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Gelesen: Mit aller Gewalt

Ausgabe 06/2022

Wirtschaftskrisen sind Zeiten effektiven Lernens. In ihnen entfaltet sich die Wucht der Transformation. Die Globalisierung werden sie nicht aufhalten, glaubt der Historiker Harold James. Von Kay Meiners

Aktuell wird viel darüber diskutiert, dass die Globalisierung in ihr Gegenteil umschlagen könnte – oder in einen Zustand der Stagnation. Die Anzeichen dafür mehrten sich spätestens seit der letzten Finanz­krise. Die aktuelle Multikrise liefert Anhaltspunkte, Parallelen zur großen Weltwirtschaftskrise der Zwischenkriegszeit zu ziehen.

Der britische Historiker Harold James, der als Professor an der US-Universität Princeton lehrt, erliegt dieser Versuchung nicht, vielmehr schreibt er, solche Vergleiche führten oft in die Irre: „Krisen, Einbrüche und Schocks nehmen unterschiedlichste Formen an. Daher laufen jene Beobachter, für die alle diese Ereignisse gleich oder Variationen desselben Phänomens sind, Gefahr, in die Falle falscher Äquivalenzen zu tappen.“

Wenn James uns auf eine Reise durch sieben große Krisen des 19. und 20. Jahrhunderts mitnimmt und dabei immer wieder zeigt, in welchem Ausmaß ökonomische Krisen am Ende die gesellschaftliche und politische Ordnung erneuern, dann tritt neben einigen universellen Einsichten und Lehren immer auch das Besondere jeder Krise hervor. Stets werden die Menschen in einer neuartigen, nie da gewesenen Weise gefordert. Die Traumata, die durch Mangel an Nahrungsmitteln, medizinischen Gütern oder Energie entstehen, und die heftigen Preisbewegungen, die sie auslösen, sind starke Triebkräfte der Veränderung und wirken transformativ.

Das galt auch für die Hungerkrise, die Deutschland und Teile Europas in der Mitte des 19. Jahrhunderts heimsuchte und die Karl Marx das Ausgangsmaterial für seine Theorie des Kapitalismus lieferte - die älteste Krise, die in diesem Buch behandelt wird. Sie bescherte den USA jede Menge neuer Einwohner und Ideen. Genau die Menschen, die Europa verlassen, werden Tausende Kilometer entfernt zu Agenten der Veränderung. Im Jahr 1854, in dem die Welle deutscher Auswanderer in die USA ihren Höhepunkt erreicht, wird Kansas, ein Territorium im Kernland der USA, für die Einwanderung freigegeben. Die neuen Siedler aus Deutschland und Skandinavien tragen dazu bei, dass Kansas ein freier und kein Sklaven haltender Staat wird. Der männliche und weiße Teil der Bevölkerung kann, so will es das Gesetz, über die Sklavenfrage entscheiden.

James entfaltet eine Welt, die schon im 19. Jahrhundert eng verflochten ist, und führt uns durch die Krise der 1840er, aber auch durch den positiven Angebotsschock der 1870er Jahre, der sich aus der Transportrevolution durch Dampfschiff und Eisenbahn ergab, durch die Inflation des Ersten Weltkriegs, die Weltwirtschaftskrise und schließlich die Krise der 1970er Jahre, die Krise von 2008 und die Coronakrise.

Am Ende versucht er, ein Zukunftsbild einer fortschreitenden internationalen Zusammenarbeit zu entwerfen. „Die Globalisierung verbessert Leben“, schreibt James- auch wenn die internationale Zusammenarbeit gerade schwierig ist. Viele Globalisierungskrisen haben am Ende zu mehr Globalisierung geführt, warum nicht auch diese? Optimistische Visionen sind Balsam für die deutsche Angst, aber gerade sie fallen auch etwas blass und unpräzise aus. Vielleicht liegt das an der besonderen Vorsicht eines Historikers, der sich der Einzigartigkeit jeder historischen Situation bewusst ist.

Harold James: Schockmomente. Eine Weltgeschichte von Inflation und Globalisierung 1850 bis heute. Freiburg, Herder Verlag 2022. 544 Seiten, 35 Euro

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