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Magazin Mitbestimmung

Tarifpolitik: Wildwuchs eingedämmt

Ausgabe 07+08/2012

Mit den jüngsten Tarifvereinbarungen zur Leiharbeit hat die IG Metall Voraussetzungen geschaffen, die Beschäftigungsbedingungen in der Branche erheblich zu verbessern. Es bleibt Aufgabe des Gesetzgebers, die Fehlentwicklungen auf dem Arbeitsmarkt zu korrigieren. Von Helga Schwitzer

Für die Gewerkschaften ergibt sich bereits aus der Vertragskonstruktion der Leiharbeit eine zentrale Schwierigkeit ihrer tariflichen Normierung: Leihbeschäftigte haben einen Arbeitsvertrag mit dem Verleiher, die wesentlichen Bedingungen ihrer Arbeitsverhältnisse werden jedoch vom Entleihbetrieb bestimmt. Die Betriebsräte und die Tarifvertragsparteien, die die Bedingungen innerhalb des Entleihbetriebes regeln, haben aber keinen direkten Einfluss auf die Vertragsgestaltung zwischen dem Verleiher und den Leihbeschäftigten.

In diesem Dreiecksverhältnis hat die IG Metall den Versuch unternommen, parallel einerseits die Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte im Entleihbetrieb und andererseits die materiellen Ansprüche der Leihbeschäftigten gegenüber ihrem Verleihunternehmen möglichst weitgehend zu regeln. Die Erweiterung der Mitbestimmungsrechte in den Entleihbetrieben der Metall- und Elektroindustrie ergibt sich im Wesentlichen aus einer im jüngsten Tarifvertrag verankerten Verbotsnorm, auf die der Betriebsrat eine Zustimmungsverweigerung gemäß §?99 BetrVG stützen kann, sowie aus einer erstmalig eingeführten Frist von bis zu zehn Tagen, vor deren Ablauf der Arbeitgeber des Einsatzbetriebes die Einstellung eines oder einer Leihbeschäftigten auch als vorläufige personelle Einzelmaßnahme nach §?100 BetrVG nicht durchführen darf. Darüber hinaus wurde der Zweck zulässiger Leiharbeit näher definiert.

Auf der anderen Seite wurden in einem Tarifvertrag mit dem Bundesarbeitgeberverband der Personaldienstleister (BAP) und dem Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen (iGZ) Branchenzuschläge geregelt, die abhängig von der Einsatzdauer im selben Betrieb stufenweise von 15 bis auf 50 Prozent ansteigen. Basis sind die zwischen diesen Verbänden und der DGB-Tarifgemeinschaft vereinbarten Tarifentgelte. Damit wird eine erhebliche Verbesserung der Einkommen für Leihbeschäftigte erreicht, wenn sie in der Metall- und Elektroindustrie eingesetzt sind. Bisher liegen ihre Einkommen im direkten Vergleich mit den Stammbeschäftigten bei gleicher Arbeit bei 50 bis 60 Prozent. Mit der Vereinbarung über Branchenzuschläge wird je nach Einsatzdauer ein Niveau von 80 bis 90 Prozent erreicht.

MIT TARIFVERTRAG GEGEN PREKÄRE ARBEIT

Leiharbeit, wie sie in Deutschland Praxis ist, ist prekäre Beschäftigung. Sie erfüllt mehrere der hierfür maßgeblichen Kriterien: soziale und berufliche Desintegration im Betrieb, Verschiebung des Beschäftigungsrisikos auf die Beschäftigten (und Verschiebung der Kosten auf die Gesellschaft), unstetes Einkommen, dessen Höhe nur auf dem ALG-II-Niveau abgesichert ist, Belastung durch höhere Gesundheitsrisiken und Arbeitsunfallquote, Abkoppelung von Qualifizierung, keine Aufstiegsperspektive im Betrieb. Hinzu kommt, dass die meisten Leihbeschäftigten ständig zwischen Arbeitslosigkeit und Beschäftigung wechseln, was eine soziale Desintegration und psychosoziale Belastung durch unsichere Lebens- und Zukunftsperspektive bedeutet. Diese Dimensionen gehen weit über die Frage des Einkommens- und der Arbeitsbedingungen bei einem Einsatz in einem Betrieb hinaus.

Die neuen Vereinbarungen verringern diese Risiken. Sie verbessern die Einkommenschancen der Leihbeschäftigten. Durch eine nach zwei Einsatzjahren im selben Betrieb wirksame Übernahmeverpflichtung werden zudem ihre Chancen auf eine Festanstellung erhöht. In der Metall- und Elektroindustrie sind damit die Möglichkeiten, Leiharbeit zum Lohndumping zu missbrauchen, begrenzt. Leiharbeit ist auf ihre Funktion als Flexibilitätsinstrument beschränkt.

Die Ausweitung prekärer Arbeitsverhältnisse ist kein auf die Bundesrepublik beschränktes Problem. Der Europäische Metallgewerkschaftsbund (EMB) hat deshalb auf seiner sechsten tarifpolitischen Konferenz im November 2009 in Madrid eine gemeinsame Forderung beschlossen. Danach sind alle EMB-Mitglieder aufgefordert, im Rahmen ihrer nationalen Bedingungen tarifpolitisch die Eingrenzung prekärer Arbeitsverhältnisse zu verfolgen, um damit gemeinsam einen auf der Organisationskraft der Gewerkschaften beruhenden Beitrag für ein soziales Europa zu leisten. Mit der Vereinbarung von Branchenzuschlägen für Leihbeschäftigte erfüllt die IG Metall diese Aufgabe in einer Zeit, in der durch die Finanzmarktkrise in Teilen der EU die Löhne massiv unter Druck geraten und prekäre Arbeit weiter zunimmt.

VERANTWORTUNG DER POLITIK

Die vereinbarten Regelungen sind punktueller Art. Sie können die Bedingungen für die Betroffenen verbessern. Sie verhindern jedoch nicht, dass Arbeitgeber nach Ausweich- und Umgehungsmöglichkeiten suchen. Daher kann die Tarifpolitik mit ihren Instrumenten nur begrenzt wirken. Prekäre Arbeitsbedingungen müssen umfassend bekämpft werden. Hierzu gehört nicht nur die Regulierung der Einkommen. Darüber hinaus ist der Staat gefordert, seinen Anteil an der Zivilisierung der Arbeitsbeziehungen zu leisten. Hierzu gehört insbesondere die Wiedereinführung des Synchronisationsverbots und eine Höchstüberlassungsdauer bei Leiharbeit.

Die Grenzen tarifpolitischer Regulierung werden auch in Bezug auf die wirtschafts- und betriebspolitischen Effekte von Leiharbeit deutlich. Der politisch induzierte Zuwachs von verfügbaren flexiblen und kostengünstigeren Arbeitskräften hat eindeutig wirtschaftspolitische Folgen. Mittlerweile werden Produktionskonzepte ausprobiert, deren integraler Bestandteil die Ausweitung neuer Formen prekärer Beschäftigung ist. Es gibt Industrieunternehmen mit Belegschaften, die in der Produktion bis zu 30 oder 40 Prozent aus Leihbeschäftigten bestehen. Es gibt Betriebe, die Mischformen von Werkverträgen und Arbeitnehmerüberlassung ausprobieren und auch eigene Personalgesellschaften gründen. Und es gibt diejenigen, die ihre Zulieferkette umorganisieren und ausdrücklich dazu auffordern, auch die Kostensenkungsmöglichkeiten prekärer Beschäftigung zu nutzen. Die Folgen sind noch nicht endgültig abzusehen. Diese Veränderungen sind jedoch geeignet, das Modell industrieller Beziehungen nachhaltig zu verändern. Die Zergliederung von Belegschaften und Betrieben entlang der Produktionskette ist schon erheblich fortgeschritten.

Diese Zergliederung ist im Wesentlichen Ergebnis des Angebots deregulierter Beschäftigungsformen. Neben den Missbrauchsmöglichkeiten von Leiharbeit, Werkverträgen und anderen Formen atypischer Beschäftigung gehören sicherlich auch die abnehmende Regulierungsmächtigkeit von Gewerkschaften und die sinkende Tarifbindung zu den Ursachen. Es zeigt sich aber, dass die Tarifautonomie auch strukturell nicht in der Lage wäre, politisch durch Deregulierung verursachte Verschiebungen gänzlich einzufangen. Arbeitsmarktregulierung, die rechtliche Begrenzung unternehmerischer Optimierungsfantasien und die Vermeidung der Abwälzung unternehmerischer Verantwortung auf die Gesellschaft sind politische Aufgaben und tarifpolitisch nicht zu stemmen.

Notwendig für die gesellschaftliche Verankerung des Kampfes gegen prekäre Beschäftigung ist die Entwicklung eines tragfähigen Leitbildes für eine verzahnte Politik. Von der EU wird – ausgehend von Lissabon – das Ziel der „Flexicurity“ vertreten. In der Umsetzung spüren die Beschäftigten vor allem die erhöhten Anforderungen der Flexibilität, nicht aber der Sicherheit (Security). Flexicurity steht für die einseitige Erhöhung der Produktivität und der Wettbewerbsfähigkeit. Dem stellt die IG Metall das Leitbild „Arbeit sicher und fair“ entgegen. Dieses steht für gute Arbeit, die den Beschäftigten sichere Lebensperspektiven und die Vereinbarkeit von Arbeit und Leben bietet. Dem hat sich die IG Metall mit den Tarifvereinbarungen zur Leiharbeit angenähert. Für eine umfassende und soziale Neuordnung des Arbeitsmarktes bleibt die Politik gefordert.

Text: Helga Schwitzer, im geschäftsführenden Vorstand der IG Metall zuständig für Tarifpolitik / Illustration: Jörg Volz/SIGNUM communication

Was mitbestimmungspolitisch zu tun bleibt

Der Tarifvertrag zur Leiharbeit kann die unzureichenden Rechte des Betriebsrates im Einsatzbetrieb nur zum Teil kompensieren. Zu den Aufgaben auf der Agenda des Gesetzgebers zählen insbesondere:

DIE ZAHL DER BETRIEBSRATSMITGLIEDER: Nach §?7 BetrVG gilt zwar der Grundsatz, dass Leihbeschäftigte den Betriebsrat mitwählen, wenn sie länger als drei Monate im Betrieb eingesetzt sind. Bei der Zahl der zu ermittelnden Betriebsratsmitglieder nach §?9 BetrVG zählen sie aber nicht mit. Diese Regelung muss verändert werden vor dem Hintergrund der hohen Anzahl von Leihbeschäftigten in einzelnen Betrieben, die für den Betriebsrat zusätzliche Anforderungen auslösen.

EINGRUPPIERUNG VON LEIHBESCHÄFTIGTEN: Nach einer Umfrage der IG Metall sind 46 Prozent der Leihbeschäftigten in den unteren beiden Entgeltgruppen eingruppiert. Dies entspricht nicht der Eingruppierungsstruktur der Metall- und Elektroindustrie. Es ist daher offensichtlich, dass Leihbeschäftigte regelmäßig gemessen an den Anforderungen ihrer Arbeitsaufgabe im Einsatzbetrieb zu niedrig eingruppiert werden. Diese zu niedrige Eingruppierung kann durch den Betriebsrat im Verleihunternehmen nicht korrigiert werden, da nur wenige Verleihunternehmen tatsächlich über einen Betriebsrat verfügen und dieser zudem keinen direkten Zugang zu den Arbeitsplätzen im Einsatzbetrieb hat.
Daher ist es erforderlich, dem Betriebsrat im Einsatzbetrieb zusätzliche Rechte einzuräumen. Dieses kann dadurch geschehen, dass ihm ein wirksames Zustimmungsverweigerungsrecht durch die Erweiterung des §?99 BetrVG bei Einstellung eines Leiharbeiters eingeräumt wird, bis der Arbeitgeber nachweist, dass das Verleihunternehmen den Leiharbeiter entsprechend der Anforderungen am Arbeitsplatz im Entleihunternehmen eingruppiert hat.

§100 BETRVG: Der neue Tarifvertrag räumt dem Betriebsrat eine zusätzliche Zehn-Tage-Frist vor Durchführung einer vorläufigen personellen Einzelmaßnahme beim Einsatz von Leihbeschäftigten ein. Diese verhindert jedoch nicht, dass die im BetrVG als Ausnahme vorgesehene Vorschrift in Verbindung mit dem Einsatz von Leihbeschäftigten zum Regelfall geworden ist. Aus Sicht der IG Metall ist deshalb eine weitergehende Einschränkung der Anwendung des §?100 BetrVG für den Einsatz von Leihbeschäftigten vorzunehmen.

RECHTE BEI DER AUFTRAGSVERGABE: Die bessere Regulierung der Leiharbeit beinhaltet die Gefahr, dass künftig Werkverträge, Scheinwerkverträge und Scheinselbstständigkeit verstärkt als Instrumente genutzt werden, um Arbeit billig und für die Gesellschaft schädlich ausführen zu lassen. Die Möglichkeiten der am Individualrecht ansetzenden Kontrolle dieser Vertragsarten reichen nicht aus. Deshalb sind zusätzliche Rechte der Betriebsräte bei der Auftragsvergabe an Werkvertragsnehmer sowie die Erweiterung des Zustimmungsverweigerungsrechtes gemäß § 99 BetrVG erforderlich für den Fall, dass das errichtete Werk der Wertschöpfungskette eines Betriebes zuzuordnen ist.

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