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Landarbeiter auf einer Plantage in Brasilien Magazin Mitbestimmung

Lieferketten: Sozialstandards, das neue Exportgut

Ausgabe 02/2023

In vielen Lieferländern für Rohstoffe werden Menschenrechte missachtet. Ein Gesetz soll die Spielregeln zugunsten der Schwachen ändern. Von Kay Meiners

Manche der Arbeiter, die Beamte der brasilianischen Bundespolizei auf den Reisfarmen Santa Adelaide und São Joaquim im Bundesstaat Rio Grande befreiten, waren noch halbe Kinder. Gerade mal 14 und 17 Jahre alt, mit zerschundenen Händen. Von „sklavereiähnlichen Verhältnissen“ ist im Polizeibericht die Rede, von Mangel an Essen und Wasser. Der Reis wurde mit abgesägten Haushaltsmessern geschnitten und Agrargifte häufig ohne jede Schutzkleidung ausgebracht. Wer krank wurde, bekam keinen Lohn, weil er ja nicht arbeitete. Von der Polizei, dem Arbeitsministerium und der Bundesstaatsanwaltschaft für Arbeitsfragen veröffentlichte Fotos zeigen erbärmliche Unterkünfte. Einer der Kunden für das hier produzierte Reissaatgut war ein deutsches Großunternehmen – der Chemiekonzern BASF.

In einer Stellungnahme gegenüber dem Magazin bestätigt BASF die Vertragsbeziehung und verspricht eine „erneute und ergänzende Risikoanalyse vor Ort“ , um die Missstände abzustellen. Hinweise auf  Menschenrechtsverletzungen nehme das Unternehmen immer ernst. Dies sei „seit Langem unter anderem in unserem Verhaltenskodex und in unserem Lieferanten-Kodex verankert und wird in unserer Menschenrechtsposition spezifiziert“, heißt es in der Erklärung, „unabhängig vom deutschen Lieferkettengesetz“.

Der Subtext: Das neue Lieferkettengesetz, das seit Anfang des Jahres für Unternehmen ab 3000 Beschäftigten gilt und nächstes Jahr für Unternehmen ab 1000 Beschäftigten, hätte man eigentlich nicht gebraucht. Anders als die Gewerkschaften, die das neue Gesetz beförderten und als nicht weitreichend genug kritisieren, hatte die Industrielobby vor Bürokratie gewarnt.

Dabei ist der aktuelle Fall ein gutes Beispiel dafür, was schiefgehen kann in der Lieferkette. In Brasilien gehen regelmäßig ähnliche Bilder durch die Nachrichten. Wie kann man sich als Unternehmen davor schützen? „Ein großes Unternehmen kommt schnell auf 40 000 Zulieferer“, sagt Oliver Emons, Nachhaltigkeitsexperte in der Hans-Böckler-Stiftung. Doch sie dürften sich der Verantwortung für die Lieferketten nicht verschließen, fordert er: „Wenn ein Unternehmen es schafft, minutiös die technische Qualität der Zulieferer zu kontrollieren, sollte das auch bei Menschen- und Arbeitsrechten möglich sein.“ Das Einhalten von Gesetzen ist erst einmal eine Sache des Managements und der Compliance-Abteilung – sie müssen bei akuten Fällen sofort reagieren können. Aber über den Aufsichtsrat und den Wirtschaftsausschuss werden sich auch die Arbeitnehmervertreter mit dem Lieferkettengesetz auseinandersetzen müssen.

Von dem aktuellen Fall bei BASF erfuhr Manfred Brinkmann aus den lokalen Medien, bevor die Sache in Deutschland ein Thema wurde: Brinkmann ist Sozialattaché an der deutschen Botschaft und zuständig für die Themen Arbeit, Soziales und Gesundheit. Er ruft aus Brasilia an, jener futuristischen Hauptstadt, die im letzten Jahrhundert 70 000 Bauarbeiter für den Präsidenten Juscelino Kubitschek aus dem Boden stampften, und hat sofort Beispiele parat für Produkte, in denen Rohstoffe aus Brasilien stecken: „Ein Großteil des Orangensafts in deutschen Supermärkten kommt aus Brasilien. Karnaubawachs, das Haribo-Bären zum Glänzen bringt und sich in vielen Autopolituren findet. Brasilianisches Eisenerz steckt in den Blechen von Thyssenkrupp. Und brasilianische Paranüsse liegen im Regal deutscher Handelsketten.“ Dazu kommen Öl, Soja, Fleisch und vieles mehr. Der Gesamt-Exportwert im Jahr 2021: rund fünf Milliarden Dollar.

Im Gegenzug bezieht Brasilien aus Deutschland vor allem Maschinen, chemische Produkte und Teile für die Autoindustrie – im Jahr 2021 im Wert von rund zwölf Milliarden US-Dollar. Die Beziehungen sind traditionsreich. Deutsche Auswanderer kamen einst in großer Zahl, und deutsche Firmen genießen einen exzellenten Ruf. Rund fünf Prozent seiner Importe bezieht Brasilien aus Deutschland. Dorthin gehen umgekehrt nur 1,8 Prozent der brasilianischen Exporte. Größter Handelspartner ist heute China, gefolgt von den USA.

  • Eisenerztagebau in Carajás, Brasilien
    Eisenerztagebau in Carajás, Brasilien: Das wichtigste mineralische Exportgut des Landes

Auf der Jagd nach Rohstoffen

Dabei verfügt Brasilien über vieles, was die deutsche Industrie braucht. „Die Chancen sind riesig“, sagt Herwig Marbler, Geologe bei der Deutschen Rohstoffagentur (DERA), die die Wirtschaft bei der Versorgung mit Rohstoffen beraten soll. Weniger als die Hälfte der Landesfläche sei „lagerstättenkundlich detailliert kartiert und erforscht“. Dennoch wird eine Vielzahl verschiedener Metalle und Industrieminerale im Land gefördert. Das Angebot reicht von Eisenerz, Bauxit, Mangan, Nickel, Kupfer, Vanadium, Niob, Tantal und Zinn bis zu Gold und Edelsteinen.

Aktuell macht Eisenerz rund 75 Prozent der Exporterlöse mit mineralischen Rohstoffen aus. Doch das Land kann mehr. „Brasilien ist bereits heute eine wichtige Lieferquelle für eine ganze Reihe potenziell kritischer Rohstoffe, die derzeit aus Staaten mit hohem Länderrisiko bezogen werden“, sagt der DERA-Experte Marbler, „Tantal, das für Elektronik und Legierungen gebraucht wird, oder Nickel, das ebenfalls für Batterien, aber auch für rostfreien Stahl benötigt wird.“

Bald könnte auch Kobalt hinzukommen, das ebenfalls für wiederaufladbare Batterien benötigt wird. Aktuell kommen nahezu 70 Prozent der Weltproduktion aus der Demokratischen Republik Kongo, wo das Material zum Teil im Kleinbergbau gewonnen wird. Umwelt-, Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften werden dabei meist ignoriert. Eine von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studie der Unternehmensberatung P3 Group über Lithium-Ionen-Batterien mahnt gerade beim Kobalt an, für eine „ethische Versorgung“ sei „eine hohe Transparenz der gesamten Wertschöpfungskette und deren Rückverfolgung erforderlich“. Nicht ganz einfach im Kongo. Brasilien könnte ein alternativer Lieferant sein und zur Diversifizierung beitragen, so wie heute schon beim Nickel. Marbler berät die Partner gerade dabei, aus schwer aufzubereitenden Nickelerzen auch das enthaltene Kobalt zu extrahieren – etwa, indem Bakterien zur Laugung der Erze eingesetzt werden –, um den Chemikalien- und Energieeinsatz im Vergleich zur konventionellen Erzlaugung zu reduzieren.

Solche Projekte sind wichtig. Denn die Energiewende mit der fortschreitenden Elektrifizierung hängt in hohem Maße von Rohstoff- und Aufbereitungsfirmen ab, die oft als Oligopole organisiert sind, gerade bei der Aufbereitung mit einem steigenden Marktanteil Chinas. Die Böckler-Studie warnt, die Autoindustrie sei bei der Batterietechnik „stark von Bergbaukonzernen und Metallverarbeitern abhängig“, die für knappe Materialien wie Nickel in Batteriequalität oder Kobalt „hohe Gewinnspannen“ verlangten. Hier am Markt zu bestehen, ist schwierig, denn es gibt immer Mitbewerber aus Ländern, die nicht so genau hinschauen.

Dies gilt in Brasilien nicht nur für die Bodenschätze, sondern genauso für die riesige Agrarindustrie, die fast linear und schneller als andere Wirtschaftszweige wächst, während der Regenwald schwindet und die indigenen Völker um ihre Landrechte kämpfen. Im Agrarsektor sieht Sozialattaché Brinkmann die größten Probleme mit Blick auf Menschenrechtsverletzungen. Das Agrobusiness setzt auf Monokulturen, den Einsatz in Europa verbotener Pestizide und auf Gentechnik, um Soja, Mais oder Fleisch zu exportieren. Eine Studie aus dem Jahr 2020 unter Federführung der Bundesuniversität von Minas Gerais kam zu dem Schluss, dass rund ein Fünftel der jährlichen Exporte von Soja und Rindfleisch aus Brasilien in die EU in Zusammenhang mit illegaler Abholzung in Regenwäldern und Savannen stehen. Brasilien gilt deswegen als Schlüsselland im Kampf gegen den Klimawandel. Als im März der deutsche Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck Brasilien besuchte, war auch Landwirtschaftsminister Cem Özdemir dabei. Die Bekenntnisse der Brasilianer, bis 2030 die illegale Rodung des Regenwaldes zu stoppen und noch in diesem Jahr das  Freihandelsabkommen des Staatenbunds Mercosur mit der EU abzuschließen, stoßen allerdings auf Skepsis bei Umweltverbänden und auf die Kritik von Lobbyorganisationen, die negative Folgen wie eine Ausweitung der Fleischimporte fürchten.

Das Gesetz ändert die Spielregeln Das neue Lieferkettengesetz, das Unternehmen in Deutschland verpflichtet, Verantwortung für die ganze Lieferkette zu übernehmen, ist ein Paradigmenwechsel: Sozialstandards sollen jetzt selbst zum Exportgut werden. Der erfahrene Gewerkschafter Brinkmann hat das Gesetz für das brasilianische Publikum ins Portugiesische übersetzt, macht Informationsveranstaltungen dazu mit Unternehmen, Gewerkschaften und NGOs. Er sagt: „Mit dem Lieferkettengesetz gibt es erstmalig Sanktionsmöglichkeiten. Das ist wichtig. Alles bisher war mehr oder minder freiwillig.“

Wichtig sei jetzt, so Brinkmann, dass die im Lieferkettengesetz vorgeschriebenen Beschwerdemechanismen leicht zugänglich und mehrsprachig sind. Der Sozialattaché ist sich sicher: „Es wird bald erste Beschwerden geben. Gewerkschaften und NGO sitzen in den Startlöchern, um Opfer von Menschenrechtsverletzungen in Lieferketten zu unterstützen.“

„Kürzlich war ich bei Daimler Truck in São Bernardo“, berichtet Brinkmann. „Ich war beeindruckt, wie konsequent das Unternehmen das Gesetz umsetzt.“ Großen Unternehmen falle es leichter als Mittelständlern, die Zulieferer in die Pflicht zu nehmen, meint er. „Doch das Problem ist die Tiefe der Lieferketten. Was ist mit der Kohle, mit der Stahl für ein Bauteil gekocht wurde?“, fragt er. „In Brasilien wird Stahl teilweise mit Holzkohle erzeugt. Dazu wurden früher von europäischen Firmen riesige Eukalyptusplantagen angelegt. Bis heute aber gibt es immer wieder Berichte über Kinderarbeit in den Köhlereien. Wie verhindert man, dass solche Holzkohle in die Lieferkette gelangt?“

Das neue Gesetz verpflichtet erst einmal die Unternehmen. Aber natürlich waren die Gewerkschaften auch bisher nicht untätig. Davon zeugen Hunderte internationaler Rahmenabkommen mit multinationalen Konzernen. Es gibt Monitorings, freiwillige Selbstverpflichtungen. Und in Brasilien arbeitet das DGB-Bildungswerk mit dem Investigativteam Repórter Brasil zusammen, das Verstöße gegen Sozialstandards in Lieferketten aufdeckt und in Brasilien und Deutschland publik macht.

Die Rolle der Mitbestimmung

In erster Linie ist es natürlich Aufgabe des Vorstands, für die Einhaltung von Gesetzen zu sorgen – zumal bei einem Gesetz, das eher dem Wirtschafts- als dem Arbeitsrecht zuzurechnen ist. Die Arbeitsrechtlerin Reingard Zimmer, die gerade die praktischen Möglichkeiten untersucht hat, die sich durch das Gesetz für die Mitbestimmung bieten, sieht gleichwohl Möglichkeiten, den Spielraum zu erweitern, nicht nur für den Aufsichtsrat, der die Geschäftsführung kontrollieren muss und auch darüber zu wachen hat, ob die Pflichten des Lieferkettengesetzes eingehalten werden, sondern auch für Betriebsräte: „Arbeitgeberseitig dürfte, nicht zuletzt aufgrund der hohen möglichen Strafen, ein großes Interesse an einer gesetzeskonformen Implementierung der Pflichten des Lieferkettengesetzes bestehen, was Optionen für einvernehmliche Lösungen der Sozialpartner eröffnet.“ Sollte das nicht ausreichen, bliebe immer die Information des Bundesamts für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) – oder eben der „Gang an die Öffentlichkeit“.

Böckler-Experte Oliver Emons weist darauf hin, dass große Unternehmen schon gute Meldesysteme haben, etwa weil es Erfahrungen mit globalen Rahmenvereinbarungen gebe. Die Sorgfaltspflichten würden hier lediglich vertieft. Emons sieht Schwierigkeiten vor allem bei Firmen, für die das Thema neu ist. Diese könnten versucht sein, alles an All-inclusive-Anbieter wie Privatfirmen oder den TÜV zu delegieren, inklusive Zertifizierung aller Zulieferer. Hier sei oft die Methodik unklar. Emons sagt: „Da muss man als Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat selbst Stichproben und Überraschungsbesuche machen.“ Dafür brauche es dann auch Budgets. Außerdem wünscht er sich eine unabhängige, europäische Ratingagentur. Aktuell wird in Brüssel auch ein europäisches Lieferkettengesetz auf den Weg gebracht, um das noch gefeilscht wird. Es kann dazu führen, dass das deutsche Gesetz nachgebessert werden muss – oder dazu, dass es verwässert wird, etwa wenn die Unternehmerverbände sich mit einer Safe-Harbour-Klausel durchsetzen. Safe Harbour,  sicherer Hafen, wird eine Regelung genannt, die die Haftung für Unternehmen massiv reduziert. Wer dann ein Zertifikat vorweisen kann, würde nur noch bei Fahrlässigkeit oder grobem Vorsatz haften.

Hier sind mitbestimmte Unternehmen schon weiter. „Nachhaltigkeit und Sozialstandards sind in unserem Konzern schon lange an der Tagesordnung“, sagt etwa Mike Böhklen, Gesamtbetriebsratsvorsitzender für die Standorte Bremen und Bottrop bei ArcelorMittal. Der Metaller verweist auf die Zertifizierung nach dem Responsible-Steel-Standard und die Menschenrechtsleitlinie. Er sagt: „Die Betriebsräte sind involviert, und der Eurobetriebsrat schaut sich ausländische Standorte an.“

Doch im Tagesgeschäft ist der Terminkalender vieler Betriebsräte schon so bis zum Anschlag voll.  Dekarbonisierung, Konkurrenz um knappe Fachkräfte, schrumpfende Margen trotz Preiserhöhungen oder Umstrukturierungen sind Themen, die gerade die Agenda bestimmen. Da kann es sein, dass das Thema Lieferkettengesetz nicht immer die höchste Priorität hat. Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler plädiert „ganz entschieden“ dafür, zum Thema eine systematische Weiterbildung und Qualifizierung von Aufsichtsräten zu betreiben. Das gelte – auf freiwilliger Basis – auch für Betriebsräte. Über den Wirtschaftsausschuss sind auch sie im Boot und können über Betriebsratsvereinbarungen mit dem Arbeitgeber Gremien und Verfahren zum Umgang mit dem Lieferkettengesetz einrichten. Idealerweise werde eine Weiterbildung dann nicht zur lästigen Pflichtveranstaltung, sondern zu einem Lehrstück: „Ich erlebe immer wieder, dass Betriebsräte mir sagen: Das ist ja hochinteressant, da erkennt man Zusammenhänge, von denen man bisher kaum etwas wusste.“

Mehr zum Thema

Lieferkettengesetz

Das Lieferkettengesetz verpflichtet Unternehmen in Deutschland zur Achtung von Menschenrechten. Definierte Sorgfaltspflichten gelten für den eigenen Geschäftsbereich, für das Handeln eines Vertragspartners und das Handeln weiterer (mittelbarer) Zulieferer. Unternehmen müssen die Risiken in ihren Lieferketten ermitteln, bewerten und priorisieren. Bußgelder können bis zu acht Millionen Euro oder zwei Prozent des  weltweiten Jahresumsatzes betragen. Zudem können Unternehmen für drei Jahre von öffentlichen  Ausschreibungen ausgeschlossen werden.


Das BAFA

Wenn die unternehmensinternen Wege nicht mehr  ausreichen, kann man sich in Zukunft an die neue Außenstelle des Bundesamts für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) wenden, die die Einhaltung des Lieferkettengesetzes überwachen soll. Dazu steht ein Onlineformular zur Verfügung. Bis Mitte März war bei der BAFA aber noch keine Beschwerde eingegangen. Die BAFA kann dann beispielsweise Personen vorladen, Geschäftsräume betreten und Unterlagen einsehen und prüfen sowie zum Handeln auffordern, um die Sorgfaltspflichten einzuhalten. Die Umsetzung von hoheitlichen Maßnahmen ist auf das Gebiet der  Bundesrepublik Deutschland beschränkt.

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