tarifsenkungs- und Vermeidungsstrategien müssen begrenzt werden, etwa durch die Nachwirkung von Tarifverträgen bei Outsourcing.“ Zudem sollte die Geltungswirkung durch erleichterte Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen unterstützt und das Vetorecht der Arbeitgeber im Tarifausschuss abgeschafft werden. Schließlich könnte das Vergaberecht bei öffentlichen Aufträgen auf die konsequente Förderung von Tarifbindung ausgerichtet werden.

Weitere Informationen:

Reinhard Bispinck/WSI-Tarifarchiv:  70 Jahre Tarifvertragsgesetz – Stationen der Tarifpolitik von 1949 bis 2019, Elemente qualitativer Tarifpolitik Nr. 85 (pdf), Düsseldorf, April 2019. 

Kontakt:

Prof. Dr. Thorsten Schulten
Leiter WSI-Tarifarchiv

Rainer Jung
Leiter Pressestelle

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrem Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen