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Magazin Mitbestimmung

: Zum Mitgestalten gibt es keine Alternative

Ausgabe 11/2004

Die Ingenieurausbildung in Deutschland gilt als veraltet. Damit die neuen Bachelor- und Masterstudiengänge keine Mogelpackung werden, arbeiten die Gewerkschaften bei der Akkreditierung mit. Über ein Gutachternetzwerk werben ver.di, IG Metall und IG BCE für  mehr Berufsnähe und mehr soziale Verantwortung in der Ausbildung.

Von Bernd Kaßebaum und Irmgard Kucharzewski
Dr. Kaßebaum ist in der Vorstandsverwaltung der IG Metall zuständig für gewerkschaftliche Bildungsarbeit/Bildungspolitik, Dr. Kucharzewski ist in der Abteilung Studienförderung der Hans-Böckler-Stiftung zuständig für die technischen Studienfelder.

Die Ingenieurausbildung in Deutschland gilt als veraltet. Damit die neuen Bachelor- und Masterstudiengänge keine Mogelpackung werden, arbeiten die Gewerkschaften bei der Akkreditierung mit. Über ein Gutachternetzwerk werben ver.di, IG Metall und IG BCE für mehr Berufsnähe und mehr soziale Verantwortung in der Ausbildung.

Ingenieurwissenschaften - junge Leute müssten bei diesem Wort eigentlich an spannende Jobs oder an innovative Produkte denken: in der Luft- und Raumfahrttechnik, in der Werkstoffkunde oder in der Computerindustrie. Aber das Gegenteil ist der Fall: Der Studiengang gilt als wenig attraktiv. Bis heute wird die klassische Ingenieurausbildung durch das mathematisch-naturwissenschaftlich ausgerichtete Grundstudium geprägt. Viele Studierende werden durch diese Durstrecke, die Wolfgang Neef, Leiter der Zentraleinrichtung Kooperation (ZEK) an der TU Berlin und selbst Ingenieur, als "Elend des Grundstudiums" bezeichnet, verschreckt. Selbst für das kürzere, sechs- oder achtsemestrige Bachelorstudium wollen die neun führenden Technischen Universitäten in ihren Studiengängen der Elektrotechnik an dieser Struktur festhalten.

Gleichzeitig hat sich das Studium vielerorts weit von den Berufsanforderungen entfernt. Die neuen Entwicklungen der Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft, neue Arbeitsformen wie Teamarbeit und Anforderungen, die auch soziales, organisatorisches und betriebswirtschaftliches Wissen verlangen, spielen in der Ausbildung oft keine Rolle. Fast jeder zweite Studierende bricht das Studium in den Ingenieur- und Naturwissenschaften ab - so mancher verlässt die Hochschule, bevor er das Vordiplom erreicht hat. Diejenigen, die es schaffen, im System zu bleiben, müssen viel Zeit und Kraft für das Studium mitbringen. Der durchschnittliche Studienaufwand in naturwissenschaftlichen und ingenieurwissenschaftlichen Fächern beträgt 44 Wochenstunden - in den Sozialwissenschaften sind es nur 30.

Die Folgen: Seit den 90er Jahren sinkt in Deutschland die Zahl der Ingenieure ebenso wie die Zahl der Studierenden in den Ingenieurwissenschaften. Für die Industrie ist das ein bedrohlicher Trend. Bleibt das Ingenieurstudium so unattraktiv wie heute, hat das erhebliche Folgen für die Wirtschaft - besonders ab dem Jahr 2010, wenn die geburtenschwachen Jahrgänge in das studierfähige Alter kommen. Wenn nichts geschieht, dann spricht vieles dafür, dass begabte junge Frauen und Männer sich noch mehr als heute überlegen, ob sie sich in die Mühle dieser "verstaubten" Studiengänge begeben. Dabei werden - das belegen diverse Studien - Ingenieure auch in Zukunft dringend gebraucht.

Eine Beteiligung der Gewerkschaften ist möglich

Seit der Novellierung des Hochschulrahmengesetzes im Jahr 1998 können deutsche Hochschulen die international bekannten und anerkannten Hochschulgrade Bachelor und Master einführen. Der so genannte Bologna-Prozess erfordert die Umstellung auf dieses System bis zum Jahr 2010. Durch die neuen Studiengänge kommt Bewegung in die Ingenieurausbildung - es besteht die Chance, nicht nur die Abschlüsse selbst, sondern auch die Lehrinhalte zu reformieren und die Studiengänge näher an die Praxis heranzuführen. Allein im Wintersemester 2004/2005 sind in Deutschland (mit insgesamt zirka 11000 Studiengängen) 1253 Bachelor- und 1308 Masterstudiengänge neu eingeführt worden (Stand Juni 2004). Bei den akkreditierten Studiengängen bilden die Ingenieurwissenschaften die zweitgrößte Gruppe. Die Bachelor- und Masterstudiengänge erreichen heute 3,5 Prozent der Studierenden. Nur ist erst der geringste Teil dieser neuen Studiengänge bisher auch akkreditiert.

Um die neuen Studiengänge national und international vergleichbar zu machen, müssen die Hochschulen jeden neuen Studiengang durch eine von derzeit sechs Akkreditierungsagenturen begutachten lassen, die jeweils in der Rechtsform eines gemeinnützigen Vereins organisiert sind. Über die Agenturen wiederum wacht der "Akkreditierungsrat", ein von der Kultusministerkonferenz eigens eingerichtetes Kontrollgremium mit Sitz in Bonn. An den Zulassungsverfahren für die neuen Studiengänge werden auch Vertreter der Wirtschaft und der beruflichen Praxis beteiligt. In den Gremien der Agenturen sitzen auch Vertreter der Gewerkschaften und der Arbeitgeber sowie der Studierenden.

Über diese Mitwirkungsmöglichkeiten und die angestrebte Berufsorientierung bieten sich Chancen, neue Impulse in die Diskussion zu bringen. Know-how gibt es dafür genug. Bereits Mitte der 70er Jahre setzten sich die Gewerkschaften mit Inhalt und Methode des Ingenieurstudiums auseinander, sie entwickelten eigene Konzepte zur "innovativen Ingenieurausbildung", die in der heutigen Debatte um die Einführung von Bachelor- und Masterabschlüssen wieder aufgegriffen werden. Ziel ist es, Einfluss auf die Ingenieurausbildung zu nehmen, sie an der Berufspraxis zu orientieren und dafür zu sorgen, dass auch soziale und ökologische Belange berücksichtigt werden.

Ambivalente Erfahrungen mit den Agenturen

Die Erfahrungen mit den Agenturen sind höchst ambivalent. Dem Ruf nach mehr Praxisvertretern in den Verfahren steht die bis heute geringe Zahl der Einsätze gegenüber. Die Stellung der Fakultäten scheint übermächtig - Hochschuldidaktik oder die Vorstellungen der Sozialpartner spielen bei der Formulierung der Qualitätskriterien für die Studiengänge oder in den Verfahren eine marginale Rolle. Gerade die Entwicklung bei der Akkreditierungsagentur für Studiengänge der Ingenieurwissenschaften, der Informatik, der Naturwissenschaften und der Mathematik (ASIIN), die bei den Ingenieur- und Naturwissenschaften eine dominante Stellung innehat, gibt einigen Anlass zur Kritik.

Es ist zu befürchten, dass die überkommenen Studieninhalte und
-formen beibehalten werden, die dicht gepackten Stoffkataloge der alten Rahmenrichtlinien weiter Bestand haben sowie Praxiserfahrung und Projektstudium marginalisiert werden. Ebenso ungeklärt sind der Umgang mit neuen Lehr- und Lernformen, die Höhe des so genannten Workload sowie die Rolle der Prüfungen. Da viele Studierende neben dem Studium arbeiten müssen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, ist auch die Frage der zeitlichen Belastung durch das Studium kritisch zu sehen.

Erst wenige Hochschulen haben die Einführung der neuen Studiengänge als inhaltlich-didaktische Reformchance ergriffen. Noch ist völlig offen, welcher Stellenwert der Praxis in den verkürzten Studiengängen wirklich eingeräumt wird. An Universitäten überragt das sechssemestrige Bachelorstudium alle anderen denkbaren Studiengänge. 88 Prozent der akkreditierten Studiengänge an FH und Uni haben nur noch sechs Semester. Diese kurzen Studienzeiten könnten sich zu Lasten der Berufspraxis auswirken. Wenn die Studienorganisation so bleibt, wie sie überwiegend ist - wo lässt sich in diesen kurzen Studiengängen dann noch das Praxissemester unterbringen? Zentrale Fragen bleiben ungelöst, wie die Frage der Vereinbarkeit von Studium und Job, das Verhältnis zum berufsbegleitenden Studieren und der Stellenwert des dualen Studiums.

Mit dem Ziel, die Beteiligung von Arbeitnehmern und Studierenden in den Akkreditierungsverfahren der technischen Studiengänge zu erhöhen und die Qualität der Studiengänge zugunsten der Studierenden zu verbessern, haben die Gewerkschaften IG BCE, IG Metall und ver.di, die Kooperationsstelle der TU Berlin sowie die Hans-Böckler-Stiftung im Jahr 2003 ein Gutachternetzwerk zur Akkreditierung von Studiengängen in der Ingenieur- und Informatikerausbildung sowie den Naturwissenschaften gegründet. Im Kern des Netzwerkes steht eine Gutachterliste von ehrenamtlich tätigen Ingenieuren und Naturwissenschaftlern - außerdem arbeiten Studierende, Stipendiaten, Hochschullehrer und Vertrauensdozenten der Hans-Böckler-Stiftung mit. Sowohl die Arbeitnehmerinteressen als auch die studentischen Belange sollen so gestützt werden.

Das Gutachternetzwerk steht im Dialog mit den Akkreditierungsagenturen, um gewerkschaftliche Gutachter als Vertreter der Berufspraxis in die Verfahren zu bringen. Erste Rückmeldungen von ASIIN zeigen, dass dieser Weg mühsam ist, aber auch erste Erfolge hat. Darüber hinaus versteht sich das Netzwerk als Plattform für den inhaltlichen Diskurs gewerkschaftlicher Beratung sowohl in strukturellen als auch in inhaltlichen Fragen. Eine Öffnung des Netzwerkes hin zu anderen Akkreditierungsagenturen ist geplant.

Die Arbeitsmarktchancen sind ungewiss

Die Zahl der Hochschulabsolventen in den neuen Bachelor- und Masterstudiengängen ist bisher marginal. Sie liegt bei nur 1,7 Prozent. Wie der Arbeitsmarkt die neuen Studiengänge aufnimmt, ist bisher offen. In Zukunft sollen die Mitglieder des Gutachternetzwerkes Betriebs- und Personalräte kompetent beraten und ihnen erklären, welche Kompetenzen die neuen Bachelor- und Masterabsolventen mit zum Berufsstart bringen. Die IG Metall hat im Zuge der Entgeltrahmenabkommen (ERA) bereits im Tarifgebiet Niedersachsen die neuen Abschlüsse in den Tarifvertrag aufgenommen. Dieser Weg muss unbedingt fortgesetzt werden, da er eine wichtige Chance beinhaltet, die neuen Abschlüsse über den Umweg der Eingruppierung aufzuwerten und damit auch in ein vernünftiges Verhältnis zur dualen Ausbildung und zur Weiterbildung zu bringen.

http://www.gutachternetzwerk.de/
Auf der Website finden sich allgemein zugängliche Informationen zur Arbeit des Netzwerkes, Kontaktdaten sowie ein exklusiver Bereich für registrierte User.

Ansprechpartner in den Gewerkschaften

Interessierte Kollegen und Kolleginnen sind ausdrücklich zur Mitarbeit im Gutachternetzwerk aufgerufen.

IG Metall
Bernd Kaßebaum
069/66932414
bernd.kassebaum@igmetall.de

IG BCE
Martin Weiss
Tel. 0511/7631667
martin.weiss@igbce.de

ver.di
Wolfgang Seitz
Tel. 030/69562471
wolfgang.seitz@ver.di
Karl-Heinrich Steinheimer
Tel. 030/69562007
karl-heinrich.steinheimer@verdi.de

Hans-Böckler-Stiftung
Irmgard Kucharzewski
Tel. 0211/7778-135
Irmgard-Kucharzewski@boeckler.de

Zentraleinrichtung Kooperation der
TU Berlin
Wolfgang Neef
Tel. 030/31423530
neef@zek.tu-berlin.de


Zugelassene Agenturen

Agentur für Qualitätssicherung durch Akkreditierung von Studiengängen (AQAS)
Akkreditierungsagentur für Studiengänge der Ingenieurwissenschaften, der Informatik, der Naturwissenschaften und der Mathematik (ASIIN)
Akkreditierungsagentur für Studiengänge im Bereich Heilpädagogik, Pflege, Gesundheit und Soziale Arbeit e.V. (AHPGS)
Akkreditierungs-, Certifizierungs- und Qualitätssicherungs-Institut (ACQUIN)
Foundation for International Business Administration Accreditation (FIBAA)
Zentrale Evaluations- und Akkreditierungsagentur Hannover (ZEvA)


Zum Weiterlesen

Karl-Heinz Minks: Wo ist der Ingenieurnachwuchs? In: HIS-Kurzinformation A 5/2004, Hans-Böckler-Stiftung u.a. (Hg.): Neue Studiengänge mitgestalten: Düsseldorf o. J.
ASIIN (Hg.): Anforderungen und Verfahrensgrundsätze für die Akkreditierung von Bachelor- und Masterstudiengängen in den Ingenieurwissenschaften, der Informatik, den Naturwissenschaften und der Mathematik

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