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Magazin Mitbestimmung

Kontraktlogistik: Unterwegs zum Metall-Tarif

Ausgabe 01/2016

Sie arbeiten im gleichen BMW-Werk in Dingolfing, machen das Gleiche nur zu weit weniger Lohn – wenn sie beim Logistiker Schnellecke angestellt sind. Dass das ein Ende hat, darauf haben sich Gesamtbetriebsrat und BMW-Konzernleitung verständigt, seit Januar gilt Metall-Tarif. Von Michaela Namuth

Wenn sich die Betriebsräte aus der Montagehalle 50 des BMW-Werks Dingolfing auf den Weg in Richtung Übergabebahnhof machen, sind sie immer in besonderer Mission unterwegs. Die neue Halle­ hinter dem Übergang VZ-2 war bis vor Kurzem Niemandsland, das sie eigentlich nicht betreten sollten. Ihr Einflussbereich endete an der gelben Grenzlinie. Der bayerische Automobilhersteller hat dem Logistik-Dienstleister Schnellecke aus Wolfsburg kraft eines Werkvertrages eine Halle auf seinem Gelände abgetreten, um dort ein sogenanntes Sequenzierzentrum zu betreiben. Die Beschäftigten des Dienstleisters holen die Komponenten der BMW-Zulieferer aus endlos langen Regalen, sortieren sie zu Bausätzen und transportieren diese zur Übergabe an die Montagestrecke. „Früher wollten die Leute nicht mit uns reden. Sie hatten Angst“, erklärt Peter Siedersberger, Betriebsrat des Montagebereichs von BMW.

Das hat sich jetzt geändert. Siedersberger begrüßt einen der Gabelstaplerfahrer, die heute Routenzugfahrer heißen, mit Handschlag. Der Mann trägt die orangefarbene Schnellecke-Weste. Sie besprechen kurz ein paar Angelegenheiten. Hermann Reisinger ist seit April 2015 Vertrauensmann der IG Metall. Er biegt mit seinem Anhänger gekonnt um die Kurve, lässt sachte ein Gestell mit gefüllten Plastikkisten, den sogenannten Sequenzbehältern, auf den Boden gleiten und stellt es in einer Reihe von ebensolchen Gestellen hinter der gelben Linie ab. Die Fracht befindet sich nun auf dem Gelände des Automobilherstellers, dem sogenannten Übergabebahnhof. Dort wird sie von BMW-Fahrern abgeholt. „Nach Werkvertrag dürfen wir keinen Kontakt zu den Kollegen haben“, sagt Reisinger und steigt aus seiner winzigen Fahrerkabine. Die Arbeitsbereiche müssen getrennt bleiben, denn in puncto Arbeitsbedingungen und Entlohnung leben die Beschäftigten der Logistik-Dienstleister in einer anderen Welt als die BMW-Belegschaft. Dabei verrichten sie dieselben Tätigkeiten in demselben Werk und können somit ein Recht auf denselben Tarifvertrag einfordern.„Schluss mit der Mehrklassengesellschaft im Betrieb“

Diesen sollen sie nun auch bekommen. Darauf haben sich BMW-Konzernleitung und Gesamtbetriebsrat im Juli 2015 in einem Memorandum of Understanding geeinigt. Der Autohersteller will Logistikdienstleistungen in der Fahrzeug- und Komponentenfertigung künftig nur noch an externe Unternehmen vergeben, wenn diese für ihre Beschäftigten mit der IG Metall einen Tarifvertrag ausgehandelt haben. Damit soll die Auslagerung von Arbeit aus den Stammbetrieben gebremst werden. „Es gibt immer öfter Fälle von Zweiklassengesellschaften unter Beschäftigten innerhalb einer einzigen Wertschöpfungskette: auf der einen Seite gute Arbeit durch Tarifbindung, auf der anderen wesentlich schlechtere oder gar prekäre Konditionen“, erklärt Jürgen Wechsler, Bezirksleiter der IG Metall in Bayern. Das Memorandum ist für ihn und seine Gewerkschaft ein wichtiger Schritt, die Praxis der unkontrollierten Werkverträge in der Automobilindus­trie einzudämmen. Voraussetzung ist allerdings, dass die Firmen mit Tarifbindung nach Ablauf ihres zwei- oder dreijährigen Werkvertrages gegenüber Billiganbietern nicht benachteiligt werden. „Es geht um die Qualität der Beschäftigung, aber auch um die Qualität des Produkts“, erklärt Thomas Zitzelsberger, Betriebsrat in der Montage­ in Dingolfing und Vorsitzender der IG-Metall-Vertrauensleute.

Auch er muss sich seit ein paar Jahren mit dem Phänomen der Werkverträge herumschlagen. „Die Auslagerung ist hier am Standort weniger fortgeschritten als beispielsweise in dem neueren BMW-Werk in Leipzig, wo die Zulieferer auf dem Gelände eigene Hallen haben. Aber der Trend geht überall in dieselbe Richtung“, sagt er. Zitzelsberger erklärt, dass man hier im niederbayrischen Dingolfing die Autos noch vollständig selbst bauen könnte und nur auf die Elektronikteile von außen angewiesen ist. Das Problem sei hingegen die zunehmende Individualisierung der Pkw. „Für fast jeden Wagen benötigt man heute individuelle Bausätze. Die Zusammenstellung ist zeit- und somit kostenaufwendig und wird deshalb an externe Dienstleister vergeben, die Billigverträge abschließen“, so Zitzelsberger. 

Auf dem Gelände von BMW Dingolfing arbeiten derzeit nach Angaben des Betriebsrats zwölf bis 15 Prozent der gut 19 000 Beschäftigten mit Werkverträgen, für die es oft keine Tarifbindung gibt. In seinem Büro – direkt am Montageband der Halle 50 – breitet Zitzelsberger eine Karte der IG Metall aus. Darauf die Unternehmen, mit denen BMW in Dingolfing Werkverträge abgeschlossen hat und deren Namen die wenigsten Autokäufer kennen. Zur Liste gehören Kuehne + Nagel, Johnson Controls, Brose, Zettl, T-Systems und Lear Corporation. „Schluss mit der Mehrklassengesellschaft im Betrieb!“, steht darunter. Im Betriebsratsbüro anwesend ist, wie so oft, auch Benjamin Freund von der IG Metall Landshut. „Bei BMW und anderen Autoherstellern bekommen die Leiharbeiter aufgrund von Branchen- und Haustarifverträgen inzwischen denselben Grundlohn wie die Stammbeschäftigten. Das haben wir mit den Betriebsräten durchgesetzt. Die Werkverträge hingegen werden zwischen Hersteller und Dienstleisterfirmen abgeschlossen, die nun ihrerseits Leiharbeiter beschäftigen“, erklärt er.

Tarifpolitisches Neuland

Angesichts dieser komplexen Realität hält seine Gewerkschaft den jüngsten Gesetzentwurf der Regierung gegen Missbrauch von Leiharbeit und Werkverträgen für unzureichend. Die Werkverträge bleiben nach wie vor von den Mitbestimmungsrechten der Betriebsräte im Stammwerk ausgeschlossen. „Dabei wäre dies ein entscheidendes Instrument, um den Vertragswildwuchs einzudämmen“, sagt Freund. Er legt eine Aufstellung der Beschäftigtengruppen auf den Tisch, die sich inzwischen auf dem Gelände in Dingolfing tummeln. Nach Stundenlohn teilen sie sich folgendermaßen auf: Der Stammmitarbeiter von BMW verdient 19,21 Euro, der Leiharbeiter bei BMW 16,85 Euro, die Werkvertragsmitarbeiterin auf dem BMW-Gelände bekommt 9,55 Euro und der Leiharbeiter des Werkvertraglers 8,80 Euro – bei gleicher Tätigkeit. „Das sind neue Realitäten, für die wir auch neue Strategien brauchen. Mit den Betriebsräten von BMW arbeiten wir uns von Dienstleister zu Dienstleister vor“, sagt Freund. Der neue IG-Metall-Tarifvertrag, der seit Januar bei Schnellecke gilt, ist für ihn ein erster, wichtiger Schritt.

„Bei Schnellecke funktioniert die Zusammenarbeit inzwischen gut. Wir haben Vertrauen aufgebaut“, bestätigt auch Betriebsrat Zitzelsberger. Im März 2015 haben die rund 350 Beschäftigten einen Betriebsrat gewählt, der sich zuvor in IG-Metall- und ver.di-Mitglieder aufgespalten hatte. Nach Verabschiedung des Dienstleister-Memorandums bei BMW machte ver.di einen Schritt zurück und überlässt nun das Terrain der IG Metall, die in ihren Tarifverträgen höhere Stundenlöhne abschließen kann als die Transportbranche. „Ohne das Memorandum wäre alles viel schwieriger gewesen. In unserer Chefetage haben sie verstanden, dass es für sie besser ist, eine einzige statt 20 Gewerkschaften auf dem Gelände zu haben“, sagt Zitzelsberger.

Im Gegenzug übernehmen er und seine Leute­ die Koordinierung zwischen den BMW-Betriebsräten und den neuen Betriebsräten der Werkvertragler. „Wenn mehrere Firmen auf dem Werksgelände einen Betriebsrat haben, müssen wir die Termine der Betriebsversammlungen absprechen, damit nicht mehrmals im Jahr die ganze Produktion lahmgelegt wird“, so der Betriebsrat. Er ist jetzt noch mehr unterwegs als früher, das Telefon klingelt ununterbrochen. „Netzwerken“ und „Organizing“ sind die Begriffe, mit denen er seine Tätigkeit als Arbeitnehmervertreter beschreibt. „Wir konfrontieren uns mit neuen Realitäten, die die Gesetzgebung gar nicht vorsieht. Deshalb müssen sich die Gesetze ändern“, sagt er.Hartnäckige Betriebsräte bauen neue Fundamente

Denn draußen auf dem Werksgelände tauchen immer wieder neue Firmennamen auf. Oft ist die erste Kontaktaufnahme für die Belegschaftsvertreter von BMW ein frustrierendes Erlebnis. „Wir haben hier ein Unternehmen, bei dem alle Beschäftigten zunächst ein halbes Jahr Probezeit überstehen müssen. Wenn man dort auftaucht, haben sie sogar Angst, dich anzuschauen“, erzählt Zitzelsbergers Betriebsratskollege Siedersberger. Er hat inzwischen seinen Besuch bei Schnellecke beendet und marschiert entlang der Transportstrecke zurück ins Betriebsratsbüro. Die Fahrbahn verläuft entlang der Montagebänder, wo unter anderem die neuen 7er- und 5er-Modelle gebaut werden. Wie auf einer Miniautobahn düsen die Routenzugfahrer mit vollen und leeren Sequenzbehältern hin und her. Auf dem Gehweg kommt ein Mann in einem braunen Arbeitsanzug entgegen. Das fällt auf, denn bei BMW gibt es noch den blauen Anton und blaue Meisterkittel. Auf dem Firmenschild des Braungekleideten steht der Firmenname Johnson Controls. „Den habe ich hier noch nie gesehen“, gesteht der Betriebsrat und erinnert sich, dass auch bei Schnellecke die Mauer des Schweigens anfangs unüberbrückbar schien. „Aber wir sind immer wieder hingegangen, bis jemand mit uns gesprochen hat. Wir haben die Grenze durchbrochen, das ist eine tolle Sache“, sagt Peter Siedersberger. Er gesteht aber auch: „Ich bin jetzt seit 34 Jahren bei BMW, doch das war meine schwierigste Aufgabe.“

Branchenanalyse: Kontraktlogistik unter der Lupe

Die Kontraktlogistik ist eine der Boom-Branchen der deutschen Wirtschaft. Das war aber schon die gute Nachricht. Denn bei den neuen Arbeitsplätzen handelt es sich meist nicht um neu geschaffene, sondern um verlagerte Beschäftigung – zu schlechteren Bedingungen. Die Entstehung dieser neuen Branche ist Folge der Auslagerungsstrategie vor allem in der Lebensmittel- und der Automobilindustrie. Die Böckler-Studie „Branchenanalyse Kontraktlogistik“ untersucht, wie dieser Teilmarkt der Logistik im Detail funktioniert.Nach Schätzungen erwirtschaftete die Branche 2013 einen Umsatz von 90,8 Milliarden Euro. Die Beschäftigten werden auf rund 530 000 geschätzt. Davon arbeitet die eine Hälfte noch bei Industrie- und Handelsunternehmen, die verbleibende Hälfte bereits bei Logistikdienstleistern. Die Studie geht davon aus, dass jährlich 5 300 bis 10 600 Arbeitsplätze verlagert werden. Die fünf größten Anbieter sind Deutsche Post DHL, Volkswagen Logistics, Arvato, Fiege und Kraftverkehr Nagel – Schnellecke rangiert auf Platz 15. Die 15 Top-Anbieter haben einen Marktanteil von 46 Prozent.Ein ungelöstes Problem ist der Logistikvertrag, der als solcher gesetzlich nicht definiert ist. Meist werden unterschiedliche Vertragstypen kombiniert: Frachtvertrag, Speditionsvertrag, Lagervertrag, Dienstvertrag und Werkvertrag bei produktverändernden Zusatzleistungen. Das Werkvertragsrecht sowie das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats zur Einschränkung des gängigen Missbrauchs dieser Verträge sind Gegenstand eines aktuellen Gesetzentwurfes der Bundesregierung, der von den Gewerkschaften allerdings als „unzureichend“ beurteilt wird. 

Moike Buck/Heiko Wrobel: Branchenanalyse Kontraktlogistik. Eine Markt- und Beschäftigungsanalyse in Deutschland. Working Paper der Forschungsförderung, Nr. 003, Dezember 2015. Kostenloser Download 

 

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