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Forschung: Tiefer Frust

Ausgabe 01/2021

Was treibt Menschen, Rechtspopulisten ihre Stimme zu geben? Meist sind es keine materiellen Sorgen. Es geht um einen Kulturkampf, um die Rolle von Begriffen wie Nation, Volk oder Solidarität. Von Kay Meiners

Veränderungen in den Nervenbahnen einer Gesellschaft vollziehen sich langsam. Und dann wird plötzlich sichtbar, was im Untergrund gewachsen ist – so, als wenn nach dem Regen die Pilze aus dem Boden schießen. In kurzer Zeit wurde die junge AfD zur drittstärksten Partei im Bundestag, erreicht in Umfragen zehn Prozent. Was ist da passiert? Philipp Rhein, ein Wissenschaftler im Böckler-Promotionskolleg Rechtspopulismus, sucht Antworten. Er arbeitet an einer Dissertation, die dem „Zeitbewusstsein“ von AfD-Wählern nachspürt: Wie erleben sie den gesellschaftlichen Wandel?

Während andere diskutieren, ob die AfD extremistisch, rechtspopulistisch oder einfach erzkonservativ ist, bezeichnet Rhein sie als „rechtsextrem“. Eine Einschätzung, die nicht alle teilen. AfD-Wähler wollen die Migration begrenzen, lehnen Gendersprache ab, haben die 68er zum Feindbild erkoren. Aber macht sie das zu Extremisten, die die Demokratie beseitigen wollen? Wie kommt Rhein dazu? Er glaubt, viele AfD-Wähler seien, anders als Konservative, nicht an echter Opposition interessiert, sondern daran, „das System von außen zu torpedieren“.

Die Sorge vor einem Crash und zugleich die Lust daran vermischen sich zu einer gefährlichen Melange. Begriffen wie „Angst“ oder „Nostalgie“, die gerne verwendet werden, um die Psyche der AfD-Wähler zu beschreiben, kann Rhein darum wenig abgewinnen: „Sie wollen nicht einfach Vergangenheit zurück. Es geht darum, die jüngere Geschichte zu revidieren – unter anderem die Emanzipations- und Liberalisierungsgewinne der vergangenen Jahrzehnte. Diese Leute wollen einen Untergang als Bedingung für eine Neuordnung“. Dafür könnte sprechen, dass sich die von Rhein untersuchten Anhänger der AfD gar nicht, wie so oft behauptet, als heimliche Mehrheit sehen oder das „Volk schlechthin“. Sie sehen sich eher als ausgegrenzte und auserwählte Minderheit. Die AfD-Truppe nennt Rhein darum „nicht-populistische Populisten.“ Ihr „tiefsitzender Frust“, ihre Abkehr vom System und ihre Überzeugung, dass Menschen ungleichwertig seien, befeuern, so Rhein, „revolutionäre Phantasien.“

Britta Schellenberg, Mitarbeiterin am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München, schreibt über die rechtspopulistische Ideologie: „Die ‚Anderen‘ oder ‚Volksfremden‘ werden durch übersteigerte ethnische, religiöse, kulturelle, sexuelle und politische Ausgrenzungskriterien definiert.“ Hinzu komme „eine Abneigung gegenüber demokratischen Aushandlungsprozessen, unterschiedlichen Meinungen und das Negieren einer sozial komplexen Wirklichkeit“.

Was bewegt Leute, die sich einem Nationalvolk zugehörig fühlen, dessen großer Teil ihnen nicht mehr zuhört oder ihnen sogar feindlich gegenübersteht? Im Jahr 2017 ließ die Hans-Böckler-Stiftung Tausende Personen befragen, darunter mehr als 600 AfD-Wähler. Die Ergebnisse, veröffentlicht unter dem Titel „Einstellung und soziale Lebenslage“, strafen all jene Lügen, die glauben, sie könnten die AfD mit Sozialpolitik bekämpfen. Vielmehr zeigt die Befragung, dass sich AfD-Wähler kulturell benachteiligt fühlen – auch dann, wenn es ihnen materiell gut geht. Aus Sicht der Forscher erleiden sie einen „dreifachen Kontrollverlust“. Persönlich, weil der technische Wandel bedrohlich erscheint. Politisch, weil die Institutionen des Staates als abgehoben empfunden werden. In nationalstaatlicher Hinsicht, weil der Staat die Bevölkerung nicht schützen kann – etwa vor Zuwanderung. Zugleich fanden die Forscher Indizien dafür, dass sich das Wertesystem auch in der Gesamtbevölkerung merklich verändert hat.

Suche nach dem Stein der Weisen

Wohin die Reise geht, zeigt ein Vergleich der Antworten von 2017 mit Material aus dem Jahr 2006. Ganze 95 Prozent der Deutschen sahen zuletzt als wichtigsten Wert das Prinzip, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Das sind ganze 19 Prozentpunkte mehr als damals und katapultiert die Aussage auf den ersten Platz der Werteskala – ein deutlicher Hinweis auf eine Entsolidarisierung. Die Aufwertung der Autonomie geht einher mit einer Abwertung reziproker Werte: minus fünf Prozentpunkte bei Solidarität, je minus sieben bei Weltoffenheit oder Toleranz.

In diesem Klima haben es diejenigen leicht, die auf eine ausgrenzende Politik, exklusive Sozialsysteme und abgeriegelte Grenzen setzen. Viele ihrer Anhänger übertragen den Modus der Selbstverteidigung, in dem sie sich wähnen, auf das Volk selbst. In ihren Augen ist es eine körperliche, statische Einheit, die Feinde hat, keine dynamische Gesellschaft mit Interessenkonflikten. Das solche Weltbilder sich verfestigen, wenn Menschen in einer Krise Verluste erleiden oder mit Migranten um Wohnungen und Jobs konkurrieren, kann man sich leicht ausmalen.

Rezepte, den Rechtspopulisten Stimmen abzujagen, sind begehrt. Britta Schellenberg empfiehlt, den Begriff des „Volkes“ als Fiktion zu dekonstruieren. Philipp Rhein glaubt, statt jeden zurückzugewinnen, sei es ratsamer, die AfD politisch zu bekämpfen und sich um die Gewinnung von Nichtwählern zu kümmern. Eine Gegenstrategie brauche Zeit und einen langfristigen politischen Willen: „Was lange herangereift ist, kriegt man nicht schnell wieder weg.“

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