zurück
Magazin Mitbestimmung

Beschäftigungssicherung: Schmerzhaft, aber erfolgreich

Ausgabe 01/2015

Um 1500 Arbeitsplätze bei ThyssenKrupp Steel zu retten, einigten sich IG Metall und Konzern auf eine Absenkung der Arbeitszeit ohne Lohnausgleich. Die Kündigungen sind damit erst einmal vom Tisch. Von Guntram Doelfs

Gleich am Eingang zum riesigen Werksgebäude fällt ein Schild auf. „Seit 53 Tagen ohne Unfall“ steht da – es deutet an, dass die Arbeit im Oxygenstahlwerk I von ThyssenKrupp Steel Europe (TKSE) ganz schön gefährlich sein kann. Patrick Weber und Arif Kizilkaya schlendern auf dem Weg zum Schichtbeginn an dem Schild vorbei. An mögliche Risiken im Werk sind die TKSE-Mitarbeiter gewöhnt. Nicht aber an jene, die seit einiger Zeit in der Essener Zentrale des Mutterkonzerns ThyssenKrupp lauern. So drohte der finanziell angeschlagene Konzern erst vor wenigen Wochen mit der Entlassung von 1500 bis 2000 Beschäftigten. Betriebsrat und IG Metall konnten das verhindern, indem sie mit dem Management einen Haustarifvertrag vereinbarten, der eine befristete Arbeitszeitverkürzung von 35 Stunden auf 31 Stunden vorsieht.

DER VERTRAG LÄUFT STUFENWEISE BIS 2020 AUS

„Wir haben damit einen Ausschluss von betriebsbedingten Kündigungen bis 2020 erreicht“, sagt Wilhelm Segerath stolz. Er ist Vorsitzender des Konzernbetriebsrates und Betriebsratsvorsitzender der TKSE. Im Vorfeld hatte der Konzern angedeutet, die Anzahl der sogenannten Kernaggregate, zu denen die Hochöfen zählen, zu reduzieren. „Dann wären wir von der Produktionskapazität von 12,5 Millionen Tonnen Stahl auf sieben runtergegangen. Damit hätten wir zwischen 1500 und 2000 Leute verloren. Deshalb haben wir den Vertrag gemacht“, schildert Segerath die Vorgeschichte. Das Management sicherte im Gegenzug zu, die aktuelle Zahl der Kernaggregate zu erhalten. Der Haustarifvertrag hat eine Laufzeit bis September 2020 und sieht eine schrittweise Rückkehr zur 35-Stunden-Woche vor. Neben der Beschäftigungssicherung konnten die Arbeitnehmervertreter auch weitere wichtige Punkte durchsetzen. So willigte das Unternehmen ein, die bestehende Ausbildungskapazität von 300 Lehrstellen zu erhalten und mindestens ein Drittel der Lehrlinge auch unbefristet zu übernehmen, „unabhängig vom Bedarf“, wie Segerath betont. Allerdings musste die Arbeitnehmerseite dafür auch einen Preis zahlen. Die im Tarifvertrag „Zukunft“ vereinbarte Arbeitszeitverkürzung wird überwiegend über Lohnverzicht der 18 000 betroffenen Beschäftigten an den sechs Standorten erkauft. 

„Natürlich wollen wir keinen Abbau, sondern einen Zuwachs bei den Einkommen. Aber irgendwann ist man in der beschissenen Situation, dass man um einen Konsolidierungsbeitrag nicht rumkommt, wenn der Arbeitgeber mit massivem Personalabbau droht“, erzählt Dieter Lieske, Erster Bevollmächtigter der IG Metall Duisburg-Dinslaken. Das Management um Vorstandschef Heinrich Hiesinger war lediglich bereit, einen kleinen Ausgleich zu bezahlen. „Eine Stunde zahlt die Arbeitgeberseite. Wir können doch nicht hingehen und den Kollegen die volle Kohle wegnehmen“, sagt Lieske. Konkret: Die Arbeitszeit sinkt auf aktuell 31 Stunden, bezahlt werden 32 Stunden. Die restlichen drei Stunden fallen ohne Ausgleich weg. „Der Lohnverlust beträgt in der Spitze maximal sieben Prozent. Niemand wird aber am Anfang weniger als 93 Prozent seines Nettogehaltes verdienen“, sagt Wilhelm Segerath. Jedem Beschäftigten fehlen nun zwischen 120 und 160 Euro netto in der Geldbörse. Trotz der gelungenen Beschäftigungssicherung für mehr als 1000 Kollegen „war nicht jeder begeistert. Wer gibt schon gern Geld weg?“, schildert Dieter Lieske Reaktionen einiger Stahlwerker. Der IG-Metaller musste sich dafür am Telefon wüste Beschimpfungen anhören, einige Arbeiter kündigten sogar die Mitgliedschaft. „Auch auf den Betriebsversammlungen hat es rumort. Der Tarifvertrag ist nicht 100 Prozent unumstritten“, gibt Gewerkschafter Lieske zu. Er glaubt dennoch, „dass die Einsicht, dass der Tarifvertrag insgesamt gut ist, sich inzwischen bei dem weitaus größten Teil der Belegschaft durchgesetzt hat“. Auch für Wilhelm Segerath zählt, dass viele Arbeitsplätze erhalten werden konnten.

„Es nutzt mir nichts, die volle 35-Stunden-Woche zu erhalten und gleichzeitig 1500 Menschen zu verlieren. Da ist mir die Beschäftigungssicherung wesentlich wichtiger“, sagt der einflussreiche Konzernbetriebsratsvorsitzende, der auch im 30köpfigen Vorstand der IG Metall sitzt. Der Preis dafür sei schmerzhaft, aber zu verkraften. Den Vorwurf, in den Verhandlungen hätte ein voller Lohnausgleich durchgesetzt werden können, hält er für naiv. „Das ist utopisch. Dann hätte ich mich mit einer goldenen Sänfte durch den Betrieb tragen lassen“, witzelt er. Außerdem glaubt der BR-Chef fest daran, einen Großteil der Verluste im Rahmen von Tarifverhandlungen wieder ausgleichen zu können. Die ausgehandelte Vereinbarung ist für ihn mehr als ein üblicher Sanierungstarifvertrag. „Ich nenne ihn aus gutem Grund Zukunftstarifvertrag, weil er nicht saniert, sondern Beschäftigung schafft – und dazu eine Basis, um als Unternehmen wirklich gestärkt da herauszukommen“, ist er sich sicher. 

PROBLEME BEI DEN BELASTUNGSSPITZEN

Arif Kizilkaya jedenfalls kann mit dem Tarifvertrag gut leben, obwohl auch den 54-jährigen Verfahrensmechaniker der fehlende Lohn schmerzt. „Es ist bei Weitem das kleinere Übel. Wichtig ist doch, dass die Jobs erhalten bleiben“, sagt der Duisburger, der mehr als 20 Jahre bei der TKSE arbeitet. Sein Kollege Patrick Weber stimmt dem zu – und deutet an, dass das eigentliche Problem des Tarifvertrages ganz woanders liegen könnte. „Durch die Absenkung der Arbeitszeit seit Anfang Januar fehlt es nun an Kollegen. Die leihen wir uns teilweise bei anderen Abteilungen, aber bei Urlaub oder Krankheit wird es sehr eng“, sagt Weber. Dabei wirken die riesigen Werkshallen auch ohne besondere Personalengpässe schon jetzt merkwürdig leer und verwaist. Selten ist ein Arbeiter zu sehen, wenn überhaupt, dann meistens hinter einem Kontrollpult. Ganze 35 Mann zähle seine Schicht, schildert Patrick Weber. Der 42-jährige Dortmunder arbeitet an der Vakuumieranlage und steht mit seiner Biografie ein wenig exemplarisch für die jüngere Rationalisierungsgeschichte in der deutschen Stahlbranche. Erst war er bei Hoesch, dann bei Krupp, und nun ist er bei der TKSE. 

Es mutet von außen merkwürdig an: Da deutet ein Konzernmanagement den massiven Abbau von Beschäftigten nach – und gleichzeitig ist die Personaldecke in vielen Abteilungen durch stete Rationalisierung inzwischen so dünn, dass kaum noch Belastungsspitzen abgefangen werden können. Der in solchen Fällen übliche Einsatz von Werkvertrags- und Leiharbeitern wird zwar auch in Duisburg praktiziert, ist aber schwierig. Bei TKSE wird Stahl höchster Qualität hergestellt. Da sind hoch qualifizierte Facharbeiter gefragt, denn „in der Hochofensteuerung ist heute mehr Technik drin als im Airbus“, meint Wilhelm Segerath. 

DIE UNSICHERHEIT FÜR DIE STAHLSPARTE BLEIBT

Hinzu kommt, dass selbst nach dem Zukunfts-Tarifvertrag die Unsicherheit unter den mehr als 13 000 Beschäftigten im Duisburger Werk groß ist. Nur wenige Wochen nach Abschluss des Tarifvertrages dachte Vorstandschef Heinrich Hiesinger im Bloomberg TV laut über einen möglichen Verkauf nach. Die Äußerung war vermutlich ein Testballon gegenüber den Finanzmärkten. Schließlich war es die Stahlsparte, die den Konzern in bedrohliche Schwierigkeiten gebracht hat. Wohlgemerkt nicht die deutschen Stahlstandorte, sondern vor allem das desaströse Überseeabenteuer des früheren Managements. Das hatte in Brasilien und in den USA zwei neue Stahlwerke auf die grüne Wiese gestellt und dabei gigantische Verluste eingefahren. „Kommuniziert werden mittlerweile zwölf Milliarden Euro an Verlusten, aber das ist, so befürchte ich, noch nicht das Ende der Fahnenstange. Der Betrag könnte noch anwachsen“, prophezeit Wilhelm Segerath, der als Arbeitnehmervertreter auch im Aufsichtsrat des Unternehmens ein Mandat hat. 

Hinzu kommen für den Konzern saftige Kartellstrafen wegen verbotener Preisabsprachen bei Schienen und Aufzügen. Viele Mitarbeiter glauben deshalb, für die Fehler des Managements bluten zu müssen. Das DAX-Unternehmen ist zwar 2014 nach drei Jahren Verlusten wieder in die schwarzen Zahlen zurückgekehrt und weist ein operatives Ergebnis von 216 Millionen Euro aus. 

Nach Jahren der Verluste wollten die Aktionäre nun endlich eine Dividende sehen. Um die Stahlproduktion konkurrenzfähig zu halten, müsste das Unternehmen nach Angaben der Gewerkschafter Segerath und Lieske ein Ergebnis von mindestens einer halben Milliarde Euro erwirtschaften. Angesichts der Überkapazitäten auf dem Stahlmarkt und des Preisverfalls ist das schwierig, weswegen der Verkauf oder die Zerschlagung der Stahlsparte weiterhin als Drohung am Horizont steht. 

Lieske ärgert das, denn die Substanz für eine sichere Zukunft war da: „Das Gemeine ist, dass mit den ganzen verschleuderten Milliarden genügend Kapital vorhanden gewesen wäre, um den Konzern zu modernisieren.“ Sein Kollege Segerath mag die Debatte um Überkapazitäten ohnehin nicht mehr hören. „Diese Diskussion gibt es in der Stahlindustrie, seit den 1970er Jahren.“ Er erinnert daran, dass die Stahlproduktion in anderen Ländern häufig mit größeren Belastungen verbunden sei als in Deutschland – für die Umwelt und auch die Beschäftigten. „Die Arbeitnehmer haben jetzt genug getan. Jetzt sind Management und die Politik in der Pflicht, die Stahlproduktion hier zu halten.“

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrerm Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen