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Magazin Mitbestimmung

: Kunst gegen Kohle

Ausgabe 04/2006

Die Ruhrfestspiele feiern in diesem Jahr ihren 60. Geburtstag. Obwohl Intendant Frank Hoffmann Karten verkauft wie kaum jemand vor ihm, mag der DGB für die Zukunft des Festivals keine Prognose abgeben.



Von Hendrik Ankenbrand
Der Autor arbeitet als freier Journalist in Köln.


Es gibt Geschichten, die man immer wieder erzählen muss, selbst wenn sie ein wenig Staub angesetzt haben. Stets schenken sie den Zuhörern dieses wunderbar wohlige Gefühl, wie bei einem Märchen. Solch eine Geschichte spielt im Ruhrgebiet, im kalten Winter des Jahres 1946, sie trägt den Titel "Kunst für Kohle". Der Krieg ist aus, der Winter hart und Rohstoffe knapp.

Auch die Theater des zerbombten Hamburg sind kalt. Damit ihr Publikum nicht erfriert, reisen die Theaterleute ins Ruhrgebiet, um Kohlen für ihre Bühnen zu erbitten. Ihre Fahrt endet vor der Recklinghausener Schachtanlage König Ludwig, wo selbstlose Bergleute Kohle an den englischen Besatzern vorbeischmuggeln und so die hanseatische Bühnenkunst retten. Tief beeindruckt bedanken sich die Theaterleute im folgenden Sommer mit einem Gastspiel. Und markieren den Beginn der Ruhrfestspiele: Nicht nur die Reichen und Studierten sollen das Privileg des Theaterbesuchs genießen können. Nein, nun haben die Arbeiter ihr eigenes Festival, mit dem Besten, was die deutschen Bühnen zu bieten haben, und das jedes Jahr.

Es ist eine faszinierende Geschichte, auch im 60. Jahr der Ruhrfestspiele fehlt sie in keinem Programmheft. Sie steckt voller Solidarität, sie klingt nach gesellschaftlichem Aufbruch: Arbeiter erfahren Kultur, Kultur führt zu Wissen und Wissen ist Macht. Heute kann man die Geschichte wieder mit einer gewissen Erleichterung erzählen. Nachdem die Ruhrfestspiele im Jahr 2004 kurz vor der Pleite standen, haben sie jetzt bereits vor Beginn der kommenden Spielzeit einen neuen Rekord aufgestellt: Noch nie wurden so viele Karten verkauft, 62 500 waren es bis Ende März.

Hoffmann spielt sich von Erfolg zu Erfolg

Das neue Programm des nicht mehr ganz neuen Intendanten Frank Hoffmann, das vor allem Klassiker von Shakespeare zeigt, hat die Recklinghausener überzeugt und ebenso die Personal- und Betriebsräte aus dem Ruhrgebiet, die allein etwa 40 Prozent der Karten geordert haben. Gewerkschaftsmitglieder bekommen die Karten billiger. Angesichts solcher Verkaufserfolge dürfte es eigentlich keine Frage sein, dass die Ruhrfestspiele in ihrem Jubiläumsjahr ein einziger Erfolg sind.

Doch ganz so einfach ist es nicht. Das hat vor allem damit zu tun, dass es sich nicht um irgendein Theaterfestival handelt, sondern um das der Gewerkschaften. Der DGB ist neben der Stadt Recklinghausen einer von zwei Gesellschaftern. Angesichts der oft bemühten Geschichten vom Tauschhandel des Jahres 1946, die so etwas ist wie der Gründungsmythos der Ruhrfestspiele, ist es auch von Interesse, was neben diesem Erfolg noch übrig ist vom ursprünglichen Anspruch, Arbeiterbewegung und Hochkultur zusammenzubringen. Welche Zukunft haben die Ruhrfestspiele vor sich?

Es ist eine Frage, die seit zwei Jahren auch die Feuilletons der überregionalen Zeitungen beschäftigt. Das ist erstaunlich für ein Festival mit eher regionaler Bedeutung. Es ist aber wiederum erklärlich, wenn man daran denkt, welche Symbolkraft die Spiele haben, und wenn man weiß, wer da 2004 zum Sturm auf den grünen Hügel blies: Frank Castorf, der Republik erster Stückekaputtmacher. Der Ostdeutsche spielt mit seiner Berliner Volksbühne in der Champions League des Theaters, er ist vielleicht der berühmteste, auf jeden Fall aber der umstrittenste Regisseur der deutschen Gegenwart. Viele sehen Castorf als den geistigen Vater jenes Regietheaters, über das sich derzeit "Bild", "FAZ" und "Spiegel" unisono empören, weil in dessen Inszenierungen angeblich nur noch gespuckt, gefickt und geschissen werde, vor allem auf die Werktreue und auf die Intelligenz des Zuschauers.

Der Intendant Gérard Mortier hatte von seinem Vorschlagsrecht Gebrauch gemacht und den Aufsichtsrat der Festspiele Castorf als Wunschkandidaten genannt. "Wir hatten lange Bedenken", sagt Ingrid Sehrbrock vom DGB-Bundesvorstand, die dem Kontrollgremium vorsitzt. Als Castorf zugesichert habe, nicht einfach das Volksbühnen-Konzept ins Ruhrgebiet zu transferieren, habe man zugesagt. Doch Castorf ist eine wandelnde Zeitbombe, im Provinzpott wirkte er wie ein Außerirdischer. Er sollte das Festival aus dem Tiefschlaf reißen und es als einen jener Leuchttürme positionieren, mit denen sich das Ruhrgebiet als internationaler Kulturstandort neu erfinden will. Es war ein Risiko, und es ging schief.

Unter dem Motto "No Fear - Keine Angst" wollte Castorf auf dem grünen Hügel eine "postsozialistische Spielhölle" schaffen, die das Publikum mit einbezog. Doch das weigerte sich. Die Recklinghausener mochten es nicht, dass ein Ossi aus ihrem schönen Festspielhaus einen Saloon zimmerte, die Gewerkschafter ärgerte es, dass der Festspielleiter zum "Arbeiterliederabend ohne Verdi" einlud. Am Ende der Spielzeit stand eine Auslastung von 34 Prozent und ein Defizit von fast 900.000 Euro, ein Desaster. Der DGB feuerte Castorf, von beiden Seiten wurde kräftig nachgetreten.

Der neue Festspielleiter Frank Hoffmann ist so ziemlich das Gegenteil von Castorf. Der Luxemburger hat eine freundliche, ruhige Stimme mit leicht französischem Akzent, er spricht behutsam und nachdenklich, am Ende des Gesprächs bedankt er sich für die Fragen. Er weiß, wie wichtig Öffentlichkeitsarbeit ist. Als er praktisch über Nacht die Nachfolge Castorfs antrat, stand der bis dato weithin unbekannte Gründer des Luxemburger Nationaltheaters vor einer gewaltigen Aufgabe: Er musste das vergraulte Publikum wiedergewinnen und gleichzeitig das Defizit seines Vorgängers einspielen.

Ungenierter Blick auf das Massenpublikum

Hoffmann hat viel Organisationstalent und ein untrügliches Gespür für das, was Kritiker als "massenkonform" bezeichnen. Er schmiss alles, was Castorf sich so ausgedacht hatte, auf den Müll und hievte bewährte Klassiker von Lessing ins Programm. Die Spielzeit war noch nicht einmal angelaufen, da hatte Hoffmann bereits doppelt so viele Karten verkauft wie unter Castorfs gesamter Intendanz. Nun spielt er sich von Rekord zu Rekord. Das hat Hoffmann in den deutschen Feuilletons den Titel "Kulturversicherer" eingetragen, und das ist genauso böse gemeint, wie es sich anhört.

Kritiker werfen ihm vor, auch in seinem zweiten Jahr, in dem ihm mehr Geld zur Verfügung steht, schiele er ungeniert aufs Massenpublikum. Der wirtschaftliche Aufstieg verbinde sich mit einem künstlerischen Verfall.

In der Tat ist eine inhaltliche Klammer bei Hoffmann kaum zu erkennen. Dieses Jahr lässt er vor allem Shakespeare spielen, "Richard II.", "Othello", "Romeo und Julia". Und, natürlich, "Warten auf Godot" von Beckett. Solide, durchaus gute Inszenierungen, aber ohne große Überraschungen. Dafür verleihen viele Stars wie Oscar-Preisträger Kevin Spacey und Fernseh-Kommissarin Hannelore Elsner dem Pott ein wenig Glanz. Weil es meist bereits oft gespielte Zweitverwertungen anderer Bühnen sind, bleiben die Kosten im Rahmen. Beim Abschlusskonzert singen BAP, vergangenes Jahr kamen die Prinzen. Es ist ein Konzept, das die Säle füllt.

Doch reicht das? Hoffmann findet: Ja. Die Menschen hätten "ein Recht auf Unterhaltung", gerade in politisch und wirtschaftlich trüben Zeiten. Schauspiel sei ein Erlebnis der Sinne, die Zuschauer sollten sich an den Stücken erfreuen dürfen. "Wenn man Unterhaltung im Theater als negativ darstellt, dann finde ich das pervers", sagt Hoffmann. Da hat er Recht. Wer will schon den Zuschauern ihren Spaß missgönnen? Und die Diskussion, das Programm sei mit Klassikern überlastet, musste schon der legendäre Festspielleiter Otto Burrmeister in den 60er Jahren erdulden, wenngleich er ihr dann auch stets unverzüglich mit dem donnernden Ausruf "Qualität!" und der Frage "Wollt Ihr Proletkult?" ein jähes Ende bereitete. 

Die Frage, ob ein von den Gewerkschaften getragenes Theaterfestival nicht mehr als Genuss bieten muss, ist also schon etwas älter. Vergleichsweise neu hingegen sind die Folgen des Strukturwandels in jener Region, die die Spiele im Titel tragen: 13 Prozent Arbeitslosenquote in Recklinghausen, 18 in Dortmund, 25 in Gelsenkirchen. Das sind Zahlen, die man in der Vergangenheit nur aus Ostdeutschland kannte. Muss Theater diese bedrückende Situation nicht aufgreifen? "Ostbahnhof West" hatte Frank Castorf im Sommer 2004 über die gewaltige Recklinghausener Festspielhalle schreiben lassen.

Doch würde ein "politisches Theater" überhaupt die erreichen, die gemeint sind? Bei Castorf blieben die Stühle leer. Und neben dem mythischen Epos "Kunst für Kohle" gibt es noch andere Festspiel-Geschichten, die daran zweifeln lassen. In einer wird der Betriebsratsvorsitzende des Bergwerks Ewald-Fortsetzung vom Festspielleiter angerufen. Es fehle an Publikum, ob man helfen könne? Man kann. Abends erhalten fünfzig Bergmänner die Weisung, am nächsten Tag nach dem Pütt an der Bushaltestelle anzutreten. Im schwarzen Anzug, es gehe ins Theater. Irgendwas von Goethe wird gegeben. Die Bergmänner nennen es "Quasselstück" und die Pause "Halbzeit", in der sie die nächste Kneipe aufsuchen, Zeit überbrücken. Der Bus ist schließlich erst in ein paar Stunden bestellt.

Hans Dieter Baroth muss lachen, als er das erzählt. Er hat in dem Bergwerk selbst fünf Jahre unter Tage geschuftet. Später wurde er Pressesprecher des DGB und der Ruhrfestspiele. Wenn sein Intendant den Journalisten die Formel von den Arbeitern, der Kultur und dem Wissen in die Blöcke diktierte, musste er immer an die Kumpel in der Kneipe denken. Die Vorstellung, dass man die Arbeiter vom Bühnenrand aus politisieren könnte, war schon damals Illusion. Zwar saß auf jedem zweiten Platz ein Gewerkschaftsmitglied. "Doch echte Arbeiter sind da freiwillig nie hingegangen", sagt Baroth. "Die klatschten am Wochenende lieber für Schalke 04."

Mittlerweile hat sich das traditionelle Arbeitermilieu ohnehin weitestgehend aufgelöst. An die Stelle des arbeitenden Proletariats sind vielerorts neue Gruppen getreten, die der Enttäuschten und Desillusionierten zum Beispiel. Genau hier sei die neue Zielgruppe des Festivals zu finden, glaubt Nikolaus Müller-Schöll. Der Bochumer Theaterwissenschaftler zog ein Jahr nach Castorfs Kündigung mit seinen Studenten als Trauerzug zur Festspieleröffnung, sang "Le Frank est mort" und warf dem DGB vor, er sei nur auf die Einnahmen fixiert. Er hätte Castorf mehr Zeit geben sollen. Gerade die politikverdrossenen jungen Leute müsse man mit einem experimentellen Programm abholen, das eben auch Risiken berge, sagt Müller-Schöll. "Da verliert man zunächst immer Zuschauer."

Sich auf das Publikum einlassen, das will auch Frank Hoffmann, das will die Aufsichtsratsvorsitzende Sehrbrock. Es ist paradox, dass sie ähnlich wie ihre Kritiker argumentieren: Man müsse bei jungen Leuten Schwellenängste vor dem Theater abbauen, sie abholen, sagen sie. Aber sie meinen damit etwas völlig anderes. "Theater muss immer eine Gegenbewegung zum gesellschaftlichen Zustand sein", sagt Hoffmann. In einer kaputten Welt sei es nicht Aufgabe der Kunst, diese auf der Bühne nochmals abzubilden. "Wollen die Menschen eigentlich auf der Bühne ihre eigene Lebenswirklichkeit gespiegelt sehen, oder wollen sie etwas Neues entdecken?", fragt Sehrbrock.

Auf jeden Fall wollen sie feiern. Am vergangenen ersten Mai stürmten 150 000 Menschen den grünen Hügel und vergnügten sich bei einem riesigen Volksfest zu Bratwurst und Bier - alles wunderbar. Die Frage, ob es dazu die Obhut der Arbeiterbewegung braucht, stellte sich da nur noch den Feuilletonisten. Es könnte ohnehin nicht ganz leicht sein, aus dem Vertrag mit der Stadt auszusteigen. Es ist ja nicht so, dass man darüber seit Hans Böcklers Zeiten nie nachgedacht hätte.

Für die kantigen Tarifpolitiker an der Gewerkschaftsspitze spielte bei den Ruhrfestspiele schon immer das Geld und weniger ein Will Quadflieg oder Kevin Spacey die Hauptrolle. Und ob die Liebe des hoch verschuldeten Landes Nordrhein-Westfalen, das eine Million Euro Fördermittel bereitstellt, und die Liebe der Ruhrkohle AG, die sogar deutlich mehr zuschießt, auch in Zukunft noch für die Ruhrfestspiele brennen wird - wer weiß das schon? Ingrid Sehrbrock weiß es nicht, und eine Zusage über die Zeit nach 2007 hinaus will sie denn auch in diesem Jubiläumsjahr nicht geben.

Vielleicht zeigt sich die Zukunft der Festspiele ja in "Warten auf Godot", das als Gastspiel des Berliner Ensembles in der Regie von George Tabori zur Aufführung kommt. Man wartet und wartet, und nichts passiert. Die Ungewissheit quält. Doch worauf wartet man nur? Auf den Sinn? Auf etwas, das die Ruhrfestspiele von anderen unterscheidet? Dann wäre das Stück wirklich hoch aktuell.



Im Internet:
Auf der Webseite der Ruhrfestspiele kann man sich über das Programm informieren und auch direkt Karten bestellen:  www.ruhrfestspiele.de

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