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In diesem Jahr endet der deutsche Steinkohlenbergbau, eine jahrhundertealte Tradition. Wer wissen will, wie es früher war, muss mit Männern reden wie Helmut Heith. Magazin Mitbestimmung

: Steinkohle: Jetzt ist Schluss

Ausgabe 12/2018

Thema In diesem Jahr endet der deutsche Steinkohlenbergbau, eine jahrhundertealte Tradition. Wer wissen will, wie es früher war, muss mit Männern reden wie Helmut Heith.

Von Kay Meiners und Ingo Zander

Im Winter 1933 kommt Helmut Heith in Gelsenkirchen-Buer zur Welt, drei Tage vor dem Heiligen Abend. Die Stadt sieht anders aus als heute: Überall, auch zwischen den Wohnhäusern, stehen Fördertürme der Bergwerke wie Riesen herum. Die Einwohner leben mit dem Hämmern, der Hitze und dem Staub der Schwerindustrie. „Stadt der tausend Feuer“ nennen sie die Boomstadt, deren Einwohnerzahl seit der Jahrhundertwende in nur einem Menschenalter von 37 000 auf über 300 000 gestiegen ist.

Heiths Eltern sind als Fremde gekommen, wie so viele hier. Sein Vater ist in einem Bauernhof in der Nähe von Lodz aufgewachsen, jetzt ist er Bergmann. Die Mutter stammt aus Gottesberg im niederschlesischen Kreis Waldenburg, aus einer alten Bergmannsfamilie. Der Krieg sorgt dafür, dass Helmut die Heimat seiner Eltern im Osten kennenlernt. Denn sein Vater, ein leidenschaftlicher Hitlergegner, bringt ihn bei Verwandten unter, als im Ruhrgebiet die Bomben fallen, damit ihm die Kinderlandverschickung unter der Regie der Hitlerjugend erspart wird.

Unter abenteuerlichen Bedingungen gelangt er später zurück ins Ruhrgebiet, wo er 1948 die Volksschule abschließt. Er will Handwerker werden. „Dreher, Elektriker, Schlosser, irgendwas mit Metall.“ Doch der Mann vom Arbeitsamt, ein Nachbar, redet ihm das direkt aus. „Da gibt es gar nichts. Aber im Bergbau werden jede Menge Leute gesucht.“

Anfang der 1950er Jahre arbeiten rund 450 000 Menschen im Ruhrkohlenbergbau, der sich immer weiter nach Norden frisst. Helmut Heith ist jetzt einer davon – auf der Zeche Bergmannsglück, wo zu der Zeit auch noch sein Vater arbeitet. Sie gehört zur Gesellschaft Hibernia. „Da waren viele Freunde, die ich von der Schule her kannte“, erinnert er sich.

Kohle-Romantik ist es nicht, die Heith ausstrahlt, eher Pragmatismus: „Es war nicht immer die Familientradition, die die Leute zu den Bergwerken brachte. Manchmal war es die pure Not. Aber am Ende hat mir die Arbeit Spaß gemacht.“ Mit den Augen von heute erscheint die Arbeit im Bergbau fast unmenschlich schwer. Doch damals hat sie einen guten Ruf. Es ist noch eine Arbeit, die Zukunft hat.

Neue Gesetze, alte Strukturen

„Unser Betriebsführer war ein knallharter Typ, der schon in der Nazizeit in der Belegschaft wegen seiner brutalen Art verhasst war“, sagt Heith, der bald Jugendsekretär seiner Gewerkschaft war. „Unter meinen Kumpels hieß es, dass die Engländer ihn vor dem Volkszorn gerettet haben.“ Der britische Kommandant, der für die Zeche nach 1945 zuständig war, hielt den Mann gegen den Widerstand der Belegschaft im Amt.

Doch die Arbeit in der Kohlen- und Stahlindustrie ist in den Nachkriegsjahren nicht nur harte Männerarbeit in autoritären Strukturen. Sie ist auch ein Versprechen auf Teilhabe und Veränderung. Neue Gesetze, allen voran das Gesetz über die Montanmitbestimmung von 1951, das der DGB-Vorsitzende Hans Böckler und Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) ausgehandelt haben, geben Anlass zu der Hoffnung, dass die Arbeiter in Zukunft an Entscheidungen und am Erfolg des Unternehmens beteiligt werden.

„Für die Gewerkschaften war die Mitbestimmung als Teil ihrer Neuordnungsvorstellungen eingebettet in ein System staatlicher Rahmenplanung“, erklärt der Historiker Werner Milert. „Vor dem Hintergrund planwirtschaftlicher Vorstellungen“ sollte dabei die „überbetriebliche“ Mitbestimmung in gesamtwirtschaftlichen Gremien eine herausragende Stellung einnehmen. Dazu kam die Mitbestimmung in den Aufsichtsräten und die – damals noch als nachrangig einge­stufte –„soziale und personelle Mitbestimmung“ durch die Betriebsräte.

Die Realität der Bundesrepublik bleibt hinter solchen Vorstellungen zurück. Dennoch: Ein neues Menschenbild beginnt heraufzudämmern, das spüren die jungen Leute. Heith erinnert sich gut an das, was damals den Unmut der Auszubildenden auslöst: die ungeliebte Schichtarbeit am Leseband, zu der bevorzugt die Neulinge eingesetzt werden. Sie stehen mit älteren Bergmännern, die nicht mehr grubentauglich sind, acht Stunden gebückt an beiden Seiten eines 1,20 Meter breiten Stahlgliederbandes, auf dem sie Steine von der Kohle trennen müssen.

„Man packte die Steine“, erinnert er sich, „schmiss sie hinter sich, wo sie gegen eine Stahlwand prallten und über einen Trichter in Förderwagen rutschten.“  Sind die Steinbrocken besonders groß, müssen sie mit einem Hammer zertrümmert werden. Im Gegensatz zur Arbeit und Ausbildung in der Werkstatt müssen die angehenden Knappen in dem Monat, in dem sie für das Leseband eingeteilt sind, nicht nur in der Frühschicht von sechs bis 14 Uhr arbeiten, sondern auch von 14 bis 22 Uhr, in der ungeliebten Spätschicht. „Das ist ja für Jungens nicht gut, die nachmittags mit Freunden Fußball spielen wollen“, sagt Heith.

Das Thema wird von der Jugendvertretung aufgegriffen. Mit dem Betriebsverfassungsgesetz von 1952 ist erstmals eine Vertretung für alle Jugendlichen unter 18 Jahren eingeführt worden, die in Zusammenarbeit mit dem Betriebsrat Probleme ansprechen kann. „Unsere Jugendvertretung hat herausgefunden, dass ein Auszubildender am Leseband die gleiche oder sogar noch größere Leistung erbringt wie ein gestandener Gesteinshauer, der die Steine in Waggons schaufelt“, erklärt Heith ruhig, aber eindringlich – so, als wäre die Sache noch aktuell.

„Die Ausbilder sagten uns, die Arbeit am Leseband sei für uns notwendig, damit wir lernen, die Kohle von den Steinen zu unterscheiden. Diese Begründung hielten wir natürlich für blödsinnig“, sagt Heith. Nach der Untersuchung achten die Ausbilder immerhin darauf, dass die Lehrlinge bei der Einteilung für die Arbeit am Leseband strikt gleich behandelt werden. Ein Fortschritt.

Die ersten Zechen schließen

Bis 1958 arbeitet Helmut Heith als Bergmann unter Tage, in der Vorrichtung und der Kohleförderung. Danach ist er Leiter eines Heims für junge Bergmänner in Bayern. Das Jahr 1958 markiert für den deutschen Steinkohlenbergbau den Ausgangspunkt für kontinuierliche Zechenschließungen. Die Gründe für die Strukturkrise: billige Importkohle und die zunehmende Konkurrenz durch Mineralölprodukte.

„Im Ruhrgebiet hat es seit den 1950er Jahren einen grundlegenden Strukturwandel gegeben“, erklärt Michael Farrenkopf, Leiter des Montanhistorischen Dokumentationszentrums am Deutschen Bergbau-Museum Bochum. „Anders als etwa in Großbritannien verlief er in geordneten Bahnen, weil der Staat und die Tarifpartner sich auf sozialverträgliche Lösungen bis zum Schlusspunkt 2018 verständigten.“

Das Anwachsen der Haldenbestände führte im Ruhrgebiet 1958 zu massiver Kurzarbeit für rund 16 000 Bergleute. 1959 kommt es zum von der IG Bergbau und Energie initiierten„Marsch nach Bonn“; mit etwa 60 000 Teilnehmern damals die größte Demonstration in der noch jungen Bundesrepublik. „1959 hatten wir die erste Zechenstilllegung mit der Schachtanlage Friedrich Thyssen 4/8 in Duisburg-Hamborn mit über dreieinhalbtausend Bergmännern.“

Heith, der ab 1959 als Jugendsekretär in Duisburg arbeitete und die Demo nach Bonn mit organisierte, erinnert sich noch gut daran, dass die Bevölkerung in Bonn zuerst ängstlich auf die schwarz gekleideten Männer reagierte. „Die Atmosphäre entspannte sich dann aber, als die Bonner merkten, dass wir nur friedlich für den Erhalt unserer Arbeitsplätze demonstrierten.“

Die Gründung der Ruhrkohle

Ab 1965 bildet sich Heith an der Sozialakademie Dortmund weiter. Als Gewerkschaftssekretär für Betriebsrätewesen und Arbeitsrecht in der Geschäftsstelle Duisburg-Hamborn ist er immer wieder an Zechenstilllegungen beteiligt: in Bee­ckerwerth nahe Duisburg-Ruhrort, inWestende in Duisburg-Meiderich, bei der Friedrich Thyssen 2/5 in Duisburg-Marxloh. Für die arbeitslosen Bergmänner, die keinen neuen Job finden, gibt es noch keine Sozialpläne wie später, nach der Gründung der Ruhrkohle AG 1968, in der sich 28 Bergbaugesellschaften zusammenschließen.

Der Staat zahlt allerdings Abfindungen, mit denen Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller(SPD) den „Patienten Bergbau“ während schneller und umfassender Zechenschließungen ruhig halten will. „Wir nannten diese Abfindungen von schon mal 2000 Mark leicht ironisch ‚Schillerlocke‘“, sagt Heith. Kumpel, die zu einem weiter entfernten Pütt anreisen mussten, kriegten, wenn sie Glück hatten,von den Bergwerksgesellschaften einen Fahrkostenzuschuss. „Das war das Einzige, was wir an Sozialmaßnahmen damals hatten. Und die Bergmänner durften in den Werkswohnungen bleiben, das war klar.“

Heith sieht die Gründung der Ruhrkohle als strategischen Erfolg. „Die ist auf den Schreibtischen der IG Bergbau und Energie entworfen worden. Sie kam allerdings erst zustande, als die Bundesregierung Druck auf die Einzelgesellschaften ausübte. Wer sich der neuen AG nicht anschließe, so die Drohung, werde keine Gelder für die Kohlesubventionierung erhalten.“ Damit war Schluss mit dem Wildwuchs.

Nun konnten Bergmänner unter dem Dach der AG von stillgelegten Zechen in andere Bergwerke vermittelt werden. Besonders wichtig war, dass die Gewerkschaft für die Kumpel die Frühverrentung mit Sozialplänen finanziell kompensieren konnte. „Wir haben bei der Regierung eine Art Rentenleistung, die sogenannte Knappschaftsausgleichsleistung, durchgesetzt, die bis heute gilt.“

Etwas wird für immer bleiben

In der 1970er Jahren übernimmt Heith das Amt des stellvertretenden Bezirksleiters für den Bezirk Niederrhein; von 1981 bis 1993 war er Bezirksleiter Ruhr-Nordwest und Ruhr-Mitte. Ihm fällt die undankbare Aufgabe zu, Bezirke zusammenzulegen, den Apparat zu verschlanken.

Mit dem Abbau der Belegschaften im Bergbau musste auch die Gewerkschaft ihren Apparat verkleinern, ohne jemanden zu entlassen. 1990 fusionierten die Bezirke Ruhr-Nordwest (Gelsenkirchen), Ruhr-West (Bottrop) und Ruhr-Mitte (Essen) zu „Ruhrmitte“. „Da gab es von einzelnen Funktionären Murren“, sagt Heith. Aber das sei bei Fusionen normal: „Wir waren dann aber schnell eine neue Einheit – der größte Verwaltungsbezirk der IG Bergbau und Energie in ganz Deutschland.“ Hat der Ausstieg aus der Steinkohle zu lange gedauert? Hätte man früher oder härter umsteuern müssen? Diese Fragen sind ab dem nächsten Jahr nur noch historische Fragen.

Was wird bleiben vom Kapitel Steinkohle? Michael Farrenkopf glaubt, das Ruhrgebiet werde auch in Zukunft von seinem spezifischen „historisch gewachsenen kulturellen Kapital“ zehren können, wenn es darum gehe, sich kooperativ auf neue Technologien und Arbeitsprozesse einzulassen: „Bei der gefährlichen Arbeit unter Tage musste man sich aufeinander verlassen können, miteinander klarkommen und Probleme lösen können, egal, wo man herkam.“

Doch erst einmal kommt der allerletzte Abschied am Ende dieses Jahres, nachdem es schon so viele Abschiede gegeben hat. Auf der Zeche Ibbenbüren in Nordrhein-Westfalen wird bereits seit Mitte August keine Kohle mehr abgebaut, nur Prosper-Haniel in Bottrop ist noch in Betrieb. Auch dort soll der Abbau bis zum Jahresende eingestellt werden. Die zentrale Abschiedsveranstaltung dort findet drei Tage vor dem Heiligen Abend statt. Das ist genau der Tag, an dem Helmut Heith seinen 85. Geburtstag feiert.

Aufmacherfoto: Karsten Schöne

Fotos: Getty Images // Bundesarchiv // bpk Bildagentur // Caroline Seidel/dpa

 

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