zurück
Magazin Mitbestimmung

Von OTTO JACOBI und WALTHER MÜLLER-JENTSCH: Sozialer Kapitalismus: Gegen die Schwarzmaler

Ausgabe 03/2017

Debatte Warum ist es unter linken Wissenschaftlern so angesagt, das deutsche Modell herunterzureden? Und die Europäische Union als neoliberales Konstrukt zu schmähen? Unsere Autoren halten faktenreich dagegen.

Von OTTO JACOBI und WALTHER MÜLLER-JENTSCH

Zahlreich und vernehmbar melden sich derzeit Gesellschaftskritiker zu Wort. Sie verkünden das Ende des sozialstaatlichen Kapitalismus; und sie beschwören eine fundamentale Krise des deutschen Systems der Arbeitsbeziehungen – samt Tarifautonomie und Mitbestimmung – in einem neoliberalen Europa herauf.

Die Kritik aus dem linken Lager kapriziert sich auf drei Punkte. Erstens: Das Modell Deutschland habe seine Reformkraft durch neoliberale Strategien von Staat und Kapital eingebüßt. Zweitens: Die Lohnpolitik habe zur Stagnation und Senkung der Löhne geführt und die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie zu Lasten anderer Länder gestärkt. Und drittens: Die Europäische Union sei ein neoliberales Projekt, das mehr spalte als vereine.

Stellvertretend stehen für diese Kritik der Politikwissenschaftler Wolfgang Streeck und der US-Ökonom Joseph Stiglitz, deren Bücher „Gekaufte Zeit“ und „Europa spart sich kaputt“ die Leitplanken für eine Politik der Renationalisierung abgeben.Wir halten ihre Diagnose für eine schiefe Wahrnehmung deutscher und europäischer Realität. Eine Ablehnung des Euro und die Rückkehr zu nationalstaatlicher Autonomie ist eine Illusion, die die Ohnmacht des Nationalstaates verkennt. Linker Sozialpopulismus und rechter Nationalpopulismus bewegen sich auf einem Irrweg in ihrem Kampf gegen das europäische Projekt. Die Übereinstimmungen zwischen linker Kritik und rechten Attacken sind irritierend und erinnern fatal an das Ende der Weimarer Republik.

Wir unterziehen die drei genannten Kritikpunkte einem Faktencheck.Und wir finden: Das Modell Deutschland hat Zukunft – sicher, es ändert sich Einiges, aber Endzeitstimmung ist nicht angebracht.

Schwarzes Tableau

Auch der Industriesoziologe Klaus Dörre verkündet das Ende des im „Modell Deutschland“ manifestierten sozialstaatlichen Kapitalismus. An seine Stelle sei ein neoliberales politisches Regime getreten, in dem den Gewerkschaften nur noch eine untergeordnete Rolle zufalle. Mit seinem populären Traktat über die „Abstiegsgesellschaft“ trägt der Wirtschaftssoziologe Oliver Nachtwey, wenn auch in differenzierterer Tonlage, zu diesem schwarzen Tableau bei.

Wir halten dagegen: Schon die auf politischer Ebene erfolgten Reformen – wie Mindestlohngesetz, abschlagfreie Rente mit 63, Gesetzesvorhaben zur Einschränkung von Leiharbeit und Werksverträgen, Maßnahmen zur Stärkung der Tarifautonomie – sprechen gegen die Behauptung eines neoliberalen Regimes. Zwar sind die Gewerkschaften insgesamt durch Mitgliederverluste und Rückgang der Tarifbindung geschwächt. Gleichzeitig konnte seit 2010 die IG Metall als größte und kampfstärkste Gewerkschaft ihre Mitgliederbasis durch leichte Zugewinne stabilisieren.

Und trotz der Schrumpfung des Kernbereichs stabiler industrieller Beziehungen sind Tarifverträge und betriebliche Mitbestimmung immer noch die prägenden Institutionen zur Gestaltung der Lohn- und Arbeitsbedingungen in Deutschland. Der italienische Politikwissenschaftler Angelo Bolaffi hält die eingespielte und weiterhin funktionierende Sozialpartnerschaft für einen „Eckpfeiler, wenn nicht gar das Fundament des Modells Deutschland“.

Gewerkschaften und Betriebsräte erwiesen sich in der Krise von 2008 als kompetente Mitgestalter und Krisenbewältiger in einem „Krisenkorporatismus“, so IG-Metall-Vorstandsmitglied Hans-Jürgen Urban. In der Tat konnten die Verwerfungen der Krise wie in keinem anderen europäischen Land aufgefangen werden: Konjunkturspritzen, Verlängerung der Kurzarbeit als Beitrag der Regierung, Verzicht auf Massenentlassungen seitens der Unternehmer und Lohnmäßigung der Gewerkschaften waren die Bestandteile, die der Bundesrepublik die volle Teilnahme am nachfolgenden Aufschwung ermöglichten. Was in der ausländischen Presse als „deutsches Beschäftigungswunder“ bestaunt wurde, verdankte sich primär dieser tripartistischen Orchestrierung, an der auch die Betriebsräte ihren Anteil hatten.

Ein weiteres Beispiel für den deutschen Korporatismus ist die 2014 von der IG Metall ergriffene Initiative zur Gründung der Plattform „Bündnis Zukunft der Industrie“, an der das Bundeswirtschaftsministerium sowie die Unternehmensverbände und Gewerkschaften des Industriesektors (Bau, Chemie, Metall- und Elektroindustrie) beteiligt sind. Sie stehen für einen „New Deal für Technologie- und Investitionsförderung“ und sprechen sich in dem Gründungsdokument für eine Sozialpartnerschaft aus, die Arbeitsplatzsicherung, Mitbestimmung und Tarifautonomie als wesentliche Komponenten einschließt. Auch die Mitbestimmung, die in neoliberalen Diskursen nicht selten als Innovationsbremse gehandelt wird, wird in neueren Untersuchungen, wie in der Betriebsrätebefragung des WSI von Kriegesmann/Kley als „Innovationstreiber“ anerkannt.

Seit der gut bewältigten Finanzkrise stieg hierzulande die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten um fast drei Millionen und die Quote der Erwerbslosen fiel um 4,3 Prozent – gemäß ILO-Zahlen. Sicher, die Reallöhne sanken seit 2001 um 5,7 Prozent. Seit 2010 stiegen sie dann aber wieder um 9,6 Prozent. Die Vorwürfe an die Tarifpolitik der Gewerkschaften, dass hierzulande Lohnzurückhaltung, manche sagen Lohndumping, betrieben wird, beziehen sich allein auf den Zeitraum von 2001 bis 2009. Damals fiel die Lohnquote (Lohneinkommen am Volkseinkommen) von 71 Prozent auf ihren Tiefpunkt von 63,6 Prozent, kletterte danach bis 2016 auf über 68 Prozent. Die Lohnmaschine der Gewerkschaften ist also wieder auf vollen Touren, in anderen Ländern, wie etwa Italien, verharrt sie in Stagnation.

Die Lohnmaschine brummt wieder

Was ist von dem Vorwurf zu halten, durch die Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften habe Deutschland seine Exporterfolge auf Kosten der europäischen Partnerländer erzielt? Entgegenzuhalten ist dem, dass in der deutschen Exportindustrie die Löhne seit 2007 weit überproportional gestiegen sind: die Tariflöhne in der Metallverarbeitung um 30 Prozent, die Effektivlöhne um 23 Prozent. Wir stimmen Jörg Hofmann, dem Vorsitzenden der IG Metall, zu, dass die deutschen Exporte „nicht-preislichen Wettbewerbsfaktoren wie Produktqualität und -komplexität“ ihren Erfolg verdanken.

Geflissentlich wird übersehen, dass Deutschland auch der drittgrößte Importeur der Welt ist. Viele Vorprodukte für die Automobilindustrie liefern Zulieferer aus ost- und mitteleuropäischen Ländern. Eine drastische Reduzierung der Exporte würde sie empfindlich treffen. Um den Überschuss der Exporte auf ein erträgliches Niveau zu senken, bieten sich Investitionen in die Infrastruktur, das Bildungswesen und die öffentliche Daseinsvorsorge als produktivere Variante an.

Soziale Errungenschaften in der EU

Auch die Abkehr vom Euro und die Wiedereinführung nationaler Währungen in Form eines Systems fester Wechselkurse werden von „linken“ Kreisen gefordert, Lexit heißt das Stichwort. Ausführlich haben der Politikwissenschaftler Klaus Busch und verdi-Vorsitzender Frank Bsirske in den Blättern für deutsche und internationale Politik (1/2017) gezeigt: Ein solcher Ausbruchsversuch würde gerade in den schwächeren Euroländern zu sozialen Nachteilen führen. Die mit der Rückgewinnung nationaler Souveränität erhoffte Unabhängigkeit ist reine Illusion, da Währungssysteme immer von Führungsnationen gesteuert werden. Lehrreich sollte auch die historische Erfahrung wiederkehrender Währungsturbulenzen sein, die professioneller Spekulation ein beliebtes Angriffsziel gegen schwache Währungen boten.

Die Bemühungen, die Gemeinschaftswährung zu stabilisieren, sind zwar unvollkommen, gehen aber in die richtige Richtung: Der Europäische Stabilitätsmechanismus als Rettungsschirm für überschuldete und deshalb Insolvenz gefährdete Länder, die Bankenunion mit Beaufsichtigung aller Banken und Abwicklung bankrotter Institute sowie eine expansive Geldpolitik der EZB haben in langwierigen Verhandlungsprozessen Reformfähigkeit demonstriert. Mit den genannten Reformen wurde die Anfälligkeit des Euro gegen Schocks verringert und Impulse für Wachstums- und Beschäftigung freigesetzt. Der Wirtschaftsprofessor Peter Bofinger stellte in einem Gespräch mit der IG Metall klar: „Die EZB ist nicht für alles zuständig. Was sie machen kann, und das versucht sie, ist für stabiles Wachstum zu sorgen und für Arbeitsplätze. Und ich finde, das hat sie ganz ordentlich gemacht. … Als deutscher Arbeitnehmer kann man sich bei der EZB nicht beschweren.“

Obwohl die soziale Dimension im vereinigten Europa noch wesentlich schwächer ausgeprägt ist als die wirtschaftliche, ist es frivol, die EU und ihre Sozialpolitik als eine „Liberalisierungsmaschine“ zu charakterisieren. Es ist für uns nicht nachvollziehbar, wenn sozialpolitische Richtlinien der EU – wie etwa die Entsende-Richtlinie, die Dienstleistungs-Richtlinie oder die Richtlinie zur Chancengleichheit genauso wie die Institutionen des Europäischen Betriebsrats und des Sozialen Dialogs und die mittlerweile im EU-Primärrecht verankerte Grundrechtecharta als neoliberale Instrumente bezeichnet werden.  Als EU-Kommissionspräsident Jacques Delors 1989 die Sozialcharta erstmals zur Diskussion stellte, erschien sie Margret Thatcher noch als „marxistisch“. Heute erkennen wir – mit dem Arbeitsrechtler Manfred Weiss – in ihr die „Konturen dessen, was als Europäisches Sozialmodell firmiert“.

Träger des Sozialstaates

Wir halten es für kontraproduktiv, wenn die Erfolge der deutschen Gewerkschaften kleingeredet werden. Dezidiert linke Kollegen qualifizieren sie als „fraktale“ Organisationen ab, deren Interessenpolitik auf „exklusive Solidarität“, so Klaus Dörre, und „subalterne Anpassung“, so Frank Deppe, an die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft ausgerichtet sei und die zu bloßen Vertretungen von „relativ privilegierten Oberschichten der Arbeiterklasse“ (Deppe) verkommen seien.

Wir betonen demgegenüber die aktive und integrative Rolle der Gewerkschaften, die sie zur Stärkung und Ausgestaltung des Sozialstaates und zur Bewältigung aktueller Wirtschafts- und Beschäftigungskrisen übernehmen. Sie haben das heutige Gesicht der Sozialen Marktwirtschaft mitgeprägt, indem sie – nicht im Sinne der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“, sondern im Sinne Müller-Armacks – der sozialen Komponente die gleiche Bedeutung beimaßen wie der wettbewerblichen. Wir raten den Gewerkschaften, den Begriff der Sozialen Marktwirtschaft positiv mit ihren Inhalten zu besetzen.

Angesichts der kritischen Lage, in der sich die EU politisch befindet, halten wir es für geboten, deutlich kundzutun, was wir bei einem Zerfall der EU verlieren würden – bei aller berechtigten Kritik an ihren sozialen Defiziten. Der Brexit dürfte eine Lehre dafür sein, wie negative Botschaften und Miesmacherei gegen Brüssel die Stimmung in der Bevölkerung gegen die EU aufheizen können. Wir ziehen auch eine Lehre aus der Weimarer Demokratie, die nicht zuletzt daran zugrunde ging, weil es zu wenige Demokraten gab, die sie aktiv verteidigten.

Bei alledem wollen wir die sozialen Verwerfungen und Ungerechtigkeiten in unserem Lande und in Europa nicht schönreden – sie sind gravierend genug und lassen uns nicht kalt. Sie zu beheben, bedarf es unermüdlicher solidarischer Anstrengungen aller progressiven Kräfte. Eine teilweise Rücknahme der negativen Folgen der Agenda 2010 ist geboten. Aber: Je fester das Sozialkorsett von sozial regulierter Marktwirtschaft in einem sozialen Europa, desto günstiger sind die Erfolgsaussichten, Verfestigungen einer gesellschaftlichen Spaltung entgegenzuwirken.

Foto: European Communities, 2009

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrerm Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen