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Magazin Mitbestimmung

Interview: „So etwas hatten wir noch nicht erlebt“

Ausgabe 04/2013

Georg Leutert, Sekretär des Europäischen Betriebsrats von Ford, über Belastungsproben für die EBR-Arbeit, wenn Standorte geschlossen werden. Das Gespräch führte Carmen Molitor

Im Oktober 2012 kündigte die Ford die Schließung der Werke in Genk, Belgien, und Southampton, Großbritannien, sowie die Aufgabe von Presswerk und Werkzeugbau im ebenfalls britischen Dagenham an. Wie war es da um die Solidarität im Europäischen Betriebsrat bestellt?
Es ist nicht das erste Mal, dass Ford in Europa ein Werk schließt. Üblicherweise wurden diese Vorgänge eher national gelöst – auch weil Ford ein Unternehmen ist, das nationale und lokale Arbeitnehmervertretungen eigentlich ernst nimmt und faire, offene Verhandlungen auf dieser Ebene führt. Der EBR kam immer erst ins Spiel, wenn ein Thema mindestens zwei Länder betraf. Dass gleich die Arbeitnehmer an allen Standorten auf die Straße gehen, wenn in einem Land etwas passiert, ist ein sehr, sehr hoher Anspruch. Grundsätzlich sollte man das Thema Solidarität im Europäischen Betriebsrat nie überstrapazieren. Man darf doch von Europa nichts erwarten, was national häufig auch nicht funktioniert. Allerdings haben die Schließungen in Belgien und England eine komplett neue Qualität. Sie sind deshalb ein Problem von uns allen.

Inwiefern?
Für das Werk Genk in Belgien gab es eine nationale Investitionssicherungsvereinbarung, die das Unternehmen einseitig gebrochen hat. So etwas hatten wir noch nicht erlebt. Bisher galt: Was schriftlich vereinbart ist, wird eingehalten. Wenn es nicht einzuhalten war, weil sich etwas verändert hatte, dann wurde über eine entsprechende Kompensation verhandelt. Jetzt hat das Management einfach erklärt: „Wir machen das Werk zu, Feierabend.“

Den Eurobetriebsrat gibt es bei Ford durch eine freiwillige Vereinbarung seit 1996. Hat die Krise das Klima verändert?
Die Krise hat zum Ausdruck gebracht, was sich bereits andeutete. Dass nämlich die Beziehungen untereinander nicht mehr stimmten. Das hat viel mit einem Generationswechsel zu tun. Wir waren bei Ford ja der erste EBR, der sich ein Verhandlungsrecht erstritten hat. So haben wir wegweisende Vereinbarungen bei Restrukturierungen erreicht, zum Beispiel bei Visteon schon im Jahr 2000 und dem Joint Venture im Schaltgetriebe-Bereich kurz danach. Unser Problem ist, dass fast alle Kollegen, die bei diesen Verhandlungen dabei waren, ausgeschieden sind. Der letzte Mohikaner ist der EBR-Vorsitzende Dieter Hinkelmann aus der Kölner Ford-Europa-Zentrale, der im Juni in den wohlverdienten Ruhestand geht.

Wieso konnte der Generationswechsel die Schlagkraft des Eurobetriebsrats schwächen?
Die alten und die neuen EBR-Kollegen haben sich kaum über Erfahrungen und Ergebnisse der Arbeit ausgetauscht. Das Erbe wurde nicht weitergegeben. Das ist in der Krise dann richtig durchgeschlagen. Es zeigte sich, dass die Kollegen sich untereinander durchaus misstrauen. Die Bereitschaft zur Solidarität scheint mir nur eingeschränkt vorhanden zu sein. Viele gehen wohl davon aus, dass der andere im Zweifel sowieso denkt: „Mein Standort zuerst!“

Wie haben die betroffenen Kollegen im EBR auf die Schließungspläne reagiert?
Sehr unterschiedlich. Ausgerechnet die Engländer, die ich im EBR lange Zeit sehr passiv erlebt habe, waren die Ersten, die sagten: „Wir müssen jetzt etwas zusammen machen.“ Sie sind nach Köln gekommen und haben gefragt: „Wie habt ihr damals euren Werkzeugbau gerettet? Was können wir von euch lernen? Wie könnt ihr uns unterstützen?“ Die belgischen Kollegen hingegen haben der IG Metall vorgeworfen, hinter den Schließungsplänen zu stecken. Ihre Dolchstoßlegende lautet: Die Deutschen wussten von den Plänen und haben das Management davon überzeugt, keinen deutschen Standort zu schließen, sondern den belgischen. Das hat mich auch persönlich schwer getroffen. Wenn man solche Vorwürfe hört, ist Unterstützung schwierig. Wir sind aber trotzdem im November 2012 mit über 500 Kollegen aus Köln zur Demo nach Genk gefahren.

Wie kann es angesichts dieses Misstrauens im EBR weitergehen?
Bei der nächsten Sitzung im Mai wird es in erster Linie um uns selbst gehen. Wir nehmen uns die Zeit, um über unsere Zusammenarbeit, unser Selbstverständnis zu reden. Wir wollen aus den Ereignissen in der Krise lernen. Wir werden gemeinsam überlegen, was wir zurzeit realistisch voneinander erwarten können und sollten. Meine Hoffnung ist, dass die Kollegen sagen werden: „Wir wollen zusammenarbeiten, wir wollen überlegen, was unsere gemeinsame Strategie ist.“ Denn der Kampf wird weitergehen. Wer sich heute sicher fühlt, kann morgen das nächste Opfer sein.

Die Beschneidung von Arbeitnehmerrechten und Eingriffe in die Tarifautonomie gelten in Brüssel und anderswo als probate Instrumente zur Bekämpfung der Schuldenkrise. Ist das ein Thema, das mit einem Mehrwert für alle im EBR diskutiert werden kann?
Wenn wir lernen, uns ungeschminkter die Wahrheit sagen. In Spanien zum Beispiel ist vor kurzem eine neue Arbeitsgesetzgebung in Kraft getreten – wegen der Schuldenkrise. Natürlich hat Ford sofort zu den Gewerkschaften gesagt: „So, Freunde, jetzt wollen wir die neuen Gesetze hier im Werk innerhalb des Tarifvertrages durchsetzen.“ Also müssen die spanischen Kollegen uns in der nächsten EBR-Sitzung offen und ehrlich berichten, wie sie das verhandeln, zu welchen Zugeständnissen sie bereit sind. Diese Probleme haben die andern doch morgen auch!

Wie beurteilen Sie den Umgang anderer Eurobetriebsräte mit der Absatzkrise in der Automobilindustrie? Opels Arbeitnehmervertreter hatten sich auf eine europaweite Strategie des „equal share of pain“, des „gerechten Anteils an schmerzhaften Einschnitten“, verständigt.
Ja, Hut ab, das ist im Prinzip das absolut Größte, was man an europäischer Solidarität machen kann. Aber leider ergibt es betriebswirtschaftlich überhaupt keinen Sinn, denn wenn bei Überkapazitäten jeder etwas abgibt, werden alle Werke schlechter. Damit hilft man niemandem. Der Opel-EBR ist darüber fast auseinandergebrochen. Die Engländer haben eine eigene Vereinbarung gemacht, die Polen auch. Ich gebe offen zu, dass ich nicht weiß, was der beste Ausweg ist.

Gibt es einen EBR, dessen Strategie durch die Krise Sie für vorbildlich halten?
Sicher schauen wir alle immer auf VW, wohl wissend, dass es dort ein Mehr an Mitbestimmung, eine breitere Machtbasis gibt als bei uns. Als VW das Werk in Brüssel zumachen wollte, hat der Einfluss der EBR-Arbeitnehmervertreter dazu geführt, dass man dort ab 2011 den Audi A1 bauen konnte.

Welche EBR-Themen sollte die Wissenschaft stärker beleuchten?
Interessant wäre für mich, wenn Wissenschaftler herausfinden würden, wo die entscheidenden Stellschrauben für einen Weg sind, der uns mehr eint und solidarischer macht. Und wie man bei den nationalen Gewerkschaften und den europäischen Gewerkschaftsbünden mehr Verständnis dafür herstellen kann, wie wichtig EBRs für sie sein könnten.

Zur Person

Georg Leutert, 45, ist seit 1999 Sekretär des Europäischen Betriebsrates von Ford. Er sei „überzeugter Europäer“, sagt der Kölner. Bevor er den Job bei Ford antrat, arbeitete er als Assistent eines SPD-Abgeordneten im Europäischen Parlament. Heute ist er Ansprechpartner für die Kollegen aller Ford-Standorte in Europa sowie Russland. Sehr hilfreich sind dabei seine Sprachkenntnisse: Das IG-Metall-Mitglied spricht auch Englisch, Französisch, Spanisch und etwas Rumänisch. 2012 erhielt er den „Kölner Ehrenamtspreis“ für sein jahrzehntelanges soziales Engagement im Stadtteil Dünnwald.

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