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Die Zukunft der Leiharbeit Böckler Impuls

Arbeitsmarkt: Die Zukunft der Leiharbeit

Ausgabe 05/2024

Leiharbeit ist in vielerlei Hinsicht problematisch. Lässt sie sich eindämmen? Die Chance besteht, wie eine Analyse zeigt.

Leiharbeit stellt die Gewerkschaften seit jeher vor ein grundsätzliches Dilemma: Einerseits ist es unerlässlich, sich für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne der Leiharbeitskräfte einzusetzen. Andererseits besteht die Gefahr, dass dadurch ihr Einsatz legitimiert und die Ungleichbehandlung von Leiharbeitskräften und Stammbelegschaft zementiert wird. Einen Ausweg könnte eine aktuelle Entwicklung bieten: Die Verleihunternehmen kämpfen derzeit mit einem ausgeprägten Arbeitskräftemangel. Damit zeichnet sich eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse ab – die Verhandlungsposition der Beschäftigtenseite verbessert sich. In dieser Situation könnten Gewerkschaften gestärkt auftreten und mit weitreichenden Forderungen grundlegende Veränderungen auf den Weg bringen. Denkbar sind aber auch andere, aus Sicht der Beschäftigten deutlich ungünstigere Entwicklungen. Das zeigt eine Studie von Alexander Gallas von der Universität Kassel, die im Rahmen eines von der Hans-Böckler-Stiftung und der IG Metall geförderten Forschungsprojekts entstanden ist. 

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Der Sozialwissenschaftler hat analysiert, wie sich der Einsatz von Leiharbeit in Zukunft weiterentwickeln könnte und welche Herausforderungen damit verbunden sind. Er führte dazu Interviews mit 15 Expertinnen und Experten, die sich beruflich mit dem Thema Leiharbeit beschäftigen. ­Darunter waren Vertreterinnen und Vertreter der Gewerkschaften, der Arbeitgeberseite sowie weitere Fachleute. Hinzu kam die Auswertung der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur sowie von Positionspapieren der Arbeitgeberverbände, der Gewerkschaften und der Politik. 

Arbeitsagenturen tragen zur Prekarisierung bei

Leiharbeit ist ein oft prekäres und zugleich weit verbreitetes Arbeitsverhältnis: Auch wenn die Zahl der Leiharbeitenden in der Coronakrise etwas zurückgegangen ist, lag sie in den letzten zehn Jahren zu keinem Zeitpunkt unter 750 000. Der Anteil an allen Beschäftigten betrug in diesem Zeitraum stets über zwei Prozent, in einigen Branchen wie der Logistik sogar deutlich mehr. Auch die Arbeitsagenturen nutzen Leiharbeit, um Menschen in Beschäftigung zu bringen, die sonst schwer zu vermitteln sind. Im Jahr 2021 haben die Agenturen laut der Studie 144 000 Personen in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung vermittelt. 43 000 von ihnen sind zu einem Leiharbeitsunternehmen gegangen – eine Quote von rund 30 Prozent. In vielen Fällen seien die in Leiharbeit vermittelten Personen jedoch nur vorübergehend beschäftigt, so Gallas. Sie pendelten oft zwischen Arbeitslosigkeit und Leiharbeit hin und her, ohne dass sich ihre Situation wesentlich verbessere. Leiharbeit biete eine Scheinlösung, die Vermittlungserfolge simuliert und die Arbeitslosenstatistiken vorübergehend verbessert. „Es erweist sich, dass staatliche Aktivitäten – und gerade nicht ihre Abwesenheit – zur Prekarisierung auf dem Arbeitsmarkt führen.“

Problematisch sei auch, dass die Stammbelegschaften unter Druck geraten, weil Leiharbeitskräfte zu schlechteren Bedingungen angestellt würden. „Wenn es möglich ist, Standardarbeitsleistungen auch unter ungleich schlechteren Bedingungen zu erledigen, kann dies eine Anhebung von Leistungsnormen zur Folge haben – oder eine Ersetzung von Stammbelegschaftsmitgliedern durch Leiharbeitskräfte“, schreibt Gallas. Die bloße Existenz von Leiharbeit im Betrieb könne zu Spaltungen führen und solidarisches Handeln verhindern. Zum einen hätten Leiharbeitskräfte nur eingeschränkte Mitbestimmungsrechte. Zum anderen erschwerten sie es der Stammbelegschaft, sich zu organisieren. Der Forscher zitiert einen hauptamtlichen Gewerkschafter mit den Worten: „Stelle dir vor, es ist Arbeitskampf und keiner geht hin, weil die Mehrheit der Belegschaft Leiharbeiter, Werkvertrag oder sonst was ist.“ 

Die Studie zeigt auf, wo die Probleme der Leiharbeit liegen, sie wirft aber auch einen Blick in die Zukunft. Wie geht es weiter? Dazu entwickelt der Wissenschaftler drei Szenarien, abgeleitet von den Aussagen der Experten und Expertinnen:

Szenario: Ausdehnung der Leiharbeit

Angesichts hoher Preissteigerungen und damit verbundener Reallohnverluste wächst die Zahl der Menschen, die sich in einer schwierigen finanziellen Situation befinden. Die schwache Nachfrage, Lieferengpässe bei Produktions- und Konsumgütern und explodierende Kosten bremsen die wirtschaftliche Entwicklung. Die Arbeitslosigkeit steigt. Kurzarbeit und Zugeständnisse zur Beschäftigungssicherung sind die Folge. Die Krise und die sich verschärfende Notlage der ärmeren Bevölkerungsschichten schwächen die Verhandlungsposition der Lohnabhängigen und der Gewerkschaften. Die Unternehmensseite reagiert auf die allgemeine Verunsicherung mit der Abwälzung von Risiken auf die Beschäftigten. Leiharbeit gilt dabei als probates Mittel, weshalb der Anteil der Leiharbeitskräfte deutlich zunimmt. Da sich die Arbeitssituation vieler Menschen verschlechtert, könnte andererseits die Bereitschaft steigen, sich kollektiv zu organisieren.

Szenario: Konsolidierung der Leiharbeit

Die Leiharbeit hat ihren Charakter bereits gewandelt. Sie hat sich von einem Ausnahmemechanismus am Rande des Arbeitsmarkts zu einem Standardinstrument entwickelt. Dieser Prozess verstärkt sich mit zunehmender Dauer. Für einige Beschäftigtengruppen ist die Leiharbeit der Einstieg in den Arbeitsmarkt. Wenn die Arbeitslosenzahlen steigen, gewinnt in Politik und Verwaltung die Auffassung an Boden, dass „Flexibilität“ auf dem Arbeitsmarkt im Allgemeinen und Leiharbeit im Besonderen wichtige Instrumente zur Krisenbekämpfung sind. Die Normalisierung der Leiharbeit zwingt die Gewerkschaften, sich verstärkt mit Strategien zur Lösung von Konflikten zwischen Stammbelegschaften und Leiharbeitenden zu befassen.

Szenario: Zurückdrängung der Leiharbeit

Aufgrund der demografischen Entwicklung besteht ein massiver Arbeitskräftemangel, der nicht nur die höher qualifizierten Gruppen betrifft. Das „Geschäftsmodell Leiharbeit“ funktioniert vor diesem Hintergrund nicht mehr reibungslos; viele Unternehmen der Leiharbeitsbranche beginnen, sich umzuorientieren und bieten Personalvermittlung ohne Verleih oder Weiterbildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen an. Der Arbeitskräftemangel stärkt die Verhandlungsposition der Beschäftigten und der Gewerkschaften; eine Anpassung nach oben wird möglich. Leiharbeit wird zurückgedrängt.

Eine breite Debatte ist notwendig

Welches dieser Szenarien eintritt, ist alles andere als sicher. Die Aussagen der von Gallas Befragten deuten jedoch darauf hin, dass einiges für das dritte Szenario spricht. Die Interviewten auf Seiten der Leihunternehmen berichten übereinstimmend, dass sie derzeit mit einem Arbeitskräftemangel konfrontiert sind, der „weit über den viel beschworenen Fachkräftemangel hinausgeht“. Das Geschäftsmodell der Leiharbeit, das auf der Schlechterstellung der Beschäftigten beruhe, werde dadurch in Frage gestellt, schreibt der Wissenschaftler. Das wiederum eröffne die Chance für eine breite Debatte über die Zukunft der Leiharbeit, in die alle betroffenen Gruppen einbezogen werden müssten: die Leiharbeitskräfte selbst, aber auch die Stammbelegschaften, die Betriebsräte und Vertrauensleute sowie die Gewerkschaften. Das Ziel müsse klar sein: „Die Spaltung von Belegschaften zu überwinden, die Konkurrenz unter Beschäftigungen zurückzudrängen und eine wirkliche Gleichstellung zu erreichen.“ 

Ein Schritt in diese Richtung ist mit dem aktuellen Tarifabschluss für Leiharbeitende getan: Nach der Einigung zwischen der DGB-Tarifgemeinschaft und dem neu gegründeten Gesamtverband der Personaldienstleister erhalten die Beschäftigten ab Oktober dieses Jahres mehr Geld. „Der Abstand zwischen den Löhnen in der Leiharbeit und dem allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn konnte deutlich vergrößert werden. Über 90 Prozent der Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter profitieren von dem Tarifabschluss“, sagt Christina Schildmann, Leiterin in der Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung.

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