zurück
Magazin Mitbestimmung

: Zu viele Leerstellen

Ausgabe 01+02/2006

Das Angebot an betrieblicher Ausbildung geht zurück; 300 000 Jugendliche ohne Lehrstelle sind auch dieses Jahr auf Alternativen angewiesen. Höchste Zeit, den Lernort Schule vom Stigma der Notmaßnahme zu befreien, meint die GEW.


Von Helga Ballauf
Die Autorin arbeitet als freie Journalistin in München.


5. Dezember 2005. Im Mercedes-Werk Sindelfingen protestieren die Beschäftigten auf einer Betriebsversammlung gegen Lehrstellenabbau. Seit im August bekannt wurde, dass Daimler-Chrysler die hoch qualifizierte Ausbildung um ein Fünftel reduzieren will, rumort es im Konzern: Betriebsräte, Jugendvertretungen und ganze Belegschaften begehren auf, Auszubildende gehen auf die Straße. Zwischenzeitlich rudert der Noch-Chef Jürgen Schrempp zurück und will von der Kürzungsabsicht nichts gewusst haben.

Doch sein Nachfolger als Konzernlenker, Dieter Zetsche, bleibt dabei: Ausbildung muss wirtschaftlicher werden. Überlegt wird, einen Teil der drei- bis dreieinhalb Jahre dauernden Facharbeiterqualifizierung durch die nur zweijährige Ausbildung zum Maschinen- und Anlagenführer zu ersetzen. Für die Arbeit am Montageband reiche dies völlig aus, heißt es. Gesamtbetriebsratsvorsitzender Erich Klemm verspricht: Mit uns geht das nicht! Und Klemm setzt sich durch - vorerst.

Doch welche Zukunft hat das System dualer Berufsausbildung in Deutschland? In vielen Unternehmen fällt eine strategische Personalplanung meist kurzfristigen Kalkulationen zum Opfer. Keine Fachabteilung stellt Azubis über Bedarf ein, wenn ihr unternehmensintern die Ausbildungskosten in Rechnung gestellt werden. Dafür steigen die Erwartungen: Die Auszubildenden sollen schnell über passgenaue Kompetenzen verfügen.

Das schlägt sich auch im Ausbildungspakt nieder, den die rot-grüne Regierung Mitte 2004 mit der Wirtschaft geschlossen hat. Unternehmen, die jungen Leuten mit Fachhochschulreife oder Abitur ein duales Studium anbieten - etwa in Berufsakademie und Betrieb - lassen sich diese Plätze als Pluspunkte anrechnen, auch wenn dafür traditionelle Lehrstellen wegfallen. Seitdem haben Haupt- und Realschulabsolventen das Nachsehen. Wie etwa bei IBM: Die Fachabteilungen fordern eben von uns die Besten der Besten, begründet IBM-Ausbildungsleiter Torsten Kronshage die neue Linie.

Höflich und pünktlich = ausbildungsreif

Wie aber ist es jenseits der Spitzenkräfte unter den Azubis um die Ausbildungsreife bestellt? Schlecht, sagt die Handwerkskammer für München und Oberbayern und führt eine Zahl ins Feld: 79 Prozent der von den Betrieben ausgewählten Bewerber ließen es an Lern- und Leistungsbereitschaft, an Motivation und Zielstrebigkeit fehlen.

Das wollte das Bundesinstitut für Berufsbildung genauer wissen. Und so befragte das BIBB 482 Ausbildungsexperten aus Betrieben, Schulen, Kammern, Verbänden, Gewerkschaften und Verwaltungen. Fazit: "Ausbildungsreife" hat mit allgemeinen Arbeits-, Leistungs- und Sozialtugenden zu tun und weniger mit Schulwissen. Tatsächlich sei die Leistungsfähigkeit der Lehrstellenbewerber in den letzten 15 Jahren gesunken, die Komplexität der Arbeitswelt und die Ansprüche der Betriebe dagegen gestiegen, sagen die Experten. Sie sehen vor allem die Familien in der Pflicht, empfehlen aber auch den Unternehmen, mehr auf die Entwicklungspotenziale der Jugendlichen zu schauen.

Über die Lage am Ausbildungsmarkt kursieren recht unterschiedliche Zahlen, zu unscharf sind die Kategorien "vermittelt" oder "unversorgt". Die aktuellen Daten: Im Jahr 2005 haben die Betriebe 550180 Ausbildungsverträge neu abgeschlossen, ein Rückgang um vier Prozent. Außerdem wurden 281700 junge Leute gezählt, die in einer Ersatzmaßnahme - wie Berufsvorbereitung oder Praktikum - landeten. Das meldet die BIBB-Statistik - Stand 13. Dezember 2005.

Nicht nur diese "Warteschleifen" in der Berufsvorbereitung werden aus öffentlichen Mitteln finanziert. Bund, Länder und Bundesagentur für Arbeit wenden immer mehr Finanzmittel auf für schulische Berufsbildungsgänge sowie für "außerbetriebliche Ausbildung", die nur so heißt, die jedoch im Betrieb mit Lehrvertrag realisiert wird.

Längst also stopft der Staat Löcher, weil die Wirtschaft zu wenig in Ausbildung investiert. Immer neue Provisorien entstehen, aber kein tragfähiges Fundament. Und die Letzten beißen die Hunde. So ist es zwar ein erklärtes Ziel der "Einstiegsqualifizierung Jugendlicher" (EQJ) - beschlossen beim Ausbildungspakt finanziert vom Bund -, leistungsschwachen Bewerbern über ein bezahltes Praktikum in Betrieben zu helfen, ihre Ausbildungs- und Vermittlungsfähigkeit zu erhöhen. Doch eine erste Bilanz macht deutlich: Hier wie dort hat ein Großteil der Praktikanten mindestens mittlere Reife; Jugendliche ohne Schulabschluss haben auch beim EQJ kaum eine Chance.

Sozialpädagogische Begleitung ist nicht vorgesehen und die Kooperation mit den Berufsschulen ungeklärt. Anders als versprochen werden erworbene Teilqualifikationen fast nie auf eine sich anschließende Lehre angerechnet. "Ein echter Konstruktionsfehler", urteilt Gertrud Kühnlein (sfs), "so haben die EQJ-Praktika selbst den Charakter einer Warteschleife."

Die chemische Industrie geht einen eigenen Weg. "Wir haben tarifpolitische Antworten gefunden, um Schwächeren den Einstieg in eine betriebliche Ausbildung zu erleichtern", sagt Gottlieb Förster, Tarifexperte der IG BCE. Vereinbart haben Gewerkschaft und Arbeitgeberverband, die Zahl der Ausbildungsplätze bis 2007 um sieben Prozent zu erhöhen - das entspricht der Steigerungsquote bei den Schulabgängern.

Außerdem legten die Sozialpartner fest, allen Jugendlichen - von den besonders leistungsfähigen bis zu den benachteiligten - ein Angebot zu machen. Konkretes Ergebnis: 537 Azubis starten 2005 ein duales Studium, während 554 Jugendliche ein Förderprogramm zur Berufsvorbereitung machen - von 8179 insgesamt. Beachtlich, und doch nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Jugendliche bei ihren Fähigkeiten packen

Die Fixierung auf das duale System wird zur Fessel, kritisieren Berufsbildungsexperten wie Prof. Dieter Euler. Der Wirtschaftspädagoge an der Universität St. Gallen hat das deutsche Bund-Länder-Projekt zur "Kooperation der Lernorte in der beruflichen Bildung" geleitet. Er fordert, gleichwertige Ausbildungsformen neben dem dualen System zu etablieren: "Der Bund sollte solche pluralen Angebote nicht nur akzeptieren, sondern offensiv gestalten und dafür sorgen, dass sich die Sozialpartner darauf einlassen."

Gerade die schulmüden Jugendlichen, die über kleine Erfolge im betrieblichen Alltag zu motivieren wären, gehen bei den Lehrstellen meist leer aus. Kann ausgerechnet für sie die schulische Berufsausbildung eine echte Alternative sein? Durchaus, sagt Hochschullehrer Euler, wenn die Berufspädagogen aus Schule und Betrieb ihre Erfahrungen zu intelligenten Konzepten bündeln: "Bisher steht der Lernort Schule für Simulation, der Lernort Betrieb für Ernsthaftigkeit.

Schule muss sich ändern, muss praxisbezogen sein und Jugendliche dort packen, wo sie etwas können und etwas leisten wollen. Möglich ist das, wie etwa Produktionsschulen zeigen." Das sind Ausbildungsgänge, in denen die Jugendlichen echte Aufträge akquirieren und bearbeiten: Künftige Kaufleute übernehmen externe Buchführungsdienste, angehende Köche zaubern kalte Buffets auf Bestellung.

 Tatsächlich öffnet das novellierte Berufsbildungsgesetz die Möglichkeit, über schulische und andere Ausbildungsgänge zu einem anerkannten Berufsabschluss zu gelangen. Details sind Ländersache. Im Ruhrgebiet (siehe Interview rechts) oder im Land Berlin gibt es bereits Erfahrungen. In der Hauptstadt machen gut 2000 Jugendliche eine Vollzeitausbildung an Berufsfachschulen, die mit einer Kammerprüfung abschließt: in Bautechnik, Bürokommunikation oder Modeschneiderei. Die Berufsbildungs-Expertin der GEW Berlin, Rosemarie Pomian, sieht das positiv.

Sie berichtet von Schulen, die mit Bildungsträgern und Betrieben kooperieren, und dass sich Lehrkräfte viel einfallen lassen, um Unterricht praxisorientiert zu gestalten. "Das Allerbeste wäre natürlich eine gute duale Ausbildung", sagt Pomian. "Aber wenn es keine Plätze gibt?" Deshalb wirbt die GEW dafür, die schulische Berufsausbildung vom "Stigma der Notmaßnahme" zu befreien und wie betriebliche Qualifizierung oder Ausbildungsverbünde anzuerkennen. Höchste Zeit für den großen Wurf.
 
 
 
 
BIBB-Expertenmonitor
Bettina Ehrenthal, Verena Eberhard, Joachim Gerd Ulrich: Ausbildungsreife - auch unter Fachleuten ein heißes Eisen. Ergebnisse des BIBB-Expertenmonitors, Befragung 10/2005. www.bibb.de/de/21840.htm


Einstiegsqualifizierung
Eine erste Bilanz der Einstiegsqualifizierung Jugendlicher (EQJ) haben die Stadt München und für das Westfälische Ruhrgebiet die sfs-Forschungsstelle Dortmund im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung gezogen. Weitere Infos: robert.hanslmaier@muenchen.de und kuehnlein@sfs-dortmund.de

 


 

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrerm Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen