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Magazin Mitbestimmung

: Wer ist der Chef im Satz?

Ausgabe 01+02/2006

In kaum einem Industrieland sind die Bildungschancen für Migrantenkinder so schlecht wie in Deutschland. Lesepatinnen und Integrationslotsen wollen das ändern.


Von Annette Jensen
Die Autorin ist Journalistin in Berlin. Nach den Recherchen zu diesem Artikel ist sie Lesepatin geworden und hat viel Spaß daran.


Langsam fährt Ahmed mit dem Finger über die Buchseite. Wort für Wort entschlüsselt der Drittklässler die Zeichen. Als er "E-Mail" richtig ausspricht, bekommt er ein dickes Lob von Susanne Dammasch. "Das hab ich mir aus der letzten Woche gemerkt", sagt Ahmed stolz und gibt das Buch weiter an Metehan, der neben ihm sitzt und schon ungeduldig auf seinen Einsatz wartet. Bei manchen Wörtern verschlucken die Kinder die Endungen und viele schwierige Wörter buchstabieren sie mehr, als dass sie sie lesen. Geduldig fordert Susanne Dammasch die Achtjährigen dann auf, es erneut zu probieren.

Was steht denn da eigentlich drin?

"Meine Eltern nerven", liest Metehan. "Was heißt nerven?" fragt die junge Frau mit dem dunklen Zopf in die Runde. Weil keines der sechs Kinder es weiß, sucht die Lesepatin selbst nach Umschreibungen und Erklärungen - bis alle verstanden haben, wovon die Rede ist. Nachdem jedes Kind einen Abschnitt entziffert hat, stellt Susanne Dammasch die entscheidende Frage: "Was steht denn eigentlich drin in der Geschichte?" Gemeinsam versuchen nun alle, das herauszufinden und sich gegenseitig zu erklären.

Jeden Dienstagvormittag kommt Susanne Dammasch in die dritte Klasse der Gotzkowsky-Grundschule in Berlin und wird dort stürmisch begrüßt. Vor eineinhalb Jahren hat sie zusammen mit zwei anderen Müttern die Initiative ergriffen, als sie bemerkte, welche Schwierigkeiten die Klassenkameraden ihrer Tochter mit der Sprache hatten. Deren Klassenlehrerin war sofort offen für die Unterstützung - im Gegensatz zu manch anderen Lehrerkollegen.

Gemeinsam überlegen die Mütter und die Lehrerin, wie jedes Kind am besten von der Lesepaten-Stunde profitiert. Schließlich sind ihre Voraussetzungen sehr unterschiedlich. 60 Prozent der Schüler an der Gotzkowsky-Grundschule stammen aus nichtdeutschen Familien; in der dritten Klasse sind Kinder mit zehn verschiedenen Muttersprachen vertreten. Zudem kommen viele aus so genannten "bildungsfernen Elternhäusern". Aber auch ein paar deutsche Akademikerkinder besuchen die Klasse.

Was an der Gotzkowsky-Grundschule selbst organisiert begann, macht inzwischen in Berlin Schule. Anfang 2005 hat sich ein Bürgernetzwerk Bildung gegründet, das systematisch Lesepaten rekrutiert. Die Initiative hat mittlerweile 750 Ehrenamtliche in ihrer Kartei - überwiegend Senioren und zu 90 Prozent Frauen. Ein- bis zweimal wöchentlich sind sie im Einsatz an 43 Grundschulen, die sich fast alle von sich aus beim Bürgernetzwerk gemeldet haben.

Gezielt versucht die Initiative, an die Kinder heranzukommen, die ansonsten keine Unterstützung erhalten. "Je höher der Migrantenanteil, desto besser die Versorgung durch uns", beschreibt die ehemalige Schulsenatorin und heutige Netzwerk-Leiterin Sybille Volkholz die Prioritäten. Damit sie mehr über den Zusammenhang von Lernen und Lesen erfahren, können Lesepaten kostenlos Seminare und Workshops an der Freien Universität besuchen.

Beim Bürgernetzwerk steht die Unterstützung der Kinder beim Selbstlesen im Zentrum. Darüber hinaus gibt es in Berlin inzwischen auch mehrere Initiativen, die Vorlesenachmittage in öffentlichen Bücherhallen oder mit Prominenten organisieren. Der Hintergrund für all diese Aktivitäten ist dramatisch. In der Hauptstadt verlässt ein Viertel der Migrantenkinder die Schule ohne Abschluss - und findet dann meist keinen Job. Die offizielle Arbeitslosenquote von Menschen nichtdeutscher Herkunft lag im November 2005 bei unglaublichen 47,7 Prozent. Allerdings verdienen viele Einwanderer ihr Geld als Selbstständige, so dass der Anteil der Beschäftigungslosen real etwas niedriger liegen dürfte.

Bremer Sommercamp: Nur Theaterspielen reicht nicht

Seit dem PISA-Schock ist klar: Fast nirgends sind die Bildungschancen für Kinder aus Einwandererfamilien so schlecht wie in Deutschland. Viele Erstklässler werden ohne ausreichende Deutschkenntnisse eingeschult und auch anschließend nicht genügend gefördert. Im Vergleich zu erfolgreichen PISA-Ländern wie Finnland arbeiten an deutschen Grundschulen deutlich weniger Lehrer und Sozialpädagogen, während für Oberstufenschüler hierzulande überdurchschnittlich viel Geld da ist.

So verlieren viele Migrantenkinder schon zu Beginn ihrer Schulzeit den Anschluss. Wenn es ab der dritten Klasse darum geht, Texte differenziert zu verstehen, kommen sie nicht mehr mit. Obwohl in Deutschland seit 40 Jahren eine beträchtliche Zahl von eingewanderten Menschen lebt, obwohl Migrantenkinder hier aufwachsen und zur Schule gehen, steht die Forschung über eine sinnvolle Vermittlung von Deutsch als Zweitsprache immer noch am Anfang. Dafür verantwortlich ist ein jahrzehntelanges Versäumnis der Erziehungswissenschaft, die quantitative Leistungsmessungen ablehnte. So blieb lange verborgen, mit welchen Schwierigkeiten Migrantenkinder zu kämpfen haben.

Damit das nicht so bleibt, versucht man in Bremen neue Förderwege. Im PISA-Schlusslicht-Land stammen 36 Prozent der Schüler aus nichtdeutschen Familien. Vor zwei Jahren bot der Senat erstmals ein Sommercamp für 150 Drittklässler aus Migrantenfamilien an - mit finanzieller Unterstützung der Jacobs-Stiftung. In den USA werden solche Sommercamps, die die Sprachkompetenz fördern, seit Jahrzehnten veranstaltet.

"Die Kinder kommen in der Alltagssprache ganz gut zurecht", berichtet Petra Stanat vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung (MPIB), die das Ferienlager wissenschaftlich begleitet hat. Schwierigkeiten hätten dagegen viele Migrantenkinder, wenn etwas nicht in einem konkreten Handlungszusammenhang steht und sie abstraktere Sachverhalte verstehen und beschreiben müssen.

Beim Sommercamp fahren die Kinder jeden Morgen mit dem Bus aufs Land; in der dritten Woche übernachten sie auch im Schullandheim. Sie spielen Theater, tanzen und schwimmen, und sie pauken jeden Tag ein bis zwei Stunden lang Grammatik. Dabei lernen sie zum Beispiel: Das Verb ist der "Chef im Satz".

Referendare und junge Lehrerinnen unterrichten die Kinder. Nur eine Einzige von ihnen hatte eine Ausbildung für Deutsch als Zweitsprache. Erfahrene, beamtete Lehrer waren für diesen Unterricht in den Sommerferien nicht zu gewinnen, wie man aus Bremen hört. "Es war nicht einfach, geeignetes Lehrpersonal zu finden", bestätigt Petra Stanat. Schließlich hätten die meisten Deutschlehrer ihren Schwerpunkt im Studium auf Literaturdidaktik gelegt und nicht auf Deutsch als Zweitsprache.

Aber den Kindern hat das Sommercamp Spaß gemacht. Selbst der Deutschunterricht kam an - die Note "gut" gaben ihm 78 Prozent der Kinder. Bei einem Lesetest drei Monate nach den Sommerferien fanden die Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut heraus: An Grammatik führt kein Weg vorbei. Mädchen und Jungen, die nur am Theaterprojekt teilnahmen, konnten ihre Deutschkenntnisse nicht spürbar verbessern. Dagegen schnitten die Kinder, die neben Theater auch die Grammatikkurse besucht hatten, besser ab. Einmal mehr zeigt sich: Um Texte richtig verstehen zu können, muss man das Verhältnis der Worte untereinander erkennen und diese Dinge auch systematisch trainieren.

Und so wird das Land das Sommercamp künftig für alle Drittklässler aus Problemstadtteilen anbieten. Darüber hinaus gibt es in der Hansestadt inzwischen auch in den Osterferien eine Förderwoche für versetzungsgefährdete Schüler.

Kulturelle Missverständnisse (er)klären

Die Lernchancen von Migrantenkindern verbessern will auch die Offenbacher Wilhelmschule - und setzt dabei auf bessere Zusammenarbeit mit den Eltern. 80 Prozent der Schüler an der Wilhelmschule kommen aus nichtdeutschen Familien, und immer wieder gibt es Missverständnisse zwischen Eltern und Lehrern. So meinen zum Beispiel viele türkische Familien, dass fürs Lernen allein die Schule zuständig ist.

Dagegen erwarten die deutschen Lehrer die aktive Mithilfe der Eltern bei den Hausaufgaben. Doch manche Einwanderer sind des Deutschen so wenig mächtig, dass eine unmittelbare Verständigung mit den Pädagogen nicht klappt. Solche Erfahrungen waren die Grundlage für die Idee, "Integrationslotsinnen" auszubilden.

Vor zweieinhalb Jahren sprach der Offenbacher Schulleiter Uwe Zeyn ein paar Mütter an, die sich schon vorher im Schulalltag engagiert hatten. "Wir sind eine bunte Gruppe. Es gibt Türkinnen, Deutsche, eine Bosnierin, eine Jordanierin, eine Perserin", beschreibt die Türkin Nuriye Baki die Bandbreite der Lotsinnen. Bei einem Vorbereitungslehrgang lernten die Frauen nicht nur das Selbstlernzentrum kennen, sie besuchten auch Erziehungs- und Schuldnerberatungstellen.

Und sie erhielten eine kleine Ausbildung in Gesprächsführung und nahmen gemeinsam mit den Lehrern an einem Workshop teil, bei dem sie kulturell unterschiedliche Erwartungen an Erziehung und Bildung diskutierten. All das wurde finanziert vom Förderprogramm "Lokales Kapital für soziale Zwecke" (LOS) des Bundesfamilienministeriums.

Seit knapp zwei Jahren sind nun die Integrationslotsen im Einsatz. Häufig werden nur ihre Sprachkenntnisse benötigt, doch manchmal geht es auch darum, ob muslimische Mädchen an einer Klassenfahrt teilnehmen können. "Ich versuche, den Müttern die Ängste zu nehmen, indem ich mit ihnen über meine eigenen Ängste und Erfahrungen spreche", sagt Nuriye Baki. Zwar führen solche Interventionen nicht immer zum Erfolg. "Doch es ist schon viel gewonnen, wenn sich die Elternhäuser besser kennen", sagt Lotsin Petra Petschick. Und so haben die Lotsinnen ein Elterncafé eingerichtet.

Die Elternabende werden inzwischen besser besucht - eine wichtige Voraussetzung, damit manche Mütter und Väter überhaupt verstehen, was etwa der Schulwechsel nach der vierten Klasse bedeutet. "Vielen ist überhaupt nicht klar, wie wichtig ein Schulabschluss für die Zukunft ihrer Kinder ist", sagt Barbara Temiztürk, die die Lotsinnenausbildung organisiert hat.

Michael Köditz vom GEW-Kreisvorstand sieht das Projekt als positiv - und doch sei es nur ein "Tropfen auf dem heißen Stein". Sinnvoll wären regelmäßige Hausbesuche der Lehrer bei den Eltern und mehr Freiraum in den Schulen für soziales Lernen. Doch dafür fehle angesichts immer engerer Lehrpläne, zentraler Prüfungsanforderungen und einer wachsenden Arbeitsbelastung einfach die Zeit.

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