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Maria Weber Grant 2022_Anna Wehofsits Stipendien

Preisträger*innen 2022: Anna Wehofsits: Auf dem Weg zu einer neuen Ethik der Selbsttäuschung

„Als Gegenstand der praktischen Philosophie ist Selbsttäuschung ein schillerndes, ambivalentes Phänomen.“

Menschen sind ziemlich gut darin, sich etwas vorzumachen. Seit Jahren können wir dem Klimawandel zusehen, ohne unser Verhalten zu ändern, und uns trotzdem für Umweltschützer halten. Wir können uns in der Corona-Pandemie zum „Team Vorsicht“ zählen und dann doch bereitwillig Ausnahmen machen für Freunde und Verwandte. „Auch wenn Selbsttäuschung ein alltägliches Phänomen ist, finde ich erstaunlich, dass Menschen die Fähigkeit dazu haben“, sagt Anna Wehofsits. „Dass sie aus einem Motiv heraus – etwa dem Wunsch nach Selbstachtung oder der Angst vor Kontrollverlust – verzerrte Einstellungen ausbilden können.“

Aber ist das eigentlich immer negativ zu bewerten? Nein, findet die Philosophin. „Als Gegenstand der praktischen Philosophie ist Selbsttäuschung ein schillerndes, ambivalentes Phänomen.“ In ihrem Habilitationsprojekt leuchtet Wehofsits, Akademische Rätin auf Zeit an der Ludwig-Maximilians-Universität München, diese Ambivalenz aus: „Ich untersuche einerseits, welche Rolle Selbsttäuschung als psychologische Ermöglichungsbedingung von Unrecht spielt, und andererseits, unter welchen Bedingungen sie Prozesse der Persönlichkeitsentwicklung unterstützen kann.“

Geboren 1981 in Freiburg, hat die Mutter eines heute dreijährigen Sohnes an der FU Berlin, in Cambridge und Yale studiert. Ihre Doktorarbeit wurde 2016 von der Immanuel-Kant-Stiftung und der Kant-Gesellschaft als innovativer Beitrag zur Kant-Forschung ausgezeichnet. Doch Wehofsits hat immer auch über den Tellerrand hinausgeblickt: Parallel zu ihrer akademischen Laufbahn arbeitete sie für eine NGO, die sich für einen gerechten Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten einsetzt, sowie für einen Think Tank zu ethischen Fragen der Digitalisierung. Und zu Beginn ihres Studiums absolvierte sie „eine Art privates Studium Generale“, wie sie sagt, und besuchte Veranstaltungen auch in Physik, Kunstgeschichte und Psychologie. „Das war großartig.“

Diese Offenheit zeigt sich nun auch in ihrer Forschung. Wenn sie über die oft als Rationalität getarnte Irrationalität der Selbsttäuschung nachdenkt, stellt Wehofsits nicht nur klassische moralphilosophische Fragen, analysiert nicht nur, wie eine durch Selbsttäuschung eingeschränkte Urteils- und Handlungsfähigkeit soziale Ausgrenzung begünstigen oder zur Verbreitung von Verschwörungserzählungen beitragen kann. Die Philosophin wertet auch psychologische Studien aus, die zu einem freundlicheren Urteil kommen. „Eine gut dosierte Überschätzung der eigenen Fähigkeiten und Zukunftsaussichten kann zu seelischer Stabilität beitragen, also Schutz bieten und unsere Fähigkeiten mobilisieren“, erklärt sie. „Eine hohe Selbstachtung geht oft mit einer verzerrten Wahrnehmung der Wirklichkeit einher, während umgekehrt eine Korrelation von Depression und akkurater Selbsteinschätzung besteht.“ Diese beiden Blickwinkel, den philosophisch-ethischen und den empirisch-psychologischen, möchte Wehofsits zusammenbringen. „Diese Spannung ist es, die mich als Philosophin interessiert.“

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