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Magazin Mitbestimmung

Von ANDREAS MOLITOR: Verkaufsoffene Sonntage: Viele sind illegal

Ausgabe 03/2017

Thema Jedes Jahr wird tausendfach das Recht gebrochen, das für die Sonntagsruhe sorgen soll. Die Gewerkschaft ver.di kämpft dagegen. Die meisten Fälle landen bei einem Leipziger Anwalt.

Von ANDREAS MOLITOR

Kay Lipka hatte es sich nie zum Ziel gesetzt, auf der Unbeliebtheits-Rangliste der Essener Kaufleute eine Spitzenposition zu erklimmen. Ein wenig ratlos steht der für Handel zuständige ver.di-Sekretär der Ruhrgebietsstadt nun vor den Folgen seines Tuns. Er sollte sich derzeit besser nicht in den Essener Geschäften blicken lassen, zumindest nicht mit einem ver.di-Anstecker am Revers. Seit er im Namen seiner Gewerkschaft höchst erfolgreich gegen sämtliche für dieses Jahr geplanten 28 verkaufsoffenen Sonntage im Stadtgebiet geklagt hat, gilt er bei der Kaufmannschaft als Persona non grata. Mitte März entschied das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, dass keine einzige der vorgesehenen Sonntagsöffnungen stattfinden darf – weder in der City noch in den Stadtteilen Rüttenscheid, Steele, Werden, Borbeck, Kettwig, Kupferdreh und Altenessen. Entsprechend groß war nach dem Urteil das Lamento des örtlichen Einzelhandels. Die verkaufsoffenen Sonntage seien die umsatzstärksten Tage des Jahres, argumentierten die Kaufleute, außerdem belebten sie die an Sonntagen meist wie ausgestorben daliegenden Flaniermeilen.

Der Sündenbock war schnell gefunden. „Wie die Gewerkschaft Stadtbezirke veröden lässt“, titelte die Westdeutsche Allgemeine. Gewerkschaftssekretär Lipka wird manchmal gefragt, wie man denn die Rolle des Buhmanns nun wieder loswerden könne. „Eigentlich gar nicht“, sagt er ein wenig verzweifelt. „Ich kann ja in gewisser Weise sogar verstehen, dass die Händler jetzt bockig sind. Aber wir sind doch nicht Schuld, wenn die Stadt Essen es nicht schafft, sich an Recht und Gesetz zu halten.“

Koalition mit der Kirche

In einer ähnlichen Spielverderberrolle sehen sich ver.di-Sekretäre derzeit vielerorts in deutschen Landen. Im Verein mit den Kirchen hat die Gewerkschaft eine groß angelegte Kampagne gegen die sonntäglichen Ladenöffnungen ins Rollen gebracht und in etlichen Städten Klagen angestrengt. So wie einst Jesus die Händler aus dem Tempel vertrieben haben soll, widersetzt sich ver.di jetzt der schleichenden Metamorphose des heiligen Sonntags zum schnöden Einkaufstag. „Der Sonntagsschutz ist keine Lappalie“, erklärt Stefanie Nutzenberger, im ver.di-Bundesvorstand verantwortlich für den Handel, die Klagewelle, „er ist ein elementar wichtiges Werkzeug, um Beschäftigte vor der immer größeren Vermischung von Freizeit und Arbeit zu schützen.“ Die Interessen eines Großteils der Einzelhandels-Beschäftigten verortet sie klar auf ihrer Seite – und die Rechtsprechung sowieso.

Der Leipziger Arbeitsrechtler Friedrich Kühn, der die meisten Verfahren für ver.di führt, auch jenes in Essen, kann sich „nicht an einen einzigen Prozess in Sachen Einkaufs-Sonntag aus den vergangenen zwei Jahren erinnern, den wir verloren haben“. Eine Bastion der Sonntags-Shopper nach der anderen fällt. Während sich in Essen die Einzelhändler noch die Wunden leckten, hatte die Gewerkschaft schon nachgeladen und Klage gegen die verkaufsoffenen Sonntage in Duisburg eingereicht. Zuvor hatten die Gerichte schon Sonntags-Öffnungen unter anderem in Frankfurt, München, Stuttgart, Hannover, Düsseldorf, Münster und Oberhausen gekippt. Manche Kommunen ziehen angesichts der aus ihrer Sicht aussichtslosen Prozesse von sich aus die Notbremse. Köln (Foto oben) reduzierte die Zahl der Sonntagsöffnungen von 36 auf sieben; Ascheberg, Ibbenbühren, Paderborn und Senden sagten sämtliche verkaufsoffenen Sonntage ab, im niederrheinischen Rees muss statt am Primelsonntag notgedrungen am Primelsamstag geshoppt werden.

Andere Gemeinden machen sich – nicht ganz unberechtigt – Hoffnung, dass sie unerkannt durchkommen. „Allein in Bayern gab es im vergangenen Jahr knapp 1000 Sonntagsöffnungen“, schätzt Rechtsanwalt Kühn, „da kann man nicht überall hinterher sein.“

Das Recht ist unübersichtlich

Die Rechtslage ist ausgesprochen unübersichtlich. Seit 2006 sind die Ladenöffnungszeiten Ländersache. Je nach Bundesland dürfen die Gemeinden oder Stadtteile zwischen vier und elf Sonntage im Jahr für den Kommerz freigeben, allerdings nur „aus besonderem Anlass“ – eine puddingweiche Formulierung, die von den Befürwortern eines immerwährenden Einkaufsvergnügens als Trojanisches Pferd genutzt wird. Bundesweit habe sich „eine sehr laxe und großzügige Praxis zur Genehmigung von Sonntagsöffnungen eingeschlichen“, urteilt Arbeitsrechtler Friedrich Kühn. „Zwei Bratwurstbuden und ein Kinderkarussell heißen Stadtteilfest – und das reicht dann als Anlass, die Läden zu öffnen.“

Findige Agenturen organisieren, zack, zack, im Auftrag der Gewerbetreibenden Alibi-Veranstaltungen. In Essen musste selbst die Stadtverwaltung einräumen, dass in der Vergangenheit in manchen Fällen der Anlass für die sonntägliche Öffnung nicht im Ansatz ausreichend war. So fand das Weinschmecker-Festival in Altenessen im vorigen Jahr überhaupt nicht statt (die Läden waren trotzdem geöffnet), beim Frühlingsfest in Frohnhausen zählten die Kontrolleure des Ordnungsamtes einen Würstchenstand und eine Kaffeebude.

Die Gewerkschaft und die Kirchen, geplagt von der Vorstellung, dass die Sonntagsruhe zusehends ausgehöhlt und der siebte Tag der Woche in deutschen Fußgängerzonen und Malls zur Regelarbeitszeit wird, wollten die Sache gerichtlich klären lassen. Insbesondere die Gewerkschaft hat die Rechtsprechung mit ihren Klagen vorangetrieben. Als Meilenstein in Sachen Sonntagsöffnung gilt eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom November 2015. Eingebettet in schönste Juristenprosa („Rhythmisch wiederkehrende Tage kollektiver Arbeitsruhe und die damit verbundene synchrone Taktung des sozialen Lebens …“) verpassten die Richter den Kommunen und den Einzelhändlern ein äußerst straff geschnürtes Anforderungskorsett und beendeten insbesondere die gern geübte Praxis der Alibi-Anlassfestivitäten.

Bei künftigen verkaufsoffenen Sonntagen müsse die „Wirkung der Märkte, Messen oder ähnlichen Veranstaltungen gegenüber der typisch werktäglichen Geschäftigkeit der Ladenöffnung im Vordergrund stehen“; die Ladenöffnung dürfe also nicht mehr sein als ein „bloßer Annex“ zur Festivität. Außerdem müsse „der Besucherstrom, den der Markt für sich genommen auslöst, die Zahl der Besucher übersteigen, die allein wegen der Öffnung der Verkaufsstellen“ kommen. Um dies nachzuweisen, müssen exakte Besucherprognosen erstellt werden, wozu sich die meisten Kommunen nicht in der Lage sehen. Nicht zuletzt spricht das Gericht von der Möglichkeit, bei „auf bestimmte Handelszweige beschränkten Märkten“ eine Ladenöffnung „nur für dieselben Handelszweige“ zu genehmigen. In geradezu absurd anmutender Konsequenz heißt dies, dass beispielsweise beim Wormser Mantelsonntag, vor Jahrhunderten geschaffen, um den Bauern den Einkauf von Winterbekleidung in der Stadt zu ermöglichen, streng genommen nur Mäntel verkauft werden dürfen. Oder anlässlich des Heisinger Wottelfestes (Wotteln sagt man im Ruhrgebiet zu Möhren) nur Möhren oder Möhrensaft.

Druck der großen Einkaufszentren

„Realistisch gesehen, bedeutet die derzeitige Rechtslage das Ende der verkaufsoffenen Sonntage“, resümiert Marc Heistermann, Geschäftsführer des Handelsverbands Nordrhein-Westfalen Ruhr. Die Verantwortlichen in den Kommunen wissen mittlerweile, welches Damoklesschwert über ihren Sonntagsöffnungen schwebt. Die Essener Stadtverwaltung etwa wies in der Ratsvorlage ausdrücklich auf ein „erhebliches Prozessrisiko“ hin – und plädierte trotzdem dafür, alle 28 geplanten Verkaufssonntage unbeirrt durchzuziehen. In vielen Fällen seien die Kommunen „wohl auch nicht gänzlich frei in ihren Entscheidungen“, vermutet Friedrich Kühn, „nicht selten beugen sie sich dem Druck beispielsweise großer Einkaufszentren.“

Immer wieder muss die Gewerkschaft sich jetzt fragen lassen, ob ihr denn die Malaise des vielerorts notleidenden Einzelhandels – und die Interessen der Beschäftigten, darunter viele verdi-Mitglieder – völlig egal ist. Ver.di-Vorstand Stefanie Nutzenberger findet derlei Anwürfe „absurd“: „Die Probleme des stationären Handels und der verödenden Innenstädte werden nicht durch mehr Sonntagsöffnungen gelöst.“ Was zweifellos stimmt. Andererseits stehen die Läden in Konkurrenz zum Internet-Shopping, wo ein jeder sieben Tage die Woche rund um die Uhr an den virtuellen Schaufenstern entlangschlendern und bestellen kann.

Besonders die Einzelhändler im Ruhrgebiet verweisen auf die nahe Konkurrenz aus Holland, auf das Designer Outlet-Center in Roermond etwa, in knapp einer Stunde erreichbar und bis auf den ersten Weihnachtstag und Neujahr täglich geöffnet. Rechtlich seien solche Argumente irrelevant, sagt ver.di und verweist auf eine wegweisende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 2009: „Bloße wirtschaftliche Interessen von Verkaufsstelleninhabern und alltägliche Erwerbsinteressen der Käufer für die Ladenöffnung genügen grundsätzlich nicht.“ Klarer kann es nicht gesagt werden.

Ein heikler Spagat

Trotzdem bleibt die Kampagne gegen die Sonntagsöffnung und damit auch gegen die weitere Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse – auch für ver.di – ein heikler Spagat; nicht immer dürfte sie im Interesse der eigenen Mitglieder liegen. Zwar haben viele Händler, wie Stefanie Nutzenberger zu Recht kritisiert, die „immer weiter ausgedehnten Öffnungszeiten vorrangig über mehr Minijobs oder unfreiwillige Teilzeit ausgedehnt“. In vielen tarifgebundenen Unternehmen allerdings ist die Sonntagsarbeit beim Verkaufspersonal ausgesprochen beliebt – jedenfalls wenn sie auf freiwilliger Basis erfolgt und mit Zuschlägen von bis zu 30 Prozent und großzügigem Freizeitausgleich vergütet wird. Wo die Gewerkschaft klagt, ist Schluss damit. Handelsverbands-Geschäftsführer Heistermann wundert sich, „dass es bei ver.di intern nicht längst mächtig rumort.“

Bislang ist übrigens nur ein Fall bekannt, in dem eine Kommune den – rechtlich ganz sicher nicht wetterfesten – Weg beschritt, den ein sonntagsshopping-affiner Kommentator der Westdeutschen Allgemeinen kürzlich vorschlug: „Man sollte den mündigen Bürger entscheiden lassen, ob er sonntags lieber ausruhen oder sich beim Einkaufen verwirklichen möchte.“ In Münster ist das geschehen. Im vergangenen November wurden die Bürger zu einem Votum pro oder kontra Sonntagsöffnung an die Urne gerufen. Mit einer Mehrheit von 53 Prozent entschieden die Münsteraner, dass sie sonntags nicht shoppen wollen. Rechtsanwalt Friedrich Kühn wusste, dass er eine Klageschrift weniger verfassen muss.

Fotos: dpa, Christiane Eisler/transit

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