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Besuch der Fabrik des Automobilzulieferers neapco in Praszka in Schlesien; jeder Dritte der rund 1000 Beschäftigten ist bei der Solidarnosc organisiert. Magazin Mitbestimmung

Von ANDREAS MOLITOR: So nah und doch so anders: Mit dem DGB in Polen

Ausgabe 12/2017

Reportage Der DGB in Westbrandenburg organisiert Besuche zwischen deutschen Gewerkschaftern und ihren polnischen Kollegen von der Solidarność. Vielfach geht es bei den Betriebsbesuchen um Verlagerungen von Jobs und Werken.

Von ANDREAS MOLITOR

Die Besucher aus Deutschland schauen reichlich irritiert. Was will ihr polnischer Gastgeber ihnen da gerade erklären? „Dieses Kreuz hing immer in unserer Fabrik“, sagt Waldemar Kościelny mit ehrfürchtiger Stimme und zeigt auf das große Kruzifix mit dem leidenden Herrn an der Wand des Gewerkschaftsbüros. „Auch während des Kriegsrechts in den 80er Jahren hat kein Parteifunktionär sich getraut, es abzuhängen.“ Einer tat es dann doch.

„Und dann“, erzählt der Vorsitzende der Solidarność-Betriebsorganisation beim Autozulieferer neapco im schlesischen Praszka, „bekam er an der Hand, mit der er das Kreuz heruntergenommen hatte, eine Geschwulst. Die ließ er sich wegoperieren, aber sie wuchs immer wieder nach, bis heute.“ Die Gewerkschafter aus Deutschland stehen vor dem Kreuz und schweigen. Zeichen und Wunder zählen nicht zu ihren bevorzugten Aktionsformen.

Detlef Almagro-Velázquez kennt das schon. Seit fast zehn Jahren treibt der Gewerkschaftssekretär der DGB-Region Westbrandenburg den Erfahrungsaustausch zwischen deutschen Gewerkschaftern und ihren polnischen Kollegen von der Solidarność voran, jener stolzen Gewerkschaft, die 1980 aus einer Streikbewegung entstanden war und mit ihren Protesten zum Sturz des Kommunismus in Polen beitrug. Er hat auch diesmal die Fahrt der deutschen Gewerkschaftsdelegation zur Fabrik nach Praszka mitorganisiert; mal sind ver.di-Kollegen, mal Metaller im Minibus in Richtung der schlesischen Partnerstadt Opole unterwegs.

Finanziert wird der Austausch von der Friedrich-Ebert-Stiftung Warschau, der Otto Brenner Stiftung und dem DGB-Bezirk Berlin-Brandenburg. Man kennt sich, der Umgangston ist herzlich. Doch auch nach zwei Dutzend deutsch-polnischer Treffen bleibt vieles ungewohnt. Gewerkschaften hier und dort, das ist eben nicht das Gleiche. Obwohl Ostdeutschland und Polen fast zeitgleich aus der sozialistischen Planwirtschaft in den Kapitalismus entlassen wurden, sind Selbstverständnis, Arbeitsweise und Mitbestimmungsrechte der Gewerkschaften kaum vergleichbar. Ganz zu schweigen von der tiefen Verwurzelung der Solidarność im Katholizismus.

Die Betriebsgewerkschaften sind das Maß der Dinge

Angekommen in Polen, merken die deutschen Besucher meist schon beim ersten Abendessen mit ihren Gastgebern, dass im Nachbarland in puncto Mitbestimmung vieles ganz anders funktioniert. Es gibt dort so gut wie keine Betriebsräte. Und wenn doch, werden sie von den Gewerkschaften als Konkurrenzorganisation wahrgenommen. „Mit unserem Verständnis können wir da gar nicht rangehen“, urteilt Markus Schlimbach, designierter Vorsitzender des DGB-Bezirks Sachsen und Präsident des Interregionalen Gewerkschaftsrats (IGR) Elbe-Neiße. „Flächentarifverträge beispielsweise kennen die polnischen Kollegen so gut wie gar nicht. Tarifverträge werden, wenn überhaupt, in erster Linie auf betrieblicher Ebene abgeschlossen. Ein Denken über den Betrieb hinaus existiert bei den betrieblichen Gewerkschaftsorganisationen eher nicht.“

GEWERKSCHAFTSMITGLIEDSCHAFT ERST AB ZEHN BESCHÄFTIGTEN

Nur Mitarbeiter von Betrieben mit mindestens zehn Beschäftigten können sich in Polen gewerkschaftlich organisieren. Da Polens Wirtschaftsstruktur nach wie vor von Klein- und Kleinstbetrieben geprägt ist – mehr als 90 Prozent aller Betriebe haben weniger als zehn Beschäftigte –, können mehr als 40 Prozent der polnischen Arbeitnehmer nicht Mitglied einer Gewerkschaft werden. Auch den Arbeitslosen sowie den sogenannten „Solo-Selbstständigen“, die über Werkverträge beschäftigt sind, ist die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft verwehrt. Vor diesem Hintergrund verwundert der Organisationsgrad von rund 16 Prozent (bei den unter 24-Jährigen: unter ein Prozent) nicht.

Detlef Almagro-Velázquez versorgt seine Delegationsteilnehmer vor Antritt der Fahrt mit einem Infopaket über Stellung und Rechte der polnischen Gewerkschaften. Früher musste er schon mal den einen oder anderen deutschen Kollegen dezent ermahnen, bitte nicht allzu schulmeisterlich aufzutreten. Zwar haben deutsche Betriebsräte deutlich mehr gesetzlich verankerte Mitbestimmungsrechte als die Gewerkschafter in Polen, wo vieles vom Goodwill des Arbeitgebers abhängig ist. Allerdings sollte das auf keinen Fall dazu verleiten, „mit unserem Betriebsverfassungsgesetz unterm Arm den polnischen Kollegen zu erklären, wie man einen Betriebsrat gründet“.

Die Basis der polnischen Gewerkschaften ist der Betrieb. Grob geschätzt, gibt es in Polen fast 25 000 einzelne Betriebsgewerkschaften. Drei Viertel von ihnen gehören einem der drei großen Dachverbände an: Solidarność, OPZZ und Forum ZZ. In den Betrieben stehen die Gewerkschaften in heftiger Konkurrenz zueinander. „In Großbetrieben versuchen mitunter 20 oder mehr Gewerkschaften, sich gegenseitig das Wasser abzugraben und mit dem Arbeitgeber einen Tarifvertrag auszuhandeln“, berichtet Markus Schlimbach. Bei den Besuchen der Delegationen aus Westbrandenburg achten die Gastgeber von der Solidarność streng darauf, dass kein Vertreter der konkurrierenden Gewerkschaften mit am Tisch sitzt.

Der Autozulieferer neapco hat jetzt einen Tarifvertrag

Bei der Besichtigung der Fabrik in Praszka 70 Kilometer nordöstlich von Opole, einer Niederlassung des US-Automobilzuliefererkonzerns neapco, präsentieren sich die Gastgeber außerordentlich selbstbewusst. Immerhin ist jeder Dritte der gut 1000 Beschäftigten in der Solidarność organisiert. Nach mehrjährigen Verhandlungen konnte die Gewerkschaft einen Tarifvertrag unter Dach und Fach bringen, ein großer Erfolg, auch wenn man, wie der Solidarność-Vorsitzende Waldemar Kościelny es ausdrückt, „mit den Löhnen noch ein wenig hinterherhängt“.

Der Betrieb hat harte Zeiten hinter sich; seit dem Ende des Kommunismus wechselte er sechsmal den Besitzer. Vergilbte Fotos mit ausgezehrten, auf Pritschen liegenden Arbeitern erinnern daran, dass die von der Solidarność organisierte Belegschaft sogar vor einem Hungerstreik gegen drohende Entlassungen nicht zurückschreckte. Wer die Gewerkschaftsfunktionäre erzählen hört, käme nicht auf die Idee, dass die Solidarność unter starkem Schwund leidet: von 9,5 Millionen Mitgliedern Anfang der 80er Jahre auf heute noch rund 400 000.

Gerade ein paar Minuten sitzen die deutschen und polnischen Gewerkschafter im Solidarność-Büro von neapco beisammen, da kommt, wie selbstverständlich, Personalchef Karol Stróżyk hinzu. Die Solidarność-Funktionäre genießen sichtlich seine Komplimente. Der Manager lobt die „konstruktiven Verhandlungen“, jede Woche trifft er sich mit den drei im Betrieb vertretenen Gewerkschaften. In der Tat wurde neapco von der Solidarność als „arbeitnehmerfreundliches Unternehmen“ ausgezeichnet. Als 2008, in der Wirtschafts- und Finanzkrise, 150 Mitarbeiter entlassen wurden und kein Geld für einen Sozialplan da war, initiierte die Solidarność, dass jeder Mitarbeiter auf zehn Urlaubstage verzichtete. Aus der eingesparten Lohnsumme wurden Abfindungen für die entlassenen Mitarbeiter bezahlt, „die alle freiwillig gegangen sind“, wie Waldemar Kościelny betont.

Hightech in Polen, abgerockte Fabrik in Brandenburg

Später, beim Rundgang durch die Produktion, schauen besonders die drei mitgereisten Betriebsräte des Automobilzulieferers Alu-Druckguss aus Brieselang, westlich von Berlin, ganz genau hin. Überall sehen sie moderne Maschinen, viele davon brandneu. In der großen Halle könnte man vom Fußboden essen. 40 Millionen Euro wurden in den vergangenen drei Jahren in die Fabrik investiert; eine Abluftabsaugung sorgt für saubere Atemluft. „Eine solche Anlage bräuchten wir auch ganz dringend“, sagt René Kolacny, der Betriebsratsvorsitzende von Alu-Druckguss in Brieselang.

Der israelische Mutterkonzern Tadir-Gan, der das Unternehmen vor fünf Jahren gekauft hat, lehnt die Investition jedoch kategorisch ab: zu teuer. Ein Großteil der Beschäftigten des nicht tarifgebundenen Unternehmens erhält kaum mehr als den Mindestlohn, die Maschinen werden auf Verschleiß gefahren. Als eine polnische Delegation aus Opole und Praszka im Frühjahr in Brieselang war, zeigten sich die Besucher erschüttert, wie abgerockt manches aussah – und das im sonst so vorbildlichen Deutschland.

DER INTERREGIONALE GEWERKSCHAFTSRAT HAT VIEL ZU TUN

Seit Jahren nutzen deutsche Unternehmen die niedrigeren Löhne und Sozialstandards in Polen und verlagern grenznah Fabriken und Jobs. So sitzen am Steuer der Lieferfahrzeuge von DHL in der Grenzregion neuerdings auch polnische Subunternehmer ohne soziale Absicherung. Aber man unterstützt sich auch. Als ver.di im Dezember 2014 bei Amazon in Leipzig zum Streik aufrief, kam eine 40-köpfige Solidarność-Abordnung. „Umgekehrt haben wir die polnischen und tschechischen Kollegen über die Praktiken von Amazon informiert und gemeinsam über den Aufbau von Gewerkschaftsorganisationen beraten“, sagt Markus Schlimbach, designierter Vorsitzender des DGB-Bezirks Sachsen und Präsident des Interregionalen Gewerkschaftsrats (IGR) Elbe-Neiße. Als das Versandunternehmen ankündigte, in Polen und Tschechien neue Versandzentren zu eröffnen, „haben wir uns gleich mit den Kollegen getroffen, damit sie nicht überrollt werden“. Vor allem Schlimbachs Kollegin Anna Bernstorf hat den IGR Elbe-Neiße zu einem Forum erfolgreicher Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaften aus Sachsen, Niederschlesien und Nordböhmen entwickelt.

Der Betriebsrat aus Brieselang, René Kolacny, hat noch ein spezielles Anliegen mit nach Polen genommen. Vor einigen Jahren hat Alu-Druckguss einen Betrieb im niederschlesischen Nowa Sól gekauft, etwa 90 Kilometer östlich der deutsch-polnischen Grenze gelegen, der derzeit massiv ausgebaut wird. Etliche Maschinen aus Brieselang wurden schon über die Grenze geschafft und in Nowa Sól wieder aufgestellt. „Bei uns weiß keiner, wie es weitergeht“, sagt Kolacny, „es gibt auch keinerlei Information.“ Der Versuch, Kontakt zur Belegschaft im polnischen Schwesterbetrieb aufzunehmen, scheiterte: Es gibt dort weder einen Betriebsrat noch eine Gewerkschaftsorganisation.

Detlef Almagro-Velázquez sprach schließlich Solidarność-Funktionär Waldemar Kościelny auf das Problem an. „Wir dachten, dass Waldemar vielleicht mal nach Nowa Sól fährt und mit der Geschäftsführung spricht“, sagt ein enttäuschter Gewerkschaftssekretär. „Aber da hat sich wohl nichts getan.“

Wenn er so etwas hört, kann sich Detlef Krebs richtig aufregen. Der Vize-Betriebsratsvorsitzende des Hennigsdorfer Elektrostahlwerks war schon etliche Male bei Treffen mit den polnischen Kollegen dabei. Er wundert sich, warum die polnischen Kollegen oft so zahm sind. „Wenn die Arbeitnehmer glauben, sie müssten dem Unternehmer zu Gefallen sein, geben sie ihren Einfluss leichtfertig her und haben dann ein Problem mit ihrer eigenen Identität“, sagt er. Auch bei seinen Besuchen in Polen nimmt der streitbare Metaller es mit der diplomatischen Zurückhaltung nicht so genau. Bei der Frage des Emissionshandels beispielsweise las er den polnischen Kollegen, die den Zusammenhang zwischen Kohleverstromung und Klimawandel vehement bestritten, die Leviten.

Die Gewerkschaft Solidarność ist auf PiS-Kurs

In der Regel werden strittige Themen umschifft, eine gewisse Konsensseligkeit liegt über den Gesprächsrunden. Diskussionen über die jüngsten Veränderungen in der polnischen Innenpolitik oder erst recht über die Flüchtlingsfrage werden von polnischer Seite abgeblockt. Hier ist die Solidarność straff auf den Abschottungskurs der regierenden rechtskonservativen Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) eingeschwenkt, nachdem die bürgerlich-liberale Vorgängerregierung die Gewerkschaften mit einem stramm unternehmerfreundlichen Kurs gegen sich aufgebracht hatte.

Vor allem die Solidarność zeigt sich außerordentlich zufrieden mit den jüngsten sozialen Wohltaten der PiS-Regierung: Einführung eines Kindergeldes von 115 Euro pro Kind, Erhöhung des Mindestlohns, Senkung des Rentenalters, forcierter Sozialwohnungsbau.

Zum Abschluss der Visite bei neapco bleiben fünf Minuten für die Diskussion. Der Betriebsratsvorsitzende von Alu-Druckguss erinnert noch einmal an sein Anliegen. „Wir sehen, wie unsere Maschinen nach Polen gehen, und spüren, wie die Luft für uns langsam dünner wird.“ Solidarność-Chef Waldemar Kościelny, unter dem Porträt des Papstes sitzend, verspricht, sich zu kümmern. Dann werden noch die Geschenke überreicht. Die Deutschen haben Kaffeetassen mitgebracht, die Polen überreichen Papiertüten mit Thermoskannen. Passt doch ganz gut zusammen.

Aufmacherfoto: Michael Hughes

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