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Eine Sitzung des Europäischen Betriebsrats von Unilever Magazin Mitbestimmung

Euro-Betriebsräte: Noch ist das Parlament ein Verbündeter

Ausgabe 02/2024

Das EU-Parlament fordert eine Revision der Richtlinie für Europäische Betriebsräte. Ob sie kommt, könnte auch vom Ausgang der Wahlen zur Volksvertretung im Juni abhängen. Von Marius Ochs

In einem internationalen Konzern betreffen Entscheidungen nur selten ein einziges Land. Wer, wie Hermann Soggeberg, Vorsitzender des Europäischen Betriebsrats (EBR) beim Konsumgüterhersteller Unilever, die Belange der Beschäftigten vertritt, muss daher meist Interessenvertretungen aus mehreren Ländern hinter einer Forderung vereinen. Etwa der nach sozialen Mindeststandards bei Restrukturierungen in ganz Europa. Aus dieser Forderung erwuchs eine Vereinbarung, die in einem aktuellen Fall beim Verkauf eines Firmenteils wirkt, erzählt Soggeberg. So müssen Arbeitsbedingungen wie Arbeitszeit, Entgelt und Ähnliches nach dem Verkauf noch mindestens drei Jahre Bestand haben – das europäische Recht schreibt nur ein Jahr vor. Der EBR achtet darauf, dass Unilever diese Garantie in den Vertrag aufnimmt – widerwillig vermutlich, weil eine solche Zusicherung den Verkaufspreis mindert.

  • Porträt Hermann Soggeberg, EBR-Vorsitzender Unilever

Echte europäische Mitbestimmung gibt es noch nicht.“

HERMANN SOGGEBERG, EBR-Vorsitzender Unilever

„Ohne einen Europäischen Betriebsrat ginge das nicht“, sagt Soggeberg, der seit 14 Jahren dem Gremium vorsteht. Aber er wünscht sich mehr: „Echte europäische Mitbestimmung gibt es noch nicht.“ Euro-Betriebsräte haben hauptsächlich Informations- und Konsultationsrechte, und auch das nur bei Entscheidungen und Entwicklungen, die sogenannte grenzüberschreitende Auswirkungen haben. Um ihre knappen Rechte müssen sie oft auch noch kämpfen. Unternehmen werden kreativ, um sie zu umgehen. Beliebt sind beispielsweise Umwandlungen der Rechtsform eines Konzerns in eine Societas Europaea (SE), hierzulande besser bekannt als Europäische Aktiengesellschaft. Das verlangsamt die Gründung eines europäischen Arbeitnehmergremiums erheblich.

Wirkungslose Sanktionen

Auch beliebt: Unternehmen deklarieren ihre Entscheidungen einfach als nicht grenzüberschreitend, sodass der EBR nicht mehr zuständig ist. Die butterweiche Formulierung lässt viel Interpretationsraum. Manche Unternehmen brauchen auch gar keine Ausreden. Sie informieren ihren Euro-Betriebsrat einfach nicht.

Sophia Reisecker leitet die Abteilung für Europa und Konzerne der österreichischen Angestelltengewerkschaft GPA, sitzt im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) und hört viele solcher Geschichten. In etlichen Fällen habe der Arbeitgeber das Informationsrecht gerade noch so eingehalten: Er informierte den EBR eine Stunde vor der Pressekonferenz. „Normalerweise folgt auf die Information ein Konsultationsprozess des EBR, der vom Austausch auf der lokalen Ebene lebt. Das kann heißen, dass Betriebsräte zum betroffenen Werk reisen und mit den Beschäftigten vor Ort sprechen, um anschließend eine Stellungnahme abzugeben“, sagt Reisecker. „Das ist in einem solchen Fall natürlich unmöglich.“

Dennis Radtke, Europaabgeordneter der CDU und EVP-Fraktionsmitglied, wundert das nicht: „Die Sanktionen bei Nichtbeachtung der EBR-Rechte sind lächerlich.“ Einige Tausend Euro sind die Regel. Der ehemalige IGBCE-Sekretär Radtke schlug deshalb 2023 mit anderen europäischen Abgeordneten eine Reform der EBR-Richtlinie vor. Teile davon,  wie die Möglichkeit einer einstweiligen Verfügung, wurden bereits vom Parlament verabschiedet.

Der zentrale Punkt: Unternehmen sollen zwei Prozent des globalen Jahresumsatzes bei einem unabsichtlichen und vier Prozent bei einem absichtlichen Verstoß berappen. Das Europäische Parlament unterstützt den Vorschlag und wurde so zu einem wichtigen Verbündeten für Betriebsräte in Europa.

Wir haben zwar Informations- und Konsultationsrechte, erhalten aber fast nur Informationen, die auch öffentlich zugänglich sind.“

GIANPAOLO MELONI, EBR-Vorsitzender Amazon

„Es wäre schön, wenn die gesetzlich verbrieften Rechte heute schon eingehalten würden“, sagt Maxi Leuchters. Leuchters ist Referatsleiterin für Unternehmensrecht und Corporate Governance am Institut für Mitbestimmung und Unternehmensführung (I.M.U.) der Hans-Böckler-Stiftung. Wie Sophie Reisecker sitzt sie im EWSA. Dort beginnen gerade die Diskussionen um eine Stellungnahme zur Reform der EBR-Richtlinie. Weil die EBR aber oft umgangen werden, so Leuchters, seien „eine Verschärfung der Sanktionsmöglichkeiten und ein Zugang zur Justiz sehr wichtig“.

Sonst läuft es wie beim Online-Giganten Amazon: Die Verhandlungen über einen EBR zogen sich über vier Jahre. Heute darf der Euro-Betriebsrat sich zwar zweimal im Jahr treffen, also einmal mehr als gesetzlich vorgeschrieben, Zeit und Geld sind aber zu knapp, berichtet der italienische EBR-Vorsitzende Gianpaolo Meloni. Das Gremium werde oft übergangen und habe kaum Einfluss. „Wir erhalten fast nur Informationen, die auch öffentlich zugänglich sind“, sagt Meloni. „Das reicht bei Weitem nicht.“

  • Matthias Krebs, Vorsitzender des Europaforums des Chemiekonzerns Evonik bei einem Vortrag

Das Forum dient dem offenen und vertrauensvollen Informations- und Meinungsaustausch zwischen seinen Mitgliedern.“

MATTHIAS KREBS, Vorsitzender des Europaforums des Chemiekonzerns Evonik

Win-win-Situation ist möglich

Dabei können Unternehmen gewinnen, wenn sie die Beschäftigten beteiligen und nicht nur rechtliche Mindeststandards einhalten, wie das Beispiel Evonik zeigt. Matthias Krebs ist Betriebsratschef des Standorts in Hanau und Vorsitzender des Europaforums des deutschen Chemiekonzerns, eines Gremiums, das ähnlich arbeitet wie ein EBR, jedoch zu gleichen Teilen mit Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern besetzt ist. Bei Evonik wurde das Europaforum 1995 ins Leben gerufen, ein Jahr bevor die EBR-Richtlinie in Deutschland in nationales Recht überführt wurde.

Die Zusammensetzung des Gremiums sei eine „Win-win-Situation“, sagt Krebs. „Die Arbeitgeber können dort bei ihrer Belegschaft um Akzeptanz für Veränderungen im Zuge der sozialökologischen Transformation werben, und wir können auf gleiche Rechte für die Beschäftigten in allen Ländern hinarbeiten.“ Beim Thema KI beispielsweise entstehe schnell ein internationales Ungleichgewicht. Sobald ein Land bessere Regelungen als ein anderes findet, um Beschäftigte zu qualifizieren und Jobs zu erhalten, bedrohe das die Kultur im internationalen Konzern.

Ein Europaforum oder EBR könne eine Plattform sein, um das Ungleichgewicht auszubalancieren, oder zumindest für Verständnis werben. Aber auch das Europaforum von Evonik hat keine echten Mitbestimmungsrechte. „Das Forum dient dem offenen und vertrauensvollen Informations- und Meinungsaustausch zwischen seinen Mitgliedern“, sagt Krebs. Bei akuten Schwierigkeiten wie der Energiekrise und damit verbundenen Werksschließungen zeige sich, was ein international handlungsfähigeres Gremium leisten könnte: „Es wäre wichtig, Sozialplanregelungen zu verhandeln, die über Grenzen hinweg funktionieren, sodass an jedem Standort die gleichen Bedingungen herrschen. Das würde auch den Gedanken eines geeinten Europas stärken“, sagt Krebs.

  • Porträt Dariusz Dabrowski, Generalsekretär des Europa-Konzernbetriebsrats von Volkswagen

Nicht jeder polnische Arbeiter ist von vornherein überzeugt von der Idee der Mitbestimmung.“

DARIUSZ DABROWSKI, Generalsekretär des Europa-Konzernbetriebsrats von Volkswagen

Mitbestimmung ist nicht überall gewollt

Mitbestimmungsrechte unterscheiden sich in Europa von Land zu Land. Dariusz Dabrowski, seit drei Jahren Generalsekretär des EKBR (Europa-Konzernbetriebsrat) von Volkswagen, kennt das gut. Als Vorstand der Solidarność-Gewerkschaft begleitete er den Kulturwandel zu mehr Mitbestimmung in den polnischen VW-Werken. In Polen sei Mitbestimmung nicht gesetzlich verankert wie in Deutschland. Die Beschäftigten hätten damit kaum Erfahrung, sagt Dabrowski. Die deutsche Unternehmenskultur von VW änderte die Arbeit der polnischen Gewerkschaft: Weg vom ständigen Kampf – Dabrowski hebt die Faust, wenn er davon erzählt –, hin zu mehr Beteiligung an der strategischen Ausrichtung der Werke. „Nicht jeder polnische Arbeiter ist von vornherein überzeugt von der Idee der Mitbestimmung“, sagt er. „Verschiedene Traditionen führen auch zu unterschiedlichen Kulturen gewerkschaftlicher Arbeit.“

Das deutsche Modell der Mitbestimmung müsse nicht für alle europäischen Länder passen. So kommt es auch im Euro-Betriebsrat von VW zu Meinungsverschiedenheiten. „Unser Gremium ist die Plattform, um über gewisse Probleme auch kontrovers zu diskutieren, zum Beispiel über die Auslastung einzelner Werke“, sagt Dabrowski. Mitbestimmungsrechte im Aufsichtsrat in Deutschland kommen den internationalen Beschäftigten zugute, denn die gewerkschaftlichen Aufsichtsratsmitglieder sitzen auch im EBR.

„Wir haben zum Beispiel regelmäßig Planungsrunden für die Auslastung der Fabriken“, erzählt Dabrowski. Dabei gehe es neben der wirtschaftlichen Betrachtung auch immer um die Beschäftigung als zentraler Faktor. „Belegschaftsorientierte Auslastung“ heißt das. „Erst kürzlich haben wir anhand konkreter Berechnungsmodelle die Auslastungen mehrerer Werke verglichen und eine gleichmäßigere Verteilung geplant.“ Die Diskussionen im EBR erreichen dann auch den Aufsichtsrat.

Getriebene der Transformation

In vielen Gremien kommen jedoch strategische Überlegungen und Diskussionen zu kurz. „Wir können schon länger kaum noch eigene Themen setzen“, sagt der Evonik-Betriebsrat Krebs. „Wir sind Getriebene der Transformation und der Wirtschaftskrise.“ Veräußerung, Verlagerung, Stellenabbau – viele Betriebsräte müssen sich momentan vor allem um die soziale Abfederung kümmern. Dabei gibt es über Branchen und Grenzen hinweg viel Potenzial im EBR, um Konzernstrategien in der Transformation mit zu gestalten.

Doch die Reform der EBR-Richtlinie soll nicht mehr vor der Europawahl verabschiedet werden. Damit die Initiative des Parlaments nicht ins Nichts führt, ist es wichtig, dass es noch vor der Wahl eine starke Position verabschiedet. Dafür stehen die Chancen nicht so schlecht, berichtet Maxi Leuchters vom I.M.U.. Veränderte Mehrheiten, sprich ein Rechtsruck, könnten aber dazu führen, dass die Beschäftigten ihre Unterstützer im Parlament verlieren. Bei den Parteien rechts der Mitte spielt Mitbestimmung in den Wahlprogrammen kaum eine Rolle. „Gerade das Europäische Parlament hat in der Vergangenheit immer wieder progressive und gewerkschaftsnahe Positionen aufgegriffen“, sagt Leuchters. Deshalb ist die Zusammensetzung des nächsten Parlaments so wichtig.“

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