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Magazin Mitbestimmung

Die Fragen stellte CORNELIA GIRNDT: „Wir stärken unser Sozialmodell“

Ausgabe 04/2017

Interview WSI-Direktorin Anke Hassel über die Bedeutung einer guten Datenbasis in der fachlichen und politischen Auseinandersetzung und neue Ideen für die Forschung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts

Die Fragen stellte CORNELIA GIRNDT

Anke Hassel, das WSI habe „ein umfassendes und einzigartiges Wissen über die Entwicklung des deutschen Sozial- und Wirtschaftsmodells im europäischen Kontext“, schreiben Sie. Worin besteht dieses einzigartige Wissen?

Die Zusammenführung von verteilungspolitischen Themen, Arbeitsmarktanalysen, die Kenntnis der industriellen Beziehungen plus europäischer Politik – das ist als Konstellation von Forschungsschwerpunkten schon ziemlich einzigartig, zumal in Kombination mit der Empirie im Tarifarchiv oder durch die Betriebsrätebefragungen. In dieser Tiefe hat kein anderes Institut dieses Wissen.

In die DNA des WSI ist seit 70 Jahren eingeschrieben, die Lebenslage der Arbeitnehmer/-innen zu verbessern. Es gibt auch kritische Stimmen, es heißt, man würde eher die Defizite – die Armut, die Prekarisierung – herausstellen.

In der Tat stehen wir da in der Auseinandersetzung. Die hat jetzt in der Debatte um soziale Ungleichheit noch an Fahrt zugenommen. Die arbeitgebernahe Seite unter anderem stellt heraus, „warum Deutschland gerechter ist, als viele behaupten“, und implizit hört man den Vorhalt: Was beklagt ihr denn, geht es uns nicht prima? Da wird jetzt wirklich mit harten Bandagen argumentiert.

Das WSI verweist in diesem Kontext gern auf die Polarisierung des Arbeitsmarktes.

Früher konnte man mit einer Facharbeiterausbildung problemlos ein Leben in der Mittelschicht führen. Jetzt haben wir einen ausgeprägten Niedriglohnsektor und eine Erosion der Mitte (die mal bei 60 Prozent lag), während bei den hoch Qualifizierten Jobs dazukommen. Wer eine Facharbeiterqualifikation hat, kann sich nicht mehr sicher sein, ob die Familie nach unten in den Niedriglohnbereich abwandert. Oder ob man – etwa über Aufbaustudien – den Aufstieg in das hoch qualifizierte Segment schafft. Das ist die Verunsicherung der Mittelschicht, und die ist wirklich real. Das ist nicht etwas Eingebildetes, wie uns manche Wissenschaftler, Verbände und Politiker glauben machen wollen. Es gibt handfeste Gründe, warum diese Menschen verunsichert sind.

Wie wichtig ist in diesem Kontext die Datenbasis?

Die ist zentral. Ohne solide empirische Datenbefunde wären wir nicht sprachfähig. Wir könnten weder wissenschaftlich publizieren, noch könnten wir im politischen Raum unsere Studien vorstellen. Die politische Auseinandersetzung zur Arbeitsmarkt- und Tarifpolitik, aber auch in der Sozialpolitik werden heute unter Einsatz von Daten geführt. Und diese Daten müssen leicht zugänglich sein – und für möglichst viele. Das ist nicht trivial. Und wenn wir Befragungsergebnisse so aufbereiten, dass auch andere damit arbeiten können, schaffen wir Verbreitung für unsere Themen. Da haben wir natürlich auch Journalisten im Sinn.

Was gehört dazu?

Dazu gehört die Betriebsrätebefragung. Dazu gehört das Tarifarchiv, wo systematisch Tarifverträge sowohl quantitativ wie auch qualitativ ausgewertet werden. Die Digitalisierung des Tarifarchivs ist für mich ein wichtiges Projekt, damit wir jene Schätze heben können, die im Moment nur zum Teil genutzt werden können. Wir haben auch andere eigene Befragungen, zum Beispiel zum Thema Behinderung von Betriebsratswahlen. Diese und weitere Datenbefunde im Kernbereich der WSI-Forschung sind wesentliche Bestandteile der sozialwissenschaftlichen Forschung in Deutschland. Bei diesen Themen hat das WSI ein Alleinstellungsmerkmal.

Soll damit auch das deutsche Modell der industriellen Beziehungen gestärkt werden?

Aber ja. Wir nutzen unentwegt diese Daten in der öffentlichen Debatte wie auch in den Tarifauseinandersetzungen und im Austausch mit den Betriebsräten und hinterlegen sie als Grafiken im Internet. Darauf können dann auch Gewerkschaftskollegen in einer Verwaltungsstelle zurückgreifen, etwa wenn sie eine Rede vorbereiten.

In welchem Zustand ist das deutsche Modell, zu dem Mitbestimmung genauso gehört wie der Wohlfahrtsstaat und das im Zentrum Ihrer eigenen Forschung steht?

Wir erleben seit den 70er Jahren einen ganz massiven Strukturwandel, weg von der männlich geprägten Industrie hin zu den Dienstleistungen – mit einem bemerkenswerten Anstieg der Frauenerwerbstätigkeit. Dadurch hat sich die Prägekraft jener Institutionen verändert, die aus den Kernbereichen der Tarifpolitik und der Mitbestimmung kommen und nun auf die Dienstleistungssektoren aufgesetzt wurden. Und dort nicht die gleiche Prägekraft entwickeln konnten. Aber auch im Kernbereich der deutschen Industrie haben sich die Institutionen gewandelt. Ehedem tariftreue Unternehmen haben dieses Regelsystem für sich flexibel umgebaut – durch OT-Arbeitgeberverbände, durch Restrukturierungen ihrer Unternehmen, durch den Einsatz von Leiharbeitnehmern.

Kann man von einer Erosion sprechen?

Von Erosion, von Transformation. Schon vor 20 Jahren habe ich in einem Aufsatz von der Erosion des deutschen Modells gesprochen. Damals gab es viel Widerspruch, weil Deutschland als Ort der Stabilität empfunden wurde. Aber schon damals war zu beobachten, wie die Tarifdeckung zurückgeht und sich die mitbestimmungsfreien Zonen ausweiten. Das beruhte auf Zahlen, die wir 1997 in der Mitbestimmungskommission von Hans-Böckler- und Bertelsmann-Stiftung bei Wolfgang Streeck in Köln erhoben hatten. Seitdem ist die Erosion weiter fortgeschritten. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad hat sich reduziert, die Tarifbindung ist rückläufig, ebenso die Verbreitung von Betriebsräten.

Das WSI hat vielfach in seiner Forschung herausgearbeitet, wie wichtig diese Institutionen für soziale Gerechtigkeit und für die Verteilung sind – aktuell sind das die großen Themen.

Zu diesen Institutionen gehören Tarifpolitik, Mitbestimmung, ein regulierter Arbeitsmarkt und auch der Wohlfahrtsstaat. Wir untersuchen diese Institutionen mit einer bestimmten Perspektive – nicht wertneutral – und wollen mit einem besseren Verständnis auch etwas zur Stärkung und Weiterentwicklung beitragen. Der Mindestlohn ist ja nicht im luftleeren Raum entstanden, sondern weil die Prägekraft von Tarifverträgen in bestimmten Bereichen so schwach wurde. Das WSI hatte großen Anteil daran, diese Diskussion voranzutreiben.

Gibt es ähnliche Projekte, bei denen Sie sagen: Daran arbeiten wir die nächsten zehn Jahre?

Was sind Faktoren, damit sich Unternehmen auch wieder an Tarifpolitik beteiligen? Wie effektiv ist die Allgemeinverbindlichkeit? Aber auch: Wohin steuern die Sozialversicherungen, und wie kann die Politik prekäre Arbeitsverhältnisse besser absichern und der Ungleichheit entgegenwirken? Wir werden uns in einem größeren Kontext der Einhaltung und Kontrolle von Normen widmen. Da geht es dann auch um den Mindestlohn. Und da geht es darum, dass das, was gesetzlich reguliert und tariflich vereinbart wurde, auch tatsächlich umgesetzt wird. Weil wir sehen, dass es ein Umsetzungsdefizit gibt zwischen dem, was man beschlossen hat, und dem, was tatsächlich in den Betrieben passiert.

Spielt auch hier die Transformation des deutschen Modells eine Rolle?

Ja, denn früher hatte man ein eingespieltes System: Die Betriebsräte agierten mit den tarifpolitischen Akteuren und auch dem Recht. Wenn wir jetzt weniger Betriebsräte haben, dann haben wir auch weniger Akteure, die darauf insistieren, dass bestimmte Normen auch wirklich umgesetzt werden.

Müsste dann nicht auch der Staat diese Institutionen, die für soziale Gerechtigkeit wesentlich sind, besser schützen und stützen?

Dies politisch zu fordern ist Aufgabe der Gewerkschaften, und sie machen das auch, etwa um die Unternehmensmitbestimmung nicht weiter erodieren zu lassen. Unsere Aufgabe als WSI ist in erster Linie, die Zusammenhänge zu erforschen und alternative Lösungen zu entwickeln. Wir werden auch Vorschläge machen. Aber die in den politischen Raum hineinzutragen ist Aufgabe der politischen Akteure.

Inwieweit wird der einzelne Mensch, der immer mehr Arbeitskonflikte auszuhalten hat, mehr gesundheitlichen Risiken am Arbeitsplatz ausgesetzt ist, der um Vereinbarkeit ringt, für den der Sozialstaat nicht mehr in dem Maße sorgt – inwieweit wird der einzelne von den Forschungen des WSI unterstützt?

Einer unserer Forschungsschwerpunkte heißt Transformation von Arbeit. Da benutzen wir auch Mikrodaten aus Erwerbstätigenbefragungen, in denen Menschen zu ihren Arbeitszeiten, zu Erreichbarkeit und Stressbelastung gefragt werden. Diese Fremddaten werten wir aus, gleichzeitig überlegen wir, wie wir diese Forschung hier systematisch ansiedeln können. Denn wir befragen derzeit Betriebsräte, keine Arbeitnehmer. Ich würde gerne ein Instrument entwickeln, womit wir stärker die Arbeitsbedingungen, Wünsche und Bedürfnisse insgesamt von Erwerbstätigen in den Blick bekommen. Wir wollen besser verstehen, wie und wie schnell sich die Arbeitswelt wandelt. Wie flexibel sind Arbeitszeiten jetzt schon? Wie entgrenzt ist ein Arbeitsalltag? Wie mobil? An diese Dynamiken kommt man nur heran, wenn wir uns die Informationen direkt bei den Erwerbstätigen abholen.

Sie diskutierten Ende März mit dem BDA-Hauptgeschäftsführer und dem DIW-Präsidenten über die strittige Frage: Muss die Agenda 2010 dringend reformiert werden, oder ist sie die Basis für eine zukunftsweisende Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik? Wie positionierten Sie sich?

Ich war 2004 sehr nah dran an den Hartz-Reformen, da ich im Zuge eines Austausches zwischen Wissenschaft und Politik ein Jahr im Bundesarbeitsministerium war. Danach habe ich in einem Böckler-Projekt Antworten gesucht auf die Frage: Warum verfolgt die Politik eine so einschneidende Reform? Das war schon ein Strukturbruch an dieser Stelle mit dem deutschen Modell. Die Arbeitslosenhilfe war vorher unbegrenzt, und Ersparnisse bzw. Vermögen wurden nicht angetastet.

Und Ihre Erkenntnis nach der Befragung von rund 50 Akteuren?

Es war im Kern eine fiskalische Maßnahme, um die westdeutschen Kommunen vor dem Ruin zu retten, indem man ihnen einen Teil der Ausgaben für die Sozialhilfe abnahm. Um die fiskalischen Effekte der Hartz-IV-Reform auszureizen, hat man sehr harte Strukturreformen gemacht. Das Erstaun­liche: Da ging es weniger um Arbeitsmarkt­politik, sondern um eine Gemeindefinanzreform.

Das Thema lässt uns nicht los. Was sollte die Politik jetzt tun?

Ich glaube nicht, dass man die Hartz-IV-Reform heilen kann. Man kann die Geschichte nicht zurückdrehen hin zu einer Reform, die man damals hätte eigentlich machen müssen. Gleichzeitig weist Martin Schulz auf ein reales Problem hin, das durch die Hartz-Reformen zugespitzt wurde: die zunehmende Polarisierung des Arbeitsmarktes. Er sagt: Es kann nicht sein, dass jemand, der lange Jahre in einem qualifizierten Job gearbeitet hat, nach einem Jahr vor dem Nichts steht. Und das ist auch richtig. Das Arbeitslosengeld länger zu bezahlen, um mehr Sicherheit einzuführen und eine Qualifizierungsphase, das finde ich nicht falsch. Allerdings hilft man den Menschen nur mit einem guten Job. Gute Arbeit ist die Antwort sowohl auf die Prekarisierung wie auch auf steigende Ungleichheit.

Da ist das WSI wieder gefragt.

Da geht es um die Regulierung des Arbeitsmarktes und darum, Bereiche, die ins Niedriglohnsegment abgewandert sind, wieder herauszuholen. Da kommt die Tarifpolitik und die Tarifbindung ins Spiel, weil dadurch auch die Arbeit wieder akzeptabler wird für diejenigen, die ihren Job verloren haben.

Kürzlich analysierte eine WSI-Tagung den Populismus und fragte, warum Arbeitnehmer der unteren Mittelschicht diese Bewegung unterstützen. Ein Thema?

Wir haben die Aufgabe, die sozioökonomischen Grundlagen des Populismus zu verstehen, um ihm die Grundlage zu entziehen. Der Nährboden liegt in der Auflösung des Sozialvertrages der Nachkriegsjahre, der mit regulierten Arbeits- und Finanzmärkten Sicherheit gab. Wir sehen eine neue Art des Wirtschaftens, die sehr effizient für die Konsumenten ist, aber gleichzeitig die Inte­ressen von Produzenten vernachlässigt.

Populisten spielen sich auf als Beschützer der traditionellen Arbeiterklasse.

Es formiert sich derzeit eine starke Gegenbewegung gegen den liberalen und globalen Kapitalismus, der Kosten senkt und Arbeiter schutzlos zurücklässt. Aber diese Gegenbewegung hat das Gesicht des Populismus, und nicht der Arbeiterbewegung und ihrer Repräsentanten. Hier brauchen wir einen neuen Sozialvertrag. Den zu formulieren ist genuine Aufgabe der Gewerkschaften.

Allein national wird das nicht reichen. Europäisches Sozialmodell heißt ein weiterer Forschungsschwerpunkt des WSI. Jetzt sagen aber Politikwissenschaftler wie etwa Martin Höpner, es gebe kein europäisches Sozialmodell, zumindest kein einheitliches. Was sagen Sie?

Natürlich gibt es ein europäisches Sozialmodell im Vergleich mit anderen Weltregionen. Und natürlich gehören die Gewerkschaften zentral dazu. Tarifbindung gibt es fast nur in Europa. Das Gleiche gilt für den Wohlfahrtsstaat, der die großen Risiken wie Krankheit, Alter, Arbeitslosigkeit absichert. Auch den finden wir nur in Europa. Von daher gibt es ein europäisches Sozialmodell – das gab es aber schon vor dem Euro.

Also relativ unproblematisch?

Nein. Problematisch ist, dass die nationalen Wohlfahrtsstaaten in Europa sich stark unterscheiden und nur als nationale Modelle ihre Funktion wirklich erfüllen können. Das steht einer stärkeren Europäisierung der Wohlfahrtsstaaten entgegen. Hier gibt es eine starke Spannung, für die es bislang noch keine Lösung gibt. Auch dieses Thema steht auf unserer Agenda.

Fotos: Uli Baatz, Stephan Pramme (WSI-Herbstforum 2016)

 

ZUR PERSON

Anke Hassel, 51, ist seit Herbst 2016 Direktorin des WSI der Hans-Böckler-Stiftung. Geboren wurde sie im Westerwald, ihr Vater war Lokomotivführer und im Personalrat aktiv. Ihre gewerkschaftliche Prägung, sagt Hassel, sei älter als die Entscheidung, wissenschaftlich zu arbeiten. Als junge Frau war sie an die London School of Economics gegangen, weil man nur dort das Fach Industrielle Beziehungen studieren konnte. Zurück in Frankfurt jobbte sie ein Jahr als Redakteurin beim linken Express und arbeitete mit Otto Jacobi im Projekt des Europäischen Laboratoriums, schrieb Berichte über deutsche Tarifpolitik.

Ein Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung legte die materielle Grundlage für die Promotion – 1998 bei Walther Müller-Jentsch. Sie ging mit ihrem Mann nach Köln und begann dort eine intensive Forschungsphase am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung bei Wolfgang Streeck.

Im Zuge eines Austausches zwischen Wissenschaft und Politik war sie 2003 im Planungsstab des damaligen Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit. Nach der Habilitation erhielt Anke Hassel einen Ruf nach Bremen als Professorin für Soziologie, wechselte 2005 auf einen Lehrstuhl für Public Policy an der Hertie School of Governance in Berlin. Sie ist seit ihrer Jugend SPD-Mitglied, schrieb regelmäßig politische Kolumnen im Debattenmagazin Berliner Republik und nutzt intensiv Social-Media-Kanäle – für den schnellen Austausch mit den Wissenschaftlerkollegen. Anke Hassel hat einen 24-jährigen Sohn und eine 14-jährige Tochter. Sie ist verheiratet mit dem Journalisten Hugh Williamson, der vor Kurzem die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen hat.

Website: www.ankehassel.de

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