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Magazin Mitbestimmung

: Zehn Jahre Europa

Ausgabe 05/2006

Heute ist der Eurobetriebsrat beim belgischen Chemiekonzern Solvay ein etabliertes Gremium. Am Anfang stand ein Experiment mit ungewissem Ausgang. Ein Erfahrungsbericht



Von Wolfgang Thelen
Der Autor ist Mitglied der IG BCE und war von 1995 bis zum Beginn der Altersteilzeit 2004 Mitglied und stellvertretender Vorsitzender des Eurobetriebsrates bei der Solvay S.A.. Zurzeit ist er ehrenamtlicher Richter im 2. Senat des BAG.


Im Jahr 1994 kam es an der Spitze des Solvay-Konzerns zu einer Diskussion darüber, ob ein Eurobetriebsrat (EBR) gegründet werden sollte oder nicht. Ein Teil der Führungskräfte lehnte das Vorhaben als zusätzlichen und damit überflüssigen Konfliktbereich ab - trotzdem war die Initiative, einen EBR zu gründen, vom Management ausgegangen. Im Jahr zuvor war ich Gesamtbetriebsratsvorsitzender der deutschen Solvay-Gruppe geworden und hatte im Aufsichtsrat erlebt, wie die belgische Führungsspitze ihre ursprünglichen Vorbehalte gegen die deutsche Mitbestimmung abgebaut hatte.

Die Belgier waren aus ihrer Heimat konfliktträchtigere Arbeitsbeziehungen gewohnt - dort konnte es vorkommen, dass aus relativ nichtigem Anlass die Eingänge der Konzernzentrale blockiert wurden. Entsprechend waren ihre Erwartungen für Deutschland. Sie waren dann angenehm überrascht, wie konstruktiv sich die Zusammenarbeit mit den Betriebsräten und den Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat gestaltete.

So mögen die deutschen Erfahrungen einen Teil des Managements bewogen haben, die Gründung eines EBR zu unterstützen. Uns war das nur recht. Zwar lief es in Deutschland ganz gut, dennoch hatten wir oft das Gefühl, dass sich das lokale Management hinter der Brüsseler Zentrale versteckte und wir nicht mit der Entscheidungsebene verhandelten. Von einem Eurobetriebsrat versprachen wir uns eine bessere Koordination und länderübergreifende Lösungen.

Neun Länder müssen unter einen Hut

An der Gründung des EBR waren Unternehmen aus neun Ländern mit rund 35 000 Beschäftigten beteiligt. Die Führung der Verhandlungen und Klärung der strittigen Punkte - die Zahl der Sitzungen und der Zugang internationaler Organisationen zum Unternehmen - übernahm die Europäische Föderation der Bergbau-, Chemie- und Energiegewerkschaften (EMCEF). Die Besetzung erfolgte anteilig nach der Zahl der Mitarbeiter, wobei rechnerisch jeweils 1500 Beschäftigte ein Mandat ergaben.

Mit je fünf Delegierten waren Frankreich und Deutschland im Gremium am stärksten vertreten. Es folgten Belgien mit drei, die Niederlande, Spanien und Italien mit je zwei, Großbritannien, Portugal, Österreich mit je einem Delegierten, wobei es den nationalen Gewerkschaften überlassen blieb, nach ihren eignen Regeln Personen zu wählen oder zu entsenden. Später, im Jahr 1997, kam noch ein Bulgare als Gastdelegierter dazu. Geplant war ein Treffen pro Jahr.

Ein dreiköpfiges, von den EBR-Mitgliedern gewähltes Sekretariat, dem ich ab 1998 angehörte, übernahm die Leitung der internen Sitzungen und die Geschäftsführung des EBR. Auch die andere Seite organisierte sich. Da der Unternehmenspräsident als Vorsitzender des EBR nur seine Aufgabe als Sitzungsleiter wahrnehmen konnte, was üblich ist, entschied sich die Konzernleitung noch im Gründungsjahr 1995, ihm den französischen Personalchef als Koordinator zur Seite zu stellen. Das sollte sich als ein Glückgriff erweisen, denn er war nicht nur in der französischen Gesellschaft hervorragend vernetzt. Gemeinsam mit uns gelang es ihm, noch vorhandene Vorbehalte beim Management abzubauen und eine Aufbruchsstimmung in Richtung Europa zu verbreiten.

Schon ein Jahr nach der Gründung des EBR wurde wegen einer bedeutenden Restrukturierung im Konzern eine außerordentliche EBR-Sitzung einberufen - auf Initiative des Managements. Der Sinn solcher Vollversammlungen stieß allerdings schnell an Grenzen. Das lag auch an der Zusammensetzung des EBR. Während die deutschen Delegierten vom GBR so ausgewählt worden waren, dass möglichst alle Produktbereiche und wichtigen Standorte vertreten waren, gestalteten sich die Verhältnisse in Frankreich, wo fünf Gewerkschaften um die fünf Mandate konkurrierten, weit komplizierter.

Im Ergebnis kamen alle französischen Delegierten von einem einzigen Standort, Tavaux, während große Teile des Konzerns - wie die Autozulieferer oder der Pharmabereich - überhaupt nicht vertreten waren. Als es nun gerade dort zu Ausgliederungen und Umstrukturierungen kam, war fraglich, wer die Beschäftigten eigentlich sachkundig vertreten konnte. Deshalb wurden zu den Sitzungen zusätzlich Arbeitnehmervertreter der betroffenen Standorte eingeladen - wir nannten das das "erweiterte Sekretariat". Die Diskussionen wurden auf einem hohen Niveau geführt - sämtliche Ladungen, Protokolle und Ergebnisse stellten wir ins konzerneigene Intranet.

Zusammenprall der Kulturen

Die erste Sitzung des EBR fand in einem Tagungshotel in Brüssel statt, das technisch für Simultanübersetzungen ausgerüstet war. Doch schon bald merkten wir, dass die Simultanübersetzung in der ersten Zeit zahlreiche Missverständnisse produzierte, sei es, dass die Übersetzer das Wort "Betriebsratsvorsitzender" schlicht mit "Vorsitzender des Comité d'Entreprise" übersetzten, und wir dann von den Kollegen gefragt wurden, warum wir Deutschen nun auf einmal "Arbeitgebervertreter" in das Gremium schickten.

Das größte Problem für uns Deutsche und für die Niederländer war, dass das Gremium nach belgischem Recht gegründet wurde - als Comité d'Entreprise Européen (CEE)und der Unternehmenspräsident den Vorsitz führte. Die Tagesordnung der Sitzungen musste stets mit der Unternehmensspitze abgesprochen werden.

Bei dem ersten Treffen hatte ich den Eindruck, an einer sehr formalisierten, steifen Veranstaltung teilzunehmen. Unsere Fragen waren schon Wochen vorher eingereicht, übersetzt und den Teilnehmern zugesandt. Eine Diskussion war nur sehr eingeschränkt möglich. Die Franzosen und die Belgier erklärten uns, dies sei üblich. Wichtiges wird im Vorfeld diskutiert und erst entscheidungsreif in den EBR gebracht.

An den Tagen vor den offiziellen EBR-Sitzungen trafen wir Arbeitnehmervertreter uns auf einer internen Sitzung. Für deutsche Verhältnisse waren die Abläufe wenig strukturiert. Die Themen wechselten permanent, und es war fast unmöglich, eine feste Tagesordnung durchzusetzen. Wir Nordeuropäer neigten dazu, wirtschaftliche Fragen und Fragen der Arbeitsorganisation in den Vordergrund zu stellen - auf einer unserer Sitzungen stellte der italienische Delegierte dagegen die Beteiligung seiner Gewerkschaft CISL an einem Generalstreik gegen Silvio Berlusconi in den Mittelpunkt seines Berichtes - zum Ärger der Niederländer, die der Meinung waren, so etwas gehöre nicht in den EBR.

Auch die Spanier, Portugiesen, Franzosen und Belgier liebten es, rein politisch zu diskutieren. Dagegen lehnten sie in der Anfangszeit praktisch alle Vorschläge der Nordeuropäer mit der Begründung ab, diese seien zu "niederländisch" - also zu kooperativ. Doch auch mit ihrer Strategie erzielten sie zu unserer Überraschung Erfolge. Die italienische Gewerkschaft CISL konnte das Thema "Vereinbarkeit von Familie und Beruf" schon 1999 in einer Betriebsvereinbarung verankern, lange bevor es bei uns in Deutschland damit voranging.

So entwickelte sich langsam die Erkenntnis, wie bereichernd diese europäische Vielfalt für unsere Arbeit sein kann. Auf den Vorschlag der Niederländer organisierten wir für die EBR-Mitglieder sowie für das Management ein interkulturelles Seminar. Es wurde ein großer Erfolg, weil viele Missverständnisse geklärt werden konnten. Die Übungen und Spiele dieses Seminars kamen uns später immer wieder in Erinnerung, wenn wir bei irgendeinem Problem nicht weiterkamen.

Besonders viel habe ich über die Unterschiede in Europa bei Besuchen ausländischer Standorte gelernt. In Tavaux, Frankreichs größtem Standort, zeigten uns die Kollegen, welche umfangreichen Sozialetats die Arbeitnehmervertreter verwalteten - sie kümmerten sich um Belegung der Ferienheime, Judo für die Kinder der Beschäftigten oder einen Mitarbeiter-Laden - gewissermaßen als Sozialabteilung des Konzerns. Das war etwas ganz anderes als die Arbeit deutscher Betriebsräte.

Unsere Arbeit in den offiziellen EBR-Sitzungen ähnelte der in einem deutschen Wirtschaftsausschuss: Bilanzen wurden erläutert, vorher ausformulierte Grundsatzvereinbarungen beschlossen. Als bedeutender erwiesen sich rasch die anschließenden Arbeitsessen. Für das Kennenlernen und den Austausch waren sie viel wichtiger als der offizielle Termin davor. Wir Deutschen haben das lange Zeit unterschätzt.

Nur Kontinuität bringt den Erfolg

Etwa alle zwei Jahre fanden längere Schulungen statt, bei denen neben uns immer auch Experten des Konzerns, der EU oder des EGB beteiligt waren. Es ging um Arbeitsschutz, Produktstrategien, Arbeitsabläufe im Konzern, also durchaus um Belange, die im Interesse des Unternehmens lagen - aber mit Beteiligung von Politikern, Gewerkschaftern und externen Organisationen. Für mich war es positiv, dass die nationalen Managements beteiligt waren. Denn anschließend war manches Problem einfacher zu lösen.

Nach Feierabend, ohne die Simultanübersetzer, wurde allerdings auch deutlich, wie sehr Sprachbarrieren den Austausch behinderten. An den Abenden saßen die Nord- und die Südeuropäer in zwei Fraktionen zusammen. Ich glaube, dass sich die Lage erst in der nächsten Generation wirklich verbessern wird, und dass nur eine Entscheidung für Englisch als Verkehrssprache auf Dauer tragfähig ist - so schwer das auch für die Franzosen sein mag.

Trotz der Sprachbarrieren und mancher anderer Probleme wurden die Schulungen zum Kristallisationspunkt einer verbesserten Zusammenarbeit. Zu den Erfolgsfaktoren eines EBR gehört aber auch die personelle Kontinuität. Es dauert lange, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen. Länder, die häufig ihre Delegierten wechselten, kamen nie richtig in die Arbeit hinein.

Wie viel Europa wollen die Gewerkschaften?

Für die deutschen EBR-Mitglieder ist es außerdem wichtig zu wissen, welche Rolle die gewerkschaftlichen KBR- und GBR-Berater auf dem europäischen Parkett spielen: Wie bekommt man überhaupt einen Hauptamtlichen dazu, sich zusätzlich zu der normalen Überlastung in die Angelegenheiten eines EBR einzuarbeiten?

Die häufige Antwort - "Das macht die EMCEF in Brüssel" - führt nicht weiter. Drei hauptamtliche Mitarbeiter können nicht Hunderte von europäischen Chemie-, Energie- und Bergbau-Konzernen betreuen. Bei Solvay haben wir einige Jahre nach der Gründung des EBR nichts mehr von der EMCEF gehört. Das beruhte freilich auf dem Umstand, dass eine belgische Gewerkschaft der Meinung war, der EBR sei eine "innerbelgische Angelegenheit" und ginge die Föderation überhaupt nichts an. Also hatte sie keinerlei Informationen mehr weitergegeben.

Die permanent überlastete EMCEF konnte sich nicht auch noch um die Eurobetriebsräte kümmern, die sich nicht mehr meldeten. Vergleichbare Apparate wie in Deutschland gibt es in anderen Ländern ohnehin kaum. Die französischen, spanischen oder italienischen Kollegen im EBR sind selbst die Repräsentanten ihrer Gewerkschaften, teils in Doppelrollen mit einem eigenen Büro und zugleich als Beschäftigte des Konzerns.

Darüber, was ideale demokratische Strukturen sind und wie man die politische Einflussnahme organisieren soll, herrschen bei den europäischen Gewerkschaften extrem unterschiedliche Vorstellungen. Es ist bekannt, dass einige von ihnen die Eurobetriebsräte als Einfallstor für Betriebssyndikalismus durchaus kritisch beäugen. Die unterschiedlichen Positionen schlagen sich auch in der Beurteilung des deutschen Mitbestimmungsgesetzes von 1976 nieder.

Für viele ausländische Kollegen war die Einführung der Europäischen Aktiengesellschaft (SE) als neuer Rechtsform ein erster Anlass, sich mit der Unternehmensmitbestimmung überhaupt zu beschäftigen.
Besonders die Kollegen aus Frankreich oder Belgien lehnen eine Mitarbeit von Arbeitnehmervertretern im Aufsichts- bzw. Verwaltungsrat grundsätzlich ab. In ihren Ländern sind diese Gremien in der Hand der großen Familien, der Banker, der Minister. Hier mitzuarbeiten ist für sie eine geradezu absurde Vorstellung - es wäre Verrat an der eigenen Identität. Die vermeintliche Parität in Deutschland betrachten sie als Etikettenschwindel.

Das deutsche Modell ist nicht exportierbar. Ein erster Schritt hin zu einer besseren Verständigung und Koordination könnte es aber sein, über europäische Gewerkschaftsgremien einen Branchen-Diskurs mit engagierten Europäischen Betriebsräten zu beginnen. Es wäre sinnvoll, wenn sich in jedem Unternehmen die beteiligten Gewerkschaften jeweils auf einen Koordinator für einen bestimmten EBR einigen könnten, der in der Lage wäre, alle Informationen und Interessen zusammenzuführen. Bei den europäischen Gewerkschaften sind die wenigen Ansätze in dieser Richtung derzeit noch vom großen Engagement einzelner Kollegen geprägt. Ich wünsche mir sehr, dass sie mehr Unterstützung bekommen.




(Joachim Heilmann, Jura-Professor an der Universität Lüneburg, hat diesen Erfahrungsbericht nicht nur angeregt und bearbeitet, sondern er war in den zehn Jahren ein unentbehrlicher Gesprächspartner.)

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