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Der Betriebsrat des Klinikums (Wolfgang Kirstner, Helmut Riedel, Helmut Bräutigam und Martin Lücke v.l.) hat die Modernisierung angestoßen. Magazin Mitbestimmung

Von ANDREAS KRAFT: Klinikum Coburg: Gestern Ordensschwester, heute Arbeitnehmerin

Ausgabe 12/2017

Betriebsrat Engagierte Betriebsräte am Klinikum Coburg waren der Zeit voraus, als sie am so genannten Ordensprivileg der Rotkreuzschwestern zu rütteln begannen. Mitte Dezember haben die Betriebsräte den Goldpreis beim Deutschen Betriebsrätetag 2017 in Bonn erhalten.

Von ANDREAS KRAFT

Wenn nachts der Pieper geht, ist Martin Lücke hellwach. Er wirft sich seine Jacke über, läuft zum Notarztwagen und fährt mit Blaulicht zum Einsatz. Ein bisschen Nervenkitzel ist dabei: „Ich brauche dann meine volle Konzentration“, sagt der Notarzt. Aber er macht den Job nicht wegen des Adrenalin-Kicks, sondern weil er Menschen in Not helfen will. Seinen Beruf liebt er so sehr, dass er auch als freigestellter Betriebsrat noch Nachtschichten leistet.

Wenn er jetzt in der Cafeteria des Klinikums Coburg sitzt und wieder einmal Journalisten von den vergangenen 15 Jahren erzählt, merkt man, dass es ihm mit dem Betriebsratsamt ganz ähnlich geht. Man spürt, wie sehr ihm Ungerechtigkeiten gegen den Strich gehen. Aus seinen Erzählungen hört man auch immer wieder heraus, dass er es liebt, Konflikte auszufechten. Und davon gab es in den vergangenen 15 Jahren mehr als genug.

Ein Privileg, das den Namen nicht verdient

Alles hat mit einer simplen Frage begonnen: Warum sind die Krankenschwestern eigentlich bei der Wahl des Betriebsrates ausgeschlossen? Das lag schlicht am Ordensprivileg im Betriebsverfassungsgesetz. Wenn Personen Tätigkeiten ausüben, die nicht vorrangig dem Erwerb dienen, sondern religiösen oder karitativen Zwecken, soll das Gesetz keine Anwendung finden. Seit über hundert Jahren war es die Coburger Rotkreuzschwesternschaft, die Personal für das Krankenhaus stellte.  Der Verein hatte dafür einen Gestellungsvertrag mit der Klinik, in dem er sich verpflichtete, für einen bestimmten Betrag eine bestimmte Anzahl an Krankenpflegerinnen zu stellen.

RECHTSLAGE

Im Februar 2017 hat das Bundesarbeitsgericht auf Grundlage eines Urteils des Europäischen Gerichtshofes (EuGH)  entschieden, dass auch Rotkreuzschwestern Arbeitnehmerinnen im Sinne des Arbeitsnehmerüberlassungsgesetzes sind. Inspiriert von den Kolleginnen in Coburg hatten auch die Schwestern in Essen den Kampf aufgenommen und waren bis vor den EuGH gezogen. Damit würden für sie auch die von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) umgesetzten Reformen für Leiharbeiter gelten: Seit dem 1. April 2017 dürfen sie nicht länger als 18 Monate ausgeliehen werden. Das Modell der Rotkreuzschwestern wäre damit am Ende. Bislang waren die Beschäftigten nahezu von allem Arbeitnehmerrechten ausgeschlossen. Aktuell versucht die Bundesregierung für das Deutsche Rote Kreuz eine entsprechende Ausnahme durch den Bundestag zu bringen. Nach Einschätzung von ver.di widerspräche das aber europäischem Recht.

Anfangs war das eine gute Sache. Schließlich wollte der Verein nicht nur Kranken helfen, sondern eröffnete Frauen so auch eine gesellschaftliche Perspektive und damit ein Stück Gleichberechtigung. Doch im Laufe der Zeit machte das Ordensprivileg die Krankenschwestern zu Arbeitnehmerinnen zweiter Klasse.  Während sich die männlichen Krankenpfleger bei Problemen mit der Klinik im Zweifel an den Arbeitsrichter wenden konnten, in Tarifauseinandersetzung streiken durften und auch den Betriebsrat wählten, wurden ihren Kolleginnen diese Rechte verwehrt.

Widerstand gegen uralte Gewohnheiten

Um die Jahrtausendwende fanden sich am Klinikum Coburg vier Betriebsräte zusammen, die diese Ungerechtigkeit nicht länger dulden wollten. Drei von ihnen sind mit Krankenschwestern verheiratet, einer ist Martin Lücke. In all den Jahren sind sie richtige Freunde geworden. Im Kern hatten sie nur eine Forderung: Die Rotkreuzschwestern sollten an der Wahl des Betriebsrates beteiligt werden. Doch die Auseinandersetzung eskalierte immer mehr.

„Wir saßen oft hier in der Cafeteria“, sagt Lücke, „und wussten nicht weiter.Aber bei all dem konnten wir immer noch zusammen lachen.“ Selbst als die Klinikleitung die Betriebsräte persönlich auf Schadenersatz verklagen wollte und von den Familienvätern 240.000 Euro forderte, weil sie Gelder der Bundesregierung blockierten. Als Korrektiv hatte die Regierung zusätzliche Mittel für die Krankenhäuser daran geknüpft, dass Betriebsräte den Stellenplänen zustimmen.

Lückes Augen leuchten, wenn er erzählt, mit welchem Kniff der Anwalt der Arbeitnehmerseite die Klinikleitung dazu brachte, ihre Klage fallen zu lassen: Er argumentierte gegenüber der Geschäftsführung, dass ein Betriebsrat ja immer mittellos ist und der Arbeitgeber ihm die Mittel stellen muss. Den geforderten Schadenersatz könne die Klinik ja bis zur gerichtlichen Entscheidung auf ein Treuhandkonto überweisen. „Zwei Tage nach dem Schreiben des Anwalts war die Drohung vom Tisch“, sagt Lücke.

Bessere Löhne, und endlich das Wahlrecht

Nach personellen Veränderungen im Management einigten sich die Geschäftsführung und der Betriebsrat schließlich. Die Klinik konnte durch die Zustimmung des Betriebsrates über das Pflegeförderprogramm mehr Geld von den Krankenkassen bekommen. Dafür durften die Rotkreuzschwestern endlich den Betriebsrat mitwählen.

Auf Sabine Bräutigams Schreibtisch stehen diverse Gesetzessammlungen. Fast täglich schlägt sie darin etwas nach, wenn sich eine ihrer Kolleginnen mit einem Problem an sie wendet. Denn eines ist ihr besonders wichtig: Dass jeder zu seinem Recht kommt. Sabine Bräutigam ist die erste Rotkreuzschwester, die in den Betriebsrat gewählt wurde. Vor gut dreieinhalb Jahren war das. „Ich hätte nie für möglich gehalten, dass ich mal Betriebsrätin werde“, sagt die 61-Jährige. „Früher dachte ich, dass sich Betriebsräte ein schönes Leben machen. Aber in Wahrheit ist das ein ganz harter Job.“

Anfangs, erzählt sie,  habe sie von der Auseinandersetzung für mehr Mitbestimmung wenig mitbekommen. Doch im Vorfeld der ersten Wahl, bei denen die Schwestern sich auch aufstellen lassen konnten, merkte sie, wie vehement die Oberin gegen den Betriebsrat war. „Da dachte ich mir: Jetzt lasse ich mich aufstellen. Man darf doch die Menschen nicht in ihren Rechten einschränken“, sagt Bräutigam. „Die Oberin hat nach der Wahl kein Wort mehr mit mir gesprochen.“

Doch so richtig dazu gehörten sie und ihre Kolleginnen immer noch nicht. Auch wenn sich schon etwas verbessert hatte, durften sie noch immer nicht streiken und hatten keinen arbeitsrechtlichen Schutz gegenüber der Klinik. Hinzu kamen noch die kleinen nickeligen Details, die an vielen Leiharbeitern nagen: „Wenn Weihnachtsfeier war oder Betriebsausflug, durften wir nicht mit“, sagt Bräutigam. „Dann hieß es immer: Ihr seid doch Rotkreuzschwestern.“

MEILENSTEINE

2003: Bei der Betriebsratswahl lässt der Wahlvorstand die Rotkreuzschwestern als Leiharbeiterinnen mitabstimmen. Die Klinikleitung ficht die Wahl gerichtlich an und bekommt Recht.

2008: Mit dem Pflegeförderprogramm können Krankenhäuser ihr Budget aufstocken, wenn sie zusätzliche Pflegestellen schaffen. Dazu muss es aber eine Vereinbarung mit dem Betriebsrat geben. Der Coburger Betriebsrat koppelt seine Zustimmung daran, dass die neuen Stellen an der Klinik geschaffen werden und nicht bei den Rotkreuzschwestern. Die Krankenhausleitung verklagt den Betriebsrat.

2012: Vor dem Bundesarbeitsgericht in Erfurt kommt es zum Vergleich: Die Rotkreuzschwestern werden bei der Betriebsratswahl berücksichtigt – als Wahlberechtigte, als Kandidaten und bei der Berechnung der Gremiengröße.

2014: Sabine Bräutigam wird als erste Rotkreuzschwester in einen Betriebsrat gewählt.

Für viele Kolleginnen kam noch ein gravierender Punkt hinzu. Seit Beginn der 90er Jahre galt für die neu eingestellten Krankenschwestern nicht der Tarif für den öffentlichen Dienst. „Und das ist ja schon nicht viel“, sagt Bräutigam und blättert im aktuellen Tarifvertrag: „In der Nachtschicht verdient eine Schwester ja gerade mal 15,70 Euro die Stunde.“ Kein Wunder also, dass sich der neue Betriebsrat direkt für Lohngerechtigkeit unter den Schwestern einsetzte.

Das Ende der Schwesternschaft Coburg

Die Gelegenheit, auch dieses Ziel zu erreichen, bot sich Ende 2016, als sich abzeichnete, dass die Schwesternschaft Coburg in finanziellen Schwierigkeiten stecken könnte. Damals bot die Klinik den Schwestern kurzerhand an, sie direkt anzustellen. 500 Rotkreuzschwestern nahmen das Angebot direkt an. Die übrigen 40 folgten schließlich nach der Insolvenz des Vereins.

Bei dem derzeitigen Pflegenotstand kann es sich das Krankenhaus schlicht nicht erlauben, qualifiziertes Personal zu verlieren. Schon jetzt ist die Personallage äußerst prekär. Laut Betriebsrat sind derzeit 37 Stellen unbesetzt und allein die Krankenschwestern haben zusammen 40.000 Überstunden.

Was das bedeutet, wissen die drei Betriebsratsmitglieder, die mit Krankenschwestern verheiratet sind,  genau. Sie erzählen, ihre Frauen würden fast an jedem freien Wochenende angerufen, ob sie nicht eine Schicht übernehmen könnten. „Die Arbeitsbelastung ist enorm“, sagt Helmut Bräutigam, der mit Sabine Bräutigam verheiratet ist. „Der Beruf ist ja ohnehin physisch und psychisch anstrengend. Bei dem ganzen Stress wären angemessene Pausen enorm wichtig.“ Aber es sei schwer, Anfragen auszuschlagen. „Es geht ja um die Patienten. Die kann man ja nicht einfach allein lassen.“

Die Energie, auch ihre eigenen Arbeitsbedingungen zu verbessern, müssen die Beschäftigen noch zusätzlich aufbringen. „Mitbestimmung bekommt man nicht geschenkt“, sagt der Notarzt Martin Lücke, der Mitglied bei ver.di ebenso ist wie beim Marburger Bund. „Dafür muss man kämpfen – jahrelang.“

Aufmacherfoto: Till Mayer

 

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