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Magazin Mitbestimmung

: Tarifpolitischer Trendreport

Ausgabe 09/2006

Nach Jahren bescheidener Tarifsteigerungen brachte diese Tarifrunde erstmals bessere Lohnabschlüsse auf breiter Front. Aber die Tarifstandards und der Flächentarif bleiben unter Druck. Aus der Defensive entwickeln die Gewerkschaften neue Ansätze einer betrieblich gestützten Tarifpolitik.


Von Reinhard Bispinck
Der Autor leitet das Tarifarchiv des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institutes (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung.
reinhard-bispinck@boeckler.de www.tarifvertrag.de


Eine Trendwende in der Tarifpolitik deutet sich an: Die Tarifabschlüsse im ersten Halbjahr 2006 fielen durchschnittlich höher aus als im vergangenen Jahr - das ergibt sich aus der aktuellen Halbjahresbilanz des WSI-Tarifarchivs. Insbesondere der Tarifabschluss in der Metall- und Elektroindustrie vom April hatte mit einem Tarifplus von drei Prozent eine positive Signalfunktion. In der Folge setzten die Gewerkschaften auch in anderen Branchen höhere Tarifabschlüsse durch, so dass sich die Tarifsteigerungen auf durchschnittlich 2,4 Prozent summieren, womit sie rund einen halben Prozentpunkt über der laufenden Inflationsrate liegen.

Sollte sich dieser Trend verstärken, könnte aus der Hoffnung auf eine Tarifwende Realität werden. Doch Vorsicht ist geboten. Zum einen wirken die langfristigen Tarifabkommen aus dem vergangenen Jahr nach, die in zahlreichen Branchen sehr niedrige Tarifsteigerungen für dieses Jahr vorsehen. Zum anderen zeigen die Erfahrungen aus den vergangenen Jahren, dass die vereinbarten Tarifsteigerungen oft nur teilweise und manchmal auch gar nicht bei den Beschäftigten ankommen.

Nach dem Tarifabschluss - zweite Tarifrunde im Betrieb

Bleibt die tatsächliche Einkommenssteigerung hinter der tariflich vereinbarten zurück, sprechen die Fachleute von negativer Lohndrift. Und die beobachten wir hierzulande bereits seit einigen Jahren. Die Gründe sind vielfältig: In vielen Betrieben sehen Vereinbarungen zur Standort- und Beschäftigungssicherung den Verzicht auf Tarifsteigerungen vor und auch zahlreiche tarifliche Öffnungsklauseln erlauben den Unternehmen ein Aussetzen oder Kürzen von Tariferhöhungen. Teilweise werden die Tarifabschlüsse auch mit übertariflichen Leistungen verrechnet. Außerdem lässt die Reichweite der Tarifverträge nach. Die Tarifbindung ist - nach jüngsten Zahlen - weiterhin leicht rückläufig, so dass ein wachsender Anteil der Branchen und Betriebe nicht erfasst wird. In manchen Wirtschaftszweigen gibt es tariflose Zustände.

Auch der wachsende Lohndruck durch die Arbeitsmarktreformen trägt zum Auseinanderklaffen von tariflicher und effektiver Einkommensentwicklung bei. Und nicht zuletzt wirkte sich in den vergangenen Jahren auch die steigende Zahl von Mini-Jobs und anderen Teilzeitbeschäftigungsverhältnissen senkend auf das durchschnittliche effektive Bruttoeinkommen aus.
Die Erkenntnis aus dieser problematischen Entwicklung lautet: Tarifabschlüsse benötigen mehr denn je der aktiven betrieblichen Umsetzung. Im Grunde muss jeder branchenbezogenen Tarifrunde eine zweite, betriebsbezogene Tarifrunde nachgeschaltet werden, um sicherzustellen, dass aus der Tarif- eine Effektivsteigerung wird.

Dies gilt umso mehr, als in einigen aktuellen Tarifabschlüssen Lohnzahlungen vorgesehen sind, deren Höhe ausdrücklich von der wirtschaftlichen Situation der Betriebe abhängig gemacht wird. In der chemischen Industrie sah der Tarifabschluss vom vergangenen Jahr eine Einmalzahlung von 1,2 Prozent pro Monat der Laufzeit vor, die bei schwieriger wirtschaftlicher Lage gesenkt, ganz gestrichen oder später ausgezahlt werden konnte.

In der Metallindustrie haben die Tarifparteien in diesem Jahr eine Einmalzahlung von 310 Euro vereinbart, die betrieblich bis auf null reduziert oder auf das Doppelte erhöht werden kann. Erste regionale Auswertungen zeigen: In 80 bis 90 Prozent der Betriebe wurden die tariflich vorgesehenen 310 Euro gezahlt, in den übrigen Betrieben wurden zu etwa gleichen Teilen Erhöhungen bzw. Absenkungen vereinbart.

Anhaltender Druck auf Tarifstandards - Kontrollierte Öffnung

Die jüngste Lohnrunde war gleichzeitig gekennzeichnet von Konflikten, bei denen die Verteidigung gewachsener Tarifstandards im Zentrum stand. So entzündete sich der Tarifkonflikt im öffentlichen Dienst auch daran, dass die kommunalen Arbeitgeber in gleich drei Bundesländern versuchten, den erst im Herbst 2005 unterzeichneten Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) in einem Kernpunkt - der tariflichen Wochenarbeitszeit - zu verschlechtern. Nach wochenlangen Streiks konnte die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) in Hamburg, Niedersachsen und Baden-Württemberg zwar die komplette Durchsetzung der Arbeitgeberforderung verhindern, musste aber doch eine (differenzierte) Verlängerung der Wochenarbeitszeit hinnehmen.

2005 hatte ver.di in der Druck- und papierverarbeitenden Industrie monatelang um die Verteidigung der 35-Stunden-Woche gekämpft und sich dabei - mit Mühe - behaupten können. Im Bauhauptgewerbe und Malerhandwerk musste die IG BAU eine Verlängerung der Wochenarbeitszeit von 39 auf 40 Stunden hinnehmen. In nahezu allen Branchen, in denen Tarifverhandlungen stattfanden, traten die Arbeitgeberverbände mit langen Forderungskatalogen an.

Dort, wo die Tarifparteien Öffnungsklauseln vereinbarten, wurden die Auseinandersetzungen kanalisiert und dabei auf die betriebliche Ebene verlagert. In der Metall- und Elektroindustrie registrierte die IG Metall von 2004 bis zum Juni dieses Jahres rund 770 vom Branchentarifvertrag abweichende tarifliche Vereinbarungen. Rund zwei Drittel wurden aufgrund aktueller Krisensituationen getroffen.

Immerhin in 90 Fällen gab es eine erneuerte, zum Teil erstmalige Tarifbindung. Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) registriert für ihren Organisationsbereich rund 1300 Notlagen-, Sanierungs- und Beschäftigungssicherungstarifverträge, die sich schwerpunktmäßig auf die Bereiche Gesundheit, soziale Dienste, Wohlfahrtsverbände sowie Medien, Druck, Papier und Bildung bzw. Wissenschaft beziehen.

Vermehrt tariflose Zustände und rückläufige Tarifbindung

Gemeinhin dauerte es selbst im Konflikt- und Streikfall meist nicht länger als vier bis sechs Wochen, bis nach Auslaufen des alten Tarifvertrages der neue in Kraft trat. Dies ist längst nicht mehr in allen Tarifbereichen selbstverständlich. Die Fälle häufen sich, in denen erst nach mehreren Monaten oder gar nach über einem Jahr Tarifabkommen vereinbart werden; so zum Beispiel im Einzelhandel, im Baugewerbe, in der Landwirtschaft, im Hotel- und Gaststättengewerbe und einigen anderen Branchen.

Auch wächst die Zahl der Wirtschaftszweige mit tariflosen Zuständen, wo es den Gewerkschaften längerfristig nicht mehr gelingt, die ausgelaufenen Tarifverträge durch neue Abkommen zu ersetzen. Das reicht von Tarifbereichen im Gartenbau über zahlreiche Handwerksbereiche, das Nahrungsmittelgewerbe, bis zu einigen Handels- und sonstigen Dienstleistungsbereichen wie zum Beispiel dem Friseurhandwerk, den privaten Krankenanstalten, dem Tankstellengewerbe oder dem private Omnibusgewerbe.

Eine aktive Gewerkschafts- und Tarifarbeit auf betrieblicher Ebene vermag hier Abhilfe zu schaffen: So organisierte die IG Metall im Textilreinigungsgewerbe angesichts einer drohenden breiten Tariffluchtbewegung im vergangenen Jahr eine Kampagne "Sauber bleiben mit Tarif" an der sich tausende Beschäftigte mit Protestaktionen beteiligten. Das Ergebnis: 90 Prozent der Beschäftigten, die vormals unter die Tarifbindung fielen, gelang es, wieder in den Flächentarif einzubinden.

In der Papierverarbeitung forderte ver.di nach der Kündigung der Flächentarifverträge durch die Arbeitgeber rund 80 Unternehmen der Branche zu (Firmen-)Verhandlungen auf. In rund 20 Fällen gelang es, zum Teil unter Streikdruck, Tarifabschlüsse oder Verhandlungsergebnisse zu erreichen. Erst nach 14 Monaten tariflosem Zustand erreichte ver.di Anfang März dieses Jahres einen neuen Flächentarifvertrag.

Trotz dieser Anstrengungen geht in der Gesamtwirtschaft die Tarifbindung weiter zurück. Nach den neuesten Daten wurden im vergangenen Jahr in Westdeutschland noch 67 Prozent, in Ostdeutschland noch 53 Prozent der Beschäftigten von Tarifverträgen erfasst. Bezogen auf die Betriebe beläuft sich die Tarifbindung nur auf 41 Prozent im Westen und 23 Prozent im Osten. Das Kernstück des deutschen Tarifsystems, der Flächentarifvertrag, hat seit Mitte der neunziger Jahre stark an Bedeutung verloren. 1996 unterlagen fast drei von vier Betrieben (72 Prozent) in den alten Bundesländern einem Branchentarifvertrag, 2005 waren es nur noch 59 Prozent. In den neuen Bundesländern fiel der Rückgang (von 56 auf 42 Prozent) noch kräftiger aus.

Nur noch in fünf von 13 Wirtschaftsbereichen erfassen die Flächentarifverträge zwei Drittel der Beschäftigten und mehr. In vielen Branchen gibt es ein Gemisch aus Verbands- und Firmentarifverträgen. In einigen Wirtschaftszweigen werden nur Firmentarifverträge abgeschlossen, so im Bereich des Luftverkehrs oder der Telekommunikation. Bei den privaten Dienstleistungen bestehen außerdem zahlreiche Firmentarifverträge, die allerdings keineswegs die Arbeits- und Einkommensbedingungen der jeweiligen Branchen prägen. Dazu gehören IT-Unternehmen, Autovermietungen, Beratungsunternehmen, Altenheime, Callcenter, private Bildungseinrichtungen. Die Gewerkschaften müssen umdenken: Betriebsbezogene Tarifpolitik muss die Branchentarifpolitik ergänzen.

Initiativen für neue Flächentarifverträge

Auch wenn der Trend sehr stark in Richtung Verbetrieblichung geht, bemühen sich die Gewerkschaften doch auch darum, Flächentarifverträge auszuweiten oder neu durchzusetzen. So will die Gewerkschaft Transnet für den Schienenverkehr einen "Flächentarifvertrag Schiene" durchsetzen, der ein verbindliches Mindestniveau festschreiben soll, das von keinem Unternehmen mehr unterschritten werden darf. Ähnliche Bestrebungen gibt es bei den Wohlfahrtsverbänden.

Hier führt der politisch gewollte Wettbewerb dazu, dass sich immer mehr Träger durch Rechtsformänderungen und Verbandsaustritte der Tarifbindung entziehen. ver.di möchte durch einen Tarifvertrag Soziale Dienste möglichst alle Wohlfahrtsorganisationen (AWO, DRK, Caritas, Diakonie) einbinden, um den ruinösen Preiswettbewerb einzugrenzen. Dieser Tarifvertrag soll gewissermaßen als "Leitwährung" gegenüber den Kostenträgern Geltung bekommen.

Eine Initiative gibt es auch in der Facility-Management-Branche. Hier hat die IG BAU im Januar 2006 einen ersten Tarifvertrag mit der Hochtief FM GmbH für die rund 4000 Beschäftigten abgeschlossen, den sie zum Mustertarifvertrag für die Branche ausbauen möchte.

Streiks - gegen Verlagerungen für Sozialtarifverträge

Streiks sind aus der Tarifpolitik nicht verschwunden. Im Gegenteil. Je härter der Kampf um die Tarifstandards wird, umso eher kommt es zu Arbeitskämpfen. Dies zeigen die Streikauseinandersetzungen im öffentlichen Dienst (ver.di und Marburger Bund), in der Druckindustrie oder in der Papierverarbeitung. Auch die ganz normalen Lohnrunden sind keineswegs konfliktfrei: In der Metallindustrie beteiligten sich in diesem Frühjahr rund eine Million Beschäftigte an Warnstreiks bis der Vertrag unter Dach und Fach war.

Neue Arbeitskampfziele sind hinzugekommen, wie die, Betriebsverlagerungen und -schließungen zu verhindern. In einigen Unternehmen hat die IG Metall um so genannte Sozialplantarifverträge gestreikt. So bei AEG in Nürnberg, wo die Gewerkschaft mit einem Streik die geplante Werksschließung verhindern wollte. Dieses Ziel konnte sie nicht durchsetzen, doch erreichte die IG Metall nach 43-tägigem Arbeitskampf im Februar 2006 eine umfassende Regelung zu Abfindungszahlungen, die Einrichtung einer Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft sowie eine befristete Standort- und Beschäftigungssicherung für einzelne Geschäftsbereiche.

Beim Baumaschinenhersteller CNC in Berlin setzten IG Metall und Betriebsrat nach 107 Tagen Arbeitskampf Anfang Juni 2006 einen Sozialplan und eine Beschäftigungsgesellschaft durch. Auch beim Infineon-Werk in München wurde im Dezember 2005 erfolgreich für einen Sozialtarifvertrag gestreikt. Bereits 2004 hatte die IG Metall bei der Aufzugfirma Otis in Stadthagen nach fünf Wochen Streik einen Ergänzungstarifvertrag durchgesetzt, der ebenfalls eine Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft und gegenüber dem früheren Sozialplan deutlich verbesserte Abfindungen vorsah.

Streiks um Sozialtarifverträge sind Arbeitskämpfe aus der Defensive und keineswegs immer ein Zeichen von Stärke. Sie signalisieren jedoch unübersehbar die gewachsene Bereitschaft, die Folgen rigider Unternehmens- und Standortpolitik nicht kampflos hinzunehmen.

Niedriglöhne - die Grenzen der eigenen Kraft

Niedriglöhne und prekäre Arbeitsbedingungen greifen immer stärker um sich. Die Reichweite der Tarifverträge ist begrenzt und die Kraft der Gewerkschaften reicht vielfach nicht aus, um Armutslöhne in Tarifverträgen zu verhindern. Deswegen fordern sie seit einiger Zeit die Unterstützung des Gesetzgebers ein, um eine Restabilisierung des Tarifsystems und eine Sicherung von sozial angemessenen Arbeits- und Einkommensbedingungen zu gewährleisten.

Dies soll zum Beispiel durch eine erleichterte Anwendung der Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) von Tariferträgen und durch die Ausweitung des Arbeitnehmerentsendegesetzes geschehen. Doch in vielen Branchen steht der Weg über die Allgemeinverbindlicherklärung schon wegen des Desinteresses und der Widerstände der Arbeitgeberverbände nicht offen. Hier kann nur ein gesetzlicher Mindestlohn helfen, so wie ihn der DGB in einer Höhe von 7,50 Euro beschlossen hat.

Tarifpolitische Konkurrenz oder Kooperation?

Erschwert wird die Tarifpolitik durch Konkurrenz zwischen den Gewerkschaften, wie der Konflikt zwischen ver.di und dem Marburger Bund zeigt. Auch die Fluglotsen und die Arzthelferinnen haben einen tarifpolitisch aktiven Berufsverband. Droht also eine zunehmende Aushöhlung der solidarischen gruppenübergreifenden Tarifpolitik der DGB-Gewerkschaften durch aggressiv auftretende Berufsverbände? Die Gefahr ist - nüchtern betrachtet - zurzeit begrenzt. Trotzdem werden die Gewerkschaften durch ein Neben- und Gegeneinander von Arbeitnehmerverbänden geschwächt.

Beispiel dafür sind die Verbände des "Christlichen Gewerkschaftsbundes" (CGB), die in einigen Branchen mit Dumpingtarifverträgen die bestehenden Tarifstandards untergraben.

Da sind Kooperationsansätze nur zu begrüßen. Bei der Reform des Tarifrechts im öffentlichen Dienst haben zum Beispiel ver.di und der Deutsche Beamtenbund (dbb) als Tarifunion eng kooperiert. Und bei der Bahn gibt es seit 2005 eine vertraglich fest vereinbarte Tarifkooperation von Transnet mit der Verkehrsgewerkschaft GDBA.




Zum Weiterlesen

Reinhard Bispinck: Tarifpolitischer Halbjahresbericht - Zwischenbilanz der Lohn- und Gehaltsrunde 2006, in: Tarifpolitik in Deutschland und Europa, Schwerpunktheft der WSI-Mitteilungen, 7/2006.
WSI-Tarif-Handbuch 2006, Schwerpunkt: Abschied vom Flächentarifvertrag. Bund-Verlag Frankfurt am Main, 2006, 298 Seiten.

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