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Magazin Mitbestimmung

: Kreditpunkte schaffen Übergänge

Ausgabe 11/2004

Mit Hochdruck arbeitet die EU-Kommission an der Entwicklung eines Kreditsystems für die berufliche Bildung. Auf der Regierungskonferenz in Maastricht im Dezember 2004 werden Vorentscheidungen fallen: Bereits 2006 soll ein europäischer Referenzrahmen für Qualifikationen eingeführt werden. Nicht nur die Wirtschaft, auch die Mobilitätswünsche der Bürger treiben diese Entwicklung an.

Von Winfried Heidemann
Dr. Heidemann leitet das Referat Qualifikation in der Hans-Böckler-Stiftung. Im Auftrag des EGB ist er Mitglied der europäischen Arbeitsgruppe zur Vorbereitung des Kredittransfersystems für die berufliche Bildung.
winfried-heidemann@boeckler.de

Mit Hochdruck arbeitet die EU-Kommission an der Entwicklung eines Kreditsystems für die berufliche Bildung. Auf der Regierungskonferenz in Maastricht im Dezember 2004 werden Vorentscheidungen fallen: Bereits 2006 soll ein europäischer Referenzrahmen für Qualifikationen eingeführt werden. Nicht nur die Wirtschaft, auch die Mobilitätswünsche der Bürger treiben diese Entwicklung an.

Hintergrund ist die auf dem EU-Gipfel von Lissabon im Frühjahr 2000 beschlossene Strategie, Europa bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten Raum einer wissensbasierten Ökonomie zu entwickeln. Für die Berufsbildung wurden die Weichen im Spätherbst 2002 auf dem Gipfel in Kopenhagen mit einem begleitenden Übereinkommen der europäischen Sozialpartner gestellt. Unter diesem Dach wurden Arbeiten zur Transparenz von Qualifikationen, zur Qualität von Berufsbildungsangeboten und
-anbietern und an der Entwicklung eines Kreditsystems für die berufliche Bildung aufgenommen. Der Weg, auf dem das geschieht, nutzt Instrumente von Benchmarking und weicher Regulierung (Methode der "offenen Koordinierung" der nationalen Berufsbildungspolitiken). Dennoch wird dies Folgen für die Berufsbildungssysteme und mittelfristig auch für die betriebliche Aus- und Weiterbildung haben. Berufsbildung wird sich im Zuge der Europäisierung verändern - in allen Ländern.

"Wie eine gemeinsame Währung"

Das ECVET, das Europäische Kreditsystem für die Berufsbildung, soll sich am ECTS, dem Europäischen Kredit-Transfersystem für den Hochschulbereich, orientieren. Dieses ermöglicht die Anerkennung von "Kreditpunkten" für Studienabschnitte, die an Hochschulen im Ausland erworben wurden. Durch die Orientierung des ECVET am ECTS sollen auch Übergänge zwischen beruflicher Bildung und Studium erleichtert werden.

Das neue berufliche Kreditsystem verfolgt zwei Zielbündel: In einer personalen Perspektive sollen die Transparenz und Anerkennung aller Lernergebnisse erreicht werden, um eigene Bildungswege zu verfolgen und räumliche wie auch berufliche Mobilität zu erleichtern. Und in der Perspektive der Berufsbildungssysteme soll wechselseitiges Vertrauen zwischen den Akteuren der Berufsbildung entwickelt werden, um die Zusammenarbeit zwischen Bildungseinrichtungen zu stärken.

Die auf Personen bezogenen Ziele wollen Lernergebnisse sowohl innerhalb der nationalen Systeme zwischen verschiedenen Qualifikationsebenen (Berufsbildung und Studium, formales und informales Lernen) als auch zwischen verschiedenen Ländern übertragbar machen. Es soll in Zukunft möglich sein, Ausbildungs- und Lerneinheiten zu akkumulieren und modular zu formalen und anerkannten Teil- oder Vollqualifikationen zusammenzusetzen. Und das ECVET hat nicht nur die berufliche Erstausbildung, sondern auch die berufliche Weiterbildung im Blick; perspektivisch sollen nicht nur formale, sondern auch die in nicht-formalen Bildungsgängen erworbenen Kompetenzen einbezogen werden.

Künftig könnte also ein junger Mensch einige Monate seiner Ausbildung in Holland absolvieren. Für die dort erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten erhält er nach dem ECVET-System Kreditpunkte, die für die Fortsetzung seiner Ausbildung in Deutschland anerkannt werden. Oder: Eine Arbeitnehmerin möchte eine spezielle berufliche Fortbildung in England machen; auch dafür gibt es Kreditpunkte, die sie als Bausteine für eine anerkannte Fortbildung in Deutschland nutzen kann.

Im Mittelpunkt der Arbeiten am ECVET steht die Definition von Kreditpunkten und von Lern- oder Studieneinheiten (Rolle von Zeit und Leistung in Bildungsgängen oder Ergebnissen von Bildungsprozessen). Die Arbeiten daran sollen 2005 abgeschlossen werden, so dass die EU-Kommission einen offiziellen Vorschlag für das Kreditsystem vorlegen kann.

Ein zweites Feld der Arbeiten ist ein Referenzrahmen für die Bestimmung des Niveaus der vermittelten Qualifikationen. Damit Kreditpunkte übertragen werden können, müssen sie auf einen Vergleichsmaßstab für das Niveau der Qualifizierung bezogen werden. Die existierenden internationalen Klassifikationen sind statistischer Art und können Lernergebnisse nicht abbilden; die EU-Schemata von 1985 und 2002 mit fünf Bildungsniveaus stufen die deutsche duale Ausbildung tiefer ein als vergleichbare schulische Ausbildungsgänge in anderen Länder; ein im Zuge der ECVET-Arbeiten entworfener Vorschlag hält acht Niveaus mit jeweils drei Unterebenen für nötig, um berufliche Qualifikationen adäquat abzubilden. Die irische Regierung hat nun die Idee eines eigenständigen europäischen Qualifikationsrahmens EQF in den Kopenhagen-Prozess eingebracht, der ECVET und ECTS integrieren soll. Der europäische Referenzrahmen soll es ermöglichen, Qualifikationen "wie eine gemeinsame Währung" in Europa einzusetzen.

Aber die Kompatibilität mit dem Hochschul-ECTS wirft Probleme auf: Teilnehmer an beruflicher Bildung auf Sekundarniveau sind im Unterschied zu Studierenden an Universitäten nicht frei in der Wahl von Zeit und Ort der Ausbildungsabschnitte. Dieses Problem tritt besonders bei betrieblichen Ausbildungsgängen im Rechtsrahmen von Arbeitsverträgen auf.

Ein Gespenst geht um in Deutschland

Im Gefolge des ECVET taucht immer wieder ein in Deutschland gefürchtetes Gespenst auf: die Modularisierung. Zwar verneint die Technische Arbeitsgruppe zum ECVET in ihrem Zwischenbericht einen zwingenden Zusammenhang des Kreditsystems mit der Modularisierung von Ausbildung, doch wird die Vergabe von Kreditpunkten ohne Zweifel erleichtert, wenn Qualifizierung in modularen Einheiten organisiert ist. Damit ist ein empfindlicher Kern der dualen Ausbildung in Deutschland berührt: das "Berufsprinzip" mit geschlossenen Berufsbildern und "ganzheitlicher" Ausbildung. Deshalb treffen die Arbeiten am ECVET auf besondere Kritik aus Deutschland, die aber keine nennenswerte Unterstützung in Europa findet.

Die meisten Länder stehen einem Kreditsystem, dem europäischen Qualifikationsrahmen und der Modularisierung wohlwollend gegenüber. Einige industrielle Sektororganisationen haben einen Qualifikationsrahmen befürwortet, der ihnen in dem von der Europäischen Kommission geförderten "sektoralen Dialog" mit den Gewerkschaften die Entwicklung sektoraler Qualifikationen, die europaweit gültig sind, erleichtern würde. Auch die europäischen Gewerkschaften fügen sich mehrheitlich in den europäischen Mainstream ein.

Deutschland mit seinem vorwiegend betriebsbasierten Ausbildungssystem befindet sich offenbar in einer Minderheitsposition. Jedoch scheint bei näherer Betrachtung ein Anschluss an die europäische Entwicklung auch hier nicht von vornherein unmöglich: Können schon die Berufsbilder und Rahmenlehrpläne der Ausbildungsberufe als Grundformen von Modulen angesehen werden, so nehmen erst recht die neueren Ausbildungsordnungen mit Pflicht- und Wahlbausteinen ein modulares Strukturprinzip auf. In der Praxis dürfte die Orientierung an Kreditpunkten oder Modulen allerdings dazu führen, dass die Ausbildungsabschnitte zeitlich und sachlich stärker strukturiert werden müssen, als das bisher in der betriebsabhängigen Ausbildung der Fall ist.

Schließlich zeigt der Bologna-Prozess, dass am Ende ein in allen Ländern geltender formaler Qualifikationsrahmen, in den sich die Kreditpunkte einfügen, herauskommen kann: In Deutschland werden die traditionellen Diplomabschlüsse durch Bachelor und Master abgelöst. Trotz des Prinzips der Freiwilligkeit bei der Nutzung des ECVET-Systems ist deshalb die Annahme nicht abwegig, dass dieser Prozess langfristig zu einheitlichen Strukturprinzipien der Berufsbildung in Europa führen wird.

Neue Chancen für das lebenslange Lernen

In fünf bis zehn Jahren werden wir in der Berufsbildung eine Situation haben, wie wir sie aus dem Unternehmensrecht und der Unternehmensmitbestimmung kennen: Ein europäischer Referenzrahmen für die Berufsbildung wird Betrieben und Ausbildungseinrichtungen angeboten, den sie nutzen können, aber nicht müssen. Sie können auch weiterhin nationale oder regionale Standards für Qualität und Anerkennung anwenden. Wenn sie allerdings transnational nutzbare und anerkannte Qualifikationen vermitteln wollen und wenn berufliche Mobilität verwirklicht werden soll, dann wird Qualifizierung in einem europäischen Referenzrahmen stehen müssen.

Neben den Risiken der Aufweichung des deutschen Berufssystems zeichnen sich auch Chancen für das lebenslange Lernen und für neue Brücken zwischen Berufsbildung und Hochschulen ab. Nicht nur Mobilitätserfordernisse der europäisierten Wirtschaft, sondern auch die Mobilitätswünsche der Bürgerinnen und Bürger treiben diese Entwicklung an. Deshalb ist übrigens auch der Vorschlag, bei der Föderalismusreform in Deutschland die Zuständigkeit für Berufsbildung ausschließlich den Bundesländern zu übertragen, abwegig - Kleinstaaterei führt weder hier noch dort weiter.

ECVET
European Credit System for Vocational Education and Training - Europäisches Kreditsystem für die Berufsbildung (Kern des so genannten "Kopenhagen-Prozesses")

ECTS
European Credit Transfer System - Europäisches Kredit-Transfersystem für den Hochschulbereich (Kern des so genannten "Bologna-Prozesses")

EQF
European Qualification Framework - Europäischer Qualifikationsrahmen

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