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Magazin Mitbestimmung

Dissertationen: Miteinander im Kolleg

Ausgabe 04/2014

Die Hans-Böckler-Stiftung fördert 16 Promotionskollegs. Wer hier seinen Doktor macht, ist vor der Vereinsamung im Kämmerchen geschützt. Die gesellschaftspolitische Relevanz der Forschungsthemen setzt besondere Akzente. Von Carmen Molitor.

Maximilian Stockhausen will Ungleichheit messen. Dabei ist es nicht nur die unterschiedliche Höhe von Einkünften, die den jungen Volkswirt beschäftigt. Stockhausen arbeitet an einem Index, der die Chancenungleichheit von Kindern facettenreich abbildet. Neben dem Teil des Haushaltseinkommens, das für die Mädchen und Jungen aufgewendet wird, will er darin unter anderem die Zeit abbilden, die sie mit ihren Eltern verbringen können, die Unterschiede je nach Familientyp analysieren und einrechnen, wie sich staatliche Bildungs- und Kinderbetreuungsangebote auswirken. Der Doktorand untersucht auch, inwieweit Einkommensvor- oder -nachteile von der Eltern- zur Kindergeneration über mehrere Jahrzehnte weitergegeben werden und welche Faktoren dabei eine Rolle spielen. Gibt es eine Beziehung zwischen dem, was die Eltern verdienen, und dem, was ihr Nachwuchs später verdient?

Stockhausens Forschungsprojekt gehört zu den sechs Dissertationsthemen, die Stipendiaten der Hans-Böckler-Stiftung im Promotionskolleg „Steuer- und Sozialpolitik bei wachsender Ungleichheit“ an der Freien Universität Berlin bearbeiten. Auf unterschiedliche Weise gehen hier Promovenden unter der Leitung von Professor Giacomo Corneo der ökonomischen Ungleichheit auf den Grund: Es gibt junge Wissenschaftler, die wie Maximilian Stockhausen die Dimensionen der Ungleichheit konkret abzubilden versuchen. Andere erforschen, welche Maßnahmen der Staat ergreifen könnte, um der Ungleichheit entgegenzuwirken. Stockhausen ist seit Juli 2013 dabei und fühlt sich wohl im Kolleg: „Die Struktur bietet nur Vorteile, weil man seine Dissertation hier mit Leuten beginnt, die zu einem ähnlichen Thema forschen, und man sich so gegenseitig sehr gut unterstützen kann“, sagt er. „Wir besuchen gemeinsam Veranstaltungen, tauschen uns regelmäßig aus. Für Leute, die promovieren, ist das Miteinander im Kolleg ein großer Vorteil. Keiner schreibt allein im stillen Kämmerchen.“

Den Austausch und die gegenseitige Unterstützung der jungen Wissenschaftler zu stärken ist seit dem Beginn der Förderung 1993 ein wichtiges Ziel der Promotionskollegs der Hans-Böckler-Stiftung: „So ein Kolleg ist eine soziale Erfindung und nicht nur ein Wissenschaftsbetrieb im engeren Sinne“, betont Werner Fiedler, der bei der Hans-Böckler-Stiftung zuständig für die Promotionsförderung ist. „Dadurch, dass alle an einer Hochschule sind, entsteht auch sowas wie ein Dorfbrunneneffekt. Man ist eine Art Schicksalsgemeinschaft, begegnet sich täglich, man redet, geht gemeinsam in die Mensa, kooperiert und unterstützt sich.“ In der Regel bestehen die Promotionskollegs aus acht Promovenden, die alle eine individuelle Promotionsförderung der Stiftung erhalten. Darüber hinaus bekommt das Kolleg auch noch eine Forschungspauschale, mit der es Workshops, Veranstaltungen, Tagungen, Publikationen und die Einladung von Gastreferenten finanzieren kann.

Die Erfahrungen seien gut, sagt Fiedler: „Die Promovenden in den Kollegs sind etwas schneller in ihren Abschlüssen, sie publizieren mehr, sie halten im Verlaufe ihrer Promotionsphase mehr Vorträge, und dadurch, dass sie stärker in einem wissenschaftlichen Kontext promovieren, ist die Orientierung auf eine Berufsperspektive in der Wissenschaft stärker ausgeprägt als bei denen, die mit einem einzelnen Stipendium promovieren“, fasst er die Ergebnisse einer aktuellen Evaluation der letzten zehn geförderten Absolventenjahrgänge zusammen. Dass die Promovenden mit ihrem gesellschaftspolitisch engagierten Profil der Wissenschaft dauerhaft erhalten bleiben, ist ein Ziel der Förderung. Ebenso will die Hans-Böckler-Stiftung Forschungsthemen einen breiteren Raum geben, die gesellschaftspolitische Relevanz haben und nahe an der Arbeitswelt sind. Man wolle Brücken zwischen akademischer Welt und der Praxis schlagen, betont Fiedler.

In der Regel sind es Professoren, die die Themen der Kollegs vorschlagen. An der Technischen Universität Berlin war das 2007 anders. Damals machten sich Ex-Studenten für den Schwerpunkt Mikroenergiesysteme zur Energieversorgung stark, ein Thema, das vor allem in Entwicklungsländern von Bedeutung ist, berichtet die Professorin Martina Schäfer vom Zentrum Technik und Gesellschaft der TU Berlin. Inzwischen gibt es bereits die zweite Gruppe des Promotionskollegs an der TU, die sich mit Forschungen zu diesem Thema beschäftigt, diesmal vor allem am Beispiel Tansania. Martina Schäfer ist die Sprecherin. Mikroenergiesysteme, wie kleine Solaranlagen für den Hausgebrauch, sind eine Antwort auf ein drängendes Problem: In vielen Entwicklungsländern lebt der Großteil der Bevölkerung auf dem Land ohne Anschluss an ein zentrales Energienetz oder kann sich den Zugang nicht leisten. „Der Kern des Kollegs ist es, die verschiedenen Systeme wie Biogas-, Wasserkraft- oder Solaranlagen aus unterschiedlichen Perspektiven zu analysieren“, sagt Schäfer. Die Promovenden entwickeln Konzepte, mit denen die dezentrale Energieversorgung durch wartungsarme, einfach zu reparierende und nach Gebrauch leicht zu entsorgende Mikroenergiesysteme im Kontext ländlicher Räume dauerhaft funktionieren kann. Die Wissenschaftler kümmern sich um technische Fragen, aber auch darum, wie die Systeme die Bedürfnisse der Nutzer erfüllen und finanzierbar sein können. Studenten des ersten Kollegs haben eine eigene Mikroenergie-Firma gegründet.

Für Japhet Johnstone beginnt gerade der Endspurt. Der US-Amerikaner aus Seattle will im September seine Dissertation abgeben. Er ist Doktorand im Promotionskolleg „Literaturtheorie als Theorie der Gesellschaft“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, dem ersten literaturwissenschaftlichen Kolleg, das die Hans-Böckler-Stiftung fördert. Dort sehen die Forscher Literatur auch als Seismografen für gesellschaftliche Entwicklungen. Japhet Johnstone befasst sich mit den Bildern von gesellschaftlichen Außenseitern und von verkehrten Welten in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Er analysiert Texte von Autoren wie Ludwig Tieck, E.T.A. Hoffmann und Gottfried Keller und von Sexualwissenschaftlern wie Sigmund Freud und Karl Heinrich Ulrichs und arbeitet auf, wie sich der Begriff „queer“ (verkehrt) in der Geschichte entwickelt hat. „Ich will die Verbindung zwischen ‚queer‘ als Bezeichnung für ‚verkehrt‘, für gleichgeschlechtliche Liebe und für das Anormale und Perverse aufzeigen. Und ich möchte zeigen, wie man diesen Begriff historisch weiterdenken muss“, sagt er. Johnstone findet es anregend, dass das Kolleg sowohl wissenschaftliche als auch gesellschaftliche Fragen stellt. „Wir diskutieren, wo Grenzen sind und wie man sie überschreiten kann“, bilanziert er. „Dazu gibt es viele verschiedene Ansätze im Kolleg.“ Gelegenheiten, sich intensiv auszutauschen, haben er und seine Mitstreiter genug: in Arbeitsgruppen, Kolloquien, Projektgruppen – oder beim Kaffee im Büro.

Mehr Informationen

Wolfgang Böttcher/Johannes Wiesweg: PROMOVIEREN MIT STIPENDIUM. Eine Befragung der Absolventinnen und Absolventen der Promotionsförderung der Hans-Böckler-Stiftung. Edition der Hans-Böckler-Stiftung 228, Düsseldorf 2013. Bestellnummer 13228

Wolfgang Böttcher/Heinz-Hermann-Krüger: EVALUATION DER QUALITÄT DER PROMOTIONSKOLLEGS DER HANS-BÖCKLER-STIFTUNG. Eine quantitative und qualitative Studie. Eine explorative Studie. Edition der Hans-Böckler-Stiftung 234, Düsseldorf 2009. Bestellnummer 13243

 

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