zurück
Hochofen Schwelgern 1 in Duisburg Magazin Mitbestimmung

Umstieg: Die Brücke zu neuen Energien wackelt

Ausgabe 02/2022

Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine ist der Umstieg auf erneuerbare Energien nicht mehr nur eine Frage des Klimaschutzes. Deutschland will sich aus der Abhängigkeit von russischem Gas und Öl befreien und drückt nun aufs Tempo bei den Alternativen. Von Kay Meiners, Fabienne Melzer und Andreas Schulte.

Bedrohlich, bizarr und ganz und gar braun ragt der Hochofen Schwelgern 1 in Duisburg hundert Meter trutzig gen Himmel. 3,6 Millionen Tonnen Roheisen erschmilzt der Stahlkoloss pro Jahr. Nächstes Jahr wird er 50 Jahre alt. Zeit, allmählich Abschied zu nehmen. Denn die Technik ist von gestern und pustet Unmengen an Kohlendioxid (CO2) in die Luft.

Für rund zehn Milliarden Euro ersetzt der Stahlkonzern Thyssenkrupp seine vier klassischen Hochöfen am Standort durch neue. Klimaneutraler Wasserstoff (H2) soll dafür sorgen, dass sich das Investment lohnt. Das Gas löst bei der Befeuerung die übliche Kokskohle ab. Doch die Methode ist neu. Niemand hat damit bislang Erfahrungen gesammelt. Eile ist trotzdem geboten. Für die arg angeschlagene Thyssenkrupp-Stahlsparte ist Wasserstoff so etwas wie die letzte Patrone. Oder wie es Betriebsrat Sebastian Balzer ausdrückt: „Wir wollen bis Mitte des Jahrzehnts mit grünem Wasserstoff Stahl herstellen, nur so hat Thyssenkrupp eine Zukunft.“ Denn wer als erster klimaneutralen Stahl produziert, hat auf dem Weltmarkt einen Vorteil.

Der Traditionskonzern ist ein prominentes Beispiel für die Hoffnungen, die auf Wasserstoff ruhen. Der Stoff, aus dem die Träume sind, könnte Teilen der Industrie zur Klimaneutralität verhelfen. Er könnte als verflüssigter Kraftstoff zur Verkehrswende beitragen und Erdgas zum Heizen von Wohnungen ersetzen. Für alle Prozesse, die nicht elektrisch betrieben werden können, ist Wasserstoff eine Alternative. Bei seiner Verbrennung wird nur Wasser frei. Aber bei seiner Produktion gehen etwa 30 Prozent der eingesetzten Energie verloren, und er ist auf der Basis von erneuerbaren Energien bislang nicht rentabel.

Mit Gas wollte die Bundesregierung daher die Brücke bauen von den fossilen Brennstoffen zu den erneuerbaren Energien. Doch seit dem Krieg in der Ukraine wackelt diese Brücke. Die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen ist keine reine Frage des Klimaschutzes mehr. Schon die Spekulation darüber, ob die Versorgung unterbrochen werden könnte, hat die Energiepreise in die Höhe getrieben. Kostete die Kilowattstunde Gas 2021 noch 6,47 Cent, hat sich der Preis 2022 auf 11,84 Cent fast verdoppelt. Energieintensive Betriebe wie Glashütten und Stahlwerke schalten ihre Produktion zeitweise ab, weil die Energiekosten die Einnahmen übersteigen. Der Krieg zeigt, dass fossile Brennstoffe teurer erkauft sein könnten als der Umstieg auf erneuerbare Energien. Daher fordert DGB-Chef Reiner Hoffmann neben einer kurzfristigen Entlastung von Privathaushalten und Unternehmen, die Handbremse bei der Energiewende zu lösen. Damit Deutschland schnell von fossilen Energien unabhängig wird, müsse der Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft beschleunigt werden. Angesichts der derzeitigen Gaspreise könnte Wasserstoff nach Einschätzung des Vereins Agora Energiewende auch schneller wettbewerbsfähig werden.

Keine Denkverbote

Der Vorsitzende der IG BCE, Michael Vassiliadis, plädiert ebenfalls für mehr Tempo bei alternativen Energien: "Die Erneuerbaren schneller und intensiver auszubauen ist seit Langem nötig und nun noch wichtiger.“ Er weist aber darauf hin, dass dies in der derzeitigen Situation nicht ausreiche, und fordert einen Energiegipfel ohne Denkverbote. „Wir brauchen alles an Energie, was wir kriegen können“, sagt Vassiliadis.

Deshalb müsse seiner Ansicht nach eine Diskussion geführt werden über gedeckelte Energiepreise, längere Laufzeiten für die drei in Deutschland verbliebenen Kernkraftwerke, die Ende dieses Jahres abgeschaltet werden sollten, und über Fracking im eigenen Land: „Wenn darüber nachgedacht wird, Flüssigerdgas aus den USA zu beziehen, das oft aus Fracking-Quellen stammt, verstehe ich nicht, warum das nicht auch in Norddeutschland gemacht werden darf.“ In der akuten Situation helfe zudem nur eine koordinierte Beschaffung und Verteilung von Energie im europäischen Maßstab. „Wir müssen uns als EU zusammenraufen, unabhängiger machen und die Krise als Chance nutzen: Entwickeln wir so etwas wie einen energiepolitischen Schengen-Raum“, sagt Vassiliadis. Mit mehr Geld und schnelleren Genehmigungsverfahren könnten Länder wie Portugal und Griechenland stärker in Windräder und Solarparks investieren und einen Teil des Stroms verkaufen. „Das hilft den Ländern im Süden, und das hilft uns“, sagt der IG BCE-Vorsitzende.

Wie Wasserstoff grün wird

Bevor die Industrie sich mit Wasserstoff aus der Abhängigkeit von russischem Gas befreien und CO2-frei werden kann, muss der Ausbau von Wind- und Solarenergie vorankommen. Denn Wasserstoff wird mithilfe von Strom hergestellt. Ist er nicht grün, ist der Wasserstoff nicht klimaneutral. Derzeit werden nur fünf Prozent des Stoffs in Deutschland aus erneuerbaren Quellen gewonnen. Auch insgesamt ist der Anteil von Wasserstoff am Energiemix zurzeit noch verschwindend gering, und er wird auch auf Dauer nicht den Löwenanteil der Energieversorgung ausmachen. Europäische Szenarien rechnen mit einem Anteil zwischen 16 und 25 Prozent im Jahr 2050. Genauso einig sind sie sich allerdings darin, dass eine Industrieproduktion ohne fossile Energien nur mit Wasserstoff gelingen kann. Doch es wird etliche Milliarden kosten, Wasserstoff möglichst rasch im Energiemix zu verankern. Allein die deutsche Stahlbranche schätzt die erforderlichen Investitionen auf 30 Milliarden Euro. Die Politik will helfen. Das Wirtschaftsministerium gibt üppige Projektförderungen. Zudem hat Berlin zugesagt, den teureren klimaneutralen Stahl aus Deutschland vor Billigimporten zu schützen. Das Schreckensszenario: ein Branchentod, wie ihn die einst weltweit führende deutsche Solarbranche starb.

  • Thomas Ahme, Betriebsratsvorsitzender bei Siemens

„Wasserstoff kann unser zweites Standbein werden“ Thomas Ahme, Betriebsratsvorsitzender Siemens

Ausbau läuft schleppend

Strom aus erneuerbaren Energiequellen wird jedoch nicht in erster Linie für Wasserstoff gebraucht. Er soll außerhalb der Industrie den Hauptanteil der Versorgung übernehmen. Dabei setzt Deutschland vor allem auf Wind. Doch der Ausbau der erneuerbaren Energien lief in den vergangenen Jahren sehr schleppend. Der Energieverband BDEW hält von heute an bis 2030 pro Jahr rund 1500 neue Windräder allein an Land für nötig, um die Klimaziele zu erreichen. Tatsächlich waren es 2021 aber nur 500 Anlagen. Vor allem neue Ausschreibungspflichten und größere Abstandsregeln zur Wohnbebauung haben die Zulassungsverfahren erschwert. In der Folge seien laut Thomas Ahme, Betriebsratsvorsitzender bei Siemens Gamesa in Hamburg, in der Branche seit 2015 rund 50 000 Arbeitsplätze verloren gegangen.

Wie eng verknüpft die Wasserstoffwirtschaft mit dem Ausbau der Erneuerbaren ist, zeigt das Beispiel von Siemens Gamesa. Dem Windradhersteller ist es in Dänemark gelungen, einen Elektrolyseur zur Herstellung von Wasserstoff vollständig in eine Windkraftanlage zu integrieren. Mit dem daraus gewonnenen grünen Wasserstoff sollen Taxis in der Hauptstadt Kopenhagen fahren. „Wasserstoff kann unser zweites Standbein werden“, sagt Ahme. Der Betriebsratsvorsitzende hält sogar einen „Beschäftigungsschub“ für möglich – nicht nur in der Wasserstoffsparte. „Der Bedarf an grünem Wasserstoff kann dazu führen, dass wir rund ein Drittel mehr Windräder bauen“, schätzt er. In der Belegschaft allerdings löse dies noch keine Euphorie aus. „Für viele ist das noch weit weg. Der Windkraft-Ausbau lief zuletzt zu schleppend.“

Weiter abhängig von Importen

Wie viele Jobs in der aufkeimenden Wasserstoffwirtschaft entstehen werden, ist noch ziemlich unklar. Eine von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studie geht allein für die Wasserstoffwirtschaft von 470 000 benötigten Arbeitskräften aus. Laut einer Untersuchung des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie und des Beratungsunternehmens DIW Econ könnten in dieser und angrenzenden Branchen bis zum Jahr 2050 bis zu 800 000 Arbeitsplätze entstehen – etwa in der Produktion von Elektrolyseuren, bei der Infrastruktur für die Verteilung des Gases oder im Verkehrswesen rund um H2-betriebene Autos. Dies würde allerdings voraussetzen, dass fast alle Jobs entlang der Wasserstoff-Wertschöpfungskette in Deutschland entstünden.

Doch danach sieht es nicht aus. Auch Wirtschaftsminister Robert Habeck hält die Produktion von erneuerbarer Energie allein in Deutschland für nicht ausreichend. „Wenn wir nicht fünf oder zehn Prozent der Landesfläche mit Windkraftanlagen vollstellen wollen – das halte ich für absurd –, brauchen wir Importe von Wasserstoff.“ Zwei Prozent der Fläche in Deutschland will die Bundesregierung für Windenergieanlagen reservieren und das gesetzlich verankern. Bislang sind 0,8 Prozent der Fläche dafür vorgesehen. Mit zwei Prozent will die Ampelkoalition den Anteil Erneuerbarer bis 2030 sogar auf 80 Prozent hochschrauben. Wie viel davon Windräder letztendlich bedecken, hängt auch von ihrer Leistungsstärke ab, und die entwickelt sich rasant. Das Tempo erinnert Ahme an den Wettlauf bei Computern: „Es herrscht ein enormer Kostendruck. Die Anlagen müssen immer leistungsstärker werden. Zurzeit stellen wir in Cuxhaven die Produktion von acht auf elf Megawatt um. Einen Prototyp der nächsten Generation mit 14 Megawatt gibt es schon.“ Für diese kurzen Entwicklungszyklen brauchten alle Hersteller Planungssicherheit, um die Energiewende umzusetzen.

Flüssiggas aus Katar

Bei Wasserstoff setzt die Bundesregierung auch auf Importe und hat dafür 900 Millionen Euro an Förderungen bewilligt. Ende März reiste Habeck nach Abu Dhabi, um die Zusammenarbeit mit den Vereinigten Arabischen Emiraten bei der Forschung und Produktion von Wasserstoff zu vertiefen. Außerdem hat Deutschland nach den Worten des Wirtschaftsministers eine Energiepartnerschaft mit Katar abgeschlossen – dem größten Lieferanten von Flüssigerdgas und umstrittenem Ausrichter der Fußballweltmeisterschaft in diesem Jahr. Bereits Ende Februar hatte die Bundesregierung den Bau von zwei Flüssiggasterminals angekündigt.

Zugleich schraubt die Bundesregierung an der heimischen Produktion von grünem Wasserstoff und hat das Ausbauziel für Elektrolyseure bis 2030 gegenüber dem bisherigen Ziel auf zehn Gigawatt Leistung verdoppelt. Damit könnte rein rechnerisch die gesamte Stahlindustrie in Deutschland versorgt werden.

Die Gewerkschaft IG BCE pocht zusätzlich auf den Bau neuer Gaskraftwerke, um den Ausbau bis zum Ende des Jahrzehnts zu verdoppeln. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz plädierte bereits vor dem russisch-ukrainischen Krieg für den Bau weiterer Gaskraftwerke. Zu neuen Ehren kommt auch die Kohle. Sie erlebte schon 2021eine Renaissance. Weil der Gaspreis bereits im vergangenen Jahr gestiegen war, wurde mehr Kohle verstromt. Der Ausstieg soll 2038 kommen, aber die neue Regierung hat sich zum Ziel gesetzt, ihn idealerweise schon 2030 zu schaffen. „In der jetzigen Lage haben wir im Idealfall überhaupt genug Energie aus allen verfügbaren Quellen, die unseren Bedarf sichern. Daher sollte es bei der derzeitigen Gesetzeslage bleiben“, sagt Vassiliadis.

Die Preisentwicklung für fossile Energieträger habe längst Ausmaße angenommen, die auch bei Durchschnittsverdienern große Löcher in die Haushaltsbudgets reißt. Vassiliadis begrüßt, dass die Ampelkoalition ein Entlastungspaket vorgelegt hat, wie es die IG BCE bereits seit Wochen gefordert hatte. Die Industriegewerkschaft hatte bereits im Januar das Konzept eines pauschalen Energieschecks vorgeschlagen. "Die 300 Euro Zuschuss pro Erwerbstätigen als Energiepreispauschale werden die zu befürchtenden Mehrkosten für Strom und Wärme zwar nur zum Teil abdecken – aber zusammen mit anderen Elementen des Pakets ist das weit mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein“, sagte Vassiliadis. Er mahnte zugleich an, auch die Industrie vor explodierenden Preisen und drohenden Versorgungsengpässen zu schützen.

  • Wasserstofftankstelle in Bochum
    Eine Wasserstoffladesäule am Thyssenkrupp-Werk in Bochum
  • Solarpanele
    Von sieben auf 20 Gigawatt soll der jährliche Zuwachs von Solarenergie ab 2028 steigen.
  • Braunkohletagebau Inden
    Braunkohletagebau und -kraftwerk – wie hier am Niederrhein – gehören 2038 der Vergangenheit an.

Aufs Tempo drücken

Der Bundeswirtschaftsminister will nun offenbar bei den erneuerbaren Energien aufs Tempo drücken. Laut einem Entwurf der Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) sollen Wind- und Solarenergie in den kommenden Jahren deutlich zulegen. Der jährliche Ausbau der Windkraft an Land soll von etwa drei Gigawatt im Jahr 2022 auf zehn Gigawatt ab 2026 steigen, bei Solarenergie von derzeit sieben auf 20 Gigawatt ab 2028. Die Nutzung erneuerbarer Energien liege laut Entwurf im öffentlichen Interesse und diene der öffentlichen Sicherheit. Nach Ansicht des Bundesverbands Erneuerbare Energie reiche das allerdings nicht aus, um die Versäumnisse der vergangenen Jahre aufzuholen.

Mehr Wind- und Solaranlagen reichen für den Umstieg allerdings nicht aus. Energie aus Sonne und Wind steht nicht immer gleichmäßig zur Verfügung. Stromnetze und -speicher müssen ausgebaut werden, um die Energie bedarfsgerecht zu verteilen. An dieser Stelle kommt auch der Wasserstoff wieder ins Spiel. Nach Ansicht des Vereins Agora Energiewende ist er dank seiner vielen Anwendungen außerhalb des Stromsektors möglicherweise als Speicher besser geeignet als jede andere Technologie.

Attraktiv durch moderne Technik

Thyssenkrupp entwickelt neben neuen Hochöfen einen Elektrolyseur für grünen Wasserstoff. In der Modernisierung der Hochöfen sieht auch Betriebsrat Balzer eine große Chance – nicht nur für die Klimawende: "Durch die innovative Technik gewinnen wir als Arbeitgeber neue Attraktivität und locken junge Leute an. Ältere Kollegen können dann früher in den Ruhestand.“ Längst sind Qualifizierungen angelaufen, um Teile der Belegschaft fit zu machen für die neue Technik.

Doch Balzer weiß, ohne fremde Hilfe wird es nicht gehen. Die Hoffnungen ruhen auch auf der neuen Bundesregierung. Anfang März hat Wirtschaftsminister Robert Habeck Thyssenkrupp besucht. „Er hat glaubhaft Unterstützung zugesichert“, erzählt Balzer. Doch selbst mit einer milliardenschweren Anschubfinanzierung ist es nicht getan. Der grüne Stahl ist teurer als konventionell produzierter. Solange Hersteller in anderen Ländern klassische Hochöfen betreiben, hat grüner Stahl auf dem Weltmarkt keine Chance. Die Politik muss auf Jahre hinaus helfen, die Lücke zu schließen.

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrem Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen