Quelle: HBS
Magazin Mitbestimmung: Medien schelten BAG
ARBEITSKAMPFRECHT Selten hat das Bundesarbeitsgericht für ein Urteil so viel Kritik einstecken müssen wie für seine Erlaubnis gewerkschaftlicher Flashmob-Aktionen. Von Joachim F. Tornau plus Interview mit IG Metall-Justitiar Thomas Klebe
Joachim F. Tornau ist Journalist in Kassel/Foto: VISUM
Glaubt man der "Süddeutschen Zeitung" (SZ), dann haben wir kürzlich "einen der bedeutendsten Tage in diesem Jahr" erlebt. Gemeint war nicht die Bundestagswahl, auch nicht die Qualifikation der deutschen Nationalelf für die Fußball-WM in Südafrika. Nein, gemeint war der 22. September. An diesem Tag nämlich hatte das Bundesarbeitsgericht (BAG) eine Entscheidung gefällt, die, so sagte SZ-Kommentator Detlef Esslinger, "das Wesen des Arbeitskampfs in diesem Land verändern wird". Künftig, prophezeite der leitende Wirtschaftsredakteur des Münchner Medienflaggschiffs, müssten wir mit Eskalationen, Betriebsblockaden, mithin "Arbeitskämpfen auf französische Art" rechnen.
Was war geschehen? Die Erfurter Richter hatten - nicht anders als die Vorinstanzen - eine streikbegleitende Flashmob-Aktion der Gewerkschaft ver.di in Berlin für rechtmäßig erklärt (Az.: 1 AZR 972/08 vom 22.9.2009). Mehr nicht. Die Arbeitgeber aber bauschten den Richterspruch zur Gefahr für die Tarifautonomie auf, geißelten den zuständigen Ersten Senat des BAG als zu gewerkschaftsfreundlich und nutzten das Urteil, um gesetzliche Einschränkungen des Arbeitskampfrechts zu fordern. Und konservative Redaktionen sekundierten ihnen bereitwillig.
WAS IST DAS?_ Flashmob heißt wörtlich übersetzt "Blitzmeute" und steht eigentlich für weitgehend sinnfreie Spaßaktionen: Mobilisiert über das Internet, tauchen Menschen plötzlich an einem öffentlichen Ort auf und verfallen dort unvermittelt und gleichzeitig in eine sonderbare Tätigkeit. Sie legen sich für ein Schläfchen auf den Boden, veranstalten Kissenschlachten oder unterbrechen Wahlkampfreden, wie es jüngst Angela Merkel erfahren musste, mit ständigen "Yeah!"-Rufen. Üblicherweise kennt sich der "Mob" vorher nicht und verschwindet schon nach wenigen Minuten so überraschend, wie er gekommen ist.
Was vor einigen Jahren in den USA als unpolitisches Event der Spaßgesellschaft erfunden wurde, ist mittlerweile als Form für Protestaktionen entdeckt worden. So auch von ver.di. Monatelang schon war 2007 im Berliner Einzelhandel um höhere Löhne gekämpft worden. Doch alle Streiks liefen ins Leere: Dank des Einsatzes von Leiharbeitern als Streikbrechern habe keine Filiale auch nur für eine einzige Minute geschlossen werden müssen, brüsteten sich die Arbeitgeber. Deshalb griffen die Streikenden im Dezember 2007 schließlich zu einem neuen Mittel: Sie verabredeten sich zu Flashmobs, um durch gemeinsames Einkaufen den Verkaufsbetrieb zu stören. Im REWE-Supermarkt am Berliner Ostbahnhof sah das dann so aus: Rund 40 Kollegen betraten als "Kunden" den Laden und sorgten mit dem Kauf von Cent-Artikeln für lange Schlangen an den Kassen. Sie beluden Einkaufswagen bis zum Anschlag und ließen sie dann in den Gängen stehen. Eine Aktivistin kam mit Kleinstkram auf eine Rechnung von 371,78 Euro - und verkündete dann, sie habe ihr Geld vergessen.
Obwohl der Spuk nach einer Stunde wieder vorbei war, sahen die Arbeitgeber darin eine verbotene Blockadeaktion und rügten, dass sich auch Betriebsfremde hätten beteiligen können. Deutschlands oberste Arbeitsrichter aber befanden, dass eine derartige kurzzeitige Störung der betrieblichen Abläufe im Arbeitskampf "nicht generell unzulässig" sei - ebenso wenig wie ein Engagement Dritter. Vorausgesetzt, die Verhältnismäßigkeit bleibe wie hier gewahrt: Die Supermarktleitung hätte sich ja durch Hausverbote oder eine vorübergehende Schließung des Geschäfts wehren können.
VOR ALLEM DIE FAZ TOBT_ Eine differenzierte Entscheidung, bezogen auf den konkreten Fall. Von einem "Freifahrschein in Sachen Arbeitskampf", wie es später in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (FAZ) zu lesen sein sollte, konnte also keine Rede sein. Dennoch folgte dem Urteil ein Nachbeben in der Medienwelt, wie es arbeitsgerichtliche Entscheidungen selten ausgelöst haben. Vor allem die FAZ überbot sich selbst darin, die Richter und ihr Urteil zu schelten: Erst schimpfte Wirtschaftsredakteurin Corinna Budras unter der Überschrift "Ungezügelter Protest" über den angeblichen Tabubruch der Bundesrichter. Dann ließ das Blatt die arbeitgeberfreundlichen Juristen Björn Gaul und Patrick Mückl aus der Kanzlei CMS Hasche Sigle zu Wort kommen, die ein Zerrbild mächtiger, vom BAG mit immer neuen Kampfmethoden ausgestatteter Gewerkschaften und ihnen hilflos ausgelieferter Arbeitgeber zeichneten: Der Grundsatz der Kampfparität sei mit dem Urteil "ernsthaft in Frage" gestellt.
Und schließlich legte Redakteurin Budras selbst noch einmal nach, ohne neue Argumente, aber dafür in weiter verschärftem Ton. Unter dem Titel "Arbeitsrichter auf Abwegen" warf die studierte Juristin dem BAG Leichtfertigkeit vor und behauptete mit Blick auf die vorangegangene Erfurter Erlaubnis von Unterstützungsstreiks: "Schon in der Vergangenheit hat der Erste Senat mit der selbstherrlichen Attitüde eines Ersatzgesetzgebers die Grenzen des Arbeitskampfes immer weiter zu Lasten der Arbeitgeber verschoben."
Würde all dies stimmen, müssten die Gewerkschaften jubilieren. Doch die bewerten den Richterspruch bei aller Freude über die Entscheidung weit nüchterner. Von einem "besonnenen Urteil" spricht Erika Keller, Fachbereichsleiterin Handel bei ver.di in Berlin-Brandenburg. "Das BAG hat ja nicht gesagt: Ihr könnt jetzt wild drauflos flashmobben." Solche Blitzaktionen würden deshalb auch künftig die Ausnahme bleiben. "Und wir werden dabei auch nicht wahllos alle mobilisieren", sagt Keller. "Wir wollen ja die Hand draufbehalten." Der Massenauflauf betriebsfremder "Flashmobber", die ihre "mitunter pubertären Protestphantasien austoben" (FAZ-Redakteurin Budras), wäre nach Einschätzung von Rechtsanwalt Helmut Platow ohnehin nicht erlaubt: "Gerichte würden Aktionen niemals billigen, wenn die Beschäftigten selbst gar nicht aktiv sind", erklärt der Leiter des Bereichs Recht und Rechtspolitik beim ver.di-Bundesvorstand.
Ein Flashmob sei dann verhältnismäßig, wenn es die Belegschaft - wie in diesem Fall - zuvor mit klassischen Streiks versucht, aber nichts erreicht hat. Die neue Aktionsform verschiebe damit keineswegs das Kräfteverhältnis zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften, sondern bringe es vielmehr wieder ins Lot: als Ausgleich für den systematischen Streikbruch, der mit dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz ermöglicht worden sei. "Die Tarifautonomie funktioniert wegen des Einsatzes von Leiharbeitern nicht mehr", meint Platow. Und nicht, weil es in Zukunft häufiger gewerkschaftliche "Flashmobs" geben könnte.
Der medial inszenierten Aufregung um das Urteil des Bundesarbeitsgerichts fehlt damit, bei Lichte besehen, der Grund.Nicht aber das Ziel: Pünktlich zum schwarz-gelben Machtwechsel in Berlin wird das Arbeitskampfrecht, das bislang von den Gerichten allein aus der grundgesetzlich garantierten Koalitionsfreiheit abgeleitet wird, als willkürlich und unsicher angeprangert, um die neue Bundesregierung damit zum Handeln aufzufordern: Die "Süddeutsche Zeitung" interviewte Professor Volker Rieble, Direktor des von einer arbeitgebernahen Stiftung getragenen "Zentrums für Arbeitsbeziehungen und Arbeitsrecht" an der Ludwig-Maximilians-Universität München, als unabhängigen Fürsprecher eines Arbeitskampfgesetzes: Es brauche wieder "klare Regeln", verlangte der konservative Arbeitsrechtler, "wann und wofür und unter Einsatz welcher Kampfmittel gestreikt werden darf". Und auch FAZ-Kommentatorin Corinna Budras haute polternd in diese Kerbe: "Aus Furcht vor der Macht der Verbände schauen Union und SPD seit Jahrzehnten zu, wie das Bundesarbeitsgericht fernab jeder demokratischen Legitimation dieses Rechtsgebiet nach seinem Belieben gestaltet, anstatt die Rechte und Pflichten der Tarifvertragsparteien in einem eigenen Gesetz klar zu umreißen." Der Wunsch, dass dem gewerkschaftlichen Aktionsdrang dabei so enge Grenzen zu ziehen seien wie möglich, bleibt unausgesprochen. Zu überhören aber ist er nicht.
Interview mit Thomas Klebe, IG-Metall-Justitiar zum Flashmob-Urteil: "Flashmob-Aktion ersetzt keinen Arbeitskampf".