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Jan Gündel Magazin Mitbestimmung

Aus dem Leben: Jeder erlebt es anders

Ausgabe 03/2022

Nach zwei Jahren Pandemie hatten die Menschen kaum aufge­atmet, da verschlug der Krieg in der Ukraine ihnen erneut den Atem. Sechs Frauen und Männer erzählen, wie die Krisen ihr Leben geändert haben. Von Fabienne Melzer

Jan Gündel, Altenpfleger aus Neustadt in Sachsen

Corona hat Jan Gündel die Augen geöffnet. Die Augen geöffnet für manche Dinge im Pflegealltag, über die er vorher hinweggeschaut hat. Mit Anfang 40 schulte Gündel zum Altenpfleger um – aus Überzeugung. Er sah darüber hinweg, dass die Bewohner beim Essen oft keinen Nachschlag bekamen, dass alle morgens um 8.30 Uhr gewaschen und angezogen sein mussten. Selbst als die Kasse die Zahl der Windeln pro Tag begrenzte, versuchte er, so gut wie möglich die Menschen in seiner Einrichtung zu versorgen. Einige kannte er seit seiner Kindheit.

Dann kam die Pandemie. Viele Pflegekräfte infizierten sich, viele Bewohner starben. „In der ersten Welle hat die Geschäftsführung noch gut reagiert“, erzählt der 50-Jährige. „Es ging mal nicht um Gewinn, es ging darum, gut da durchzukommen.“ Doch in der zweiten Welle ließ das nach. Pflegekräfte schoben Doppelschichten. Die Schutzkleidung erschwerte die Arbeit. Kein Drücken, kein Handhalten, kaum ein Gespräch mit den Bewohnern war mehr möglich. Gleichzeitig sollte alles angesichts der Infektionsgefahr perfekt laufen. „Aber dafür stimmten die Bedingungen schon vor Corona nicht“, sagt Gündel.

Die Pandemie war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Gündel kündigte. Er konnte die Arbeit nicht mehr mit seinem Gewissen vereinbaren: „Wenn eine Pflegefachkraft teilweise für 50 Bewohner auf vier Etagen zuständig ist, ist das eine Katastrophe. In Sachsen gibt es keinen festen Personalschlüssel, und die Berechnung allein nach den Pflegegraden ist würdelos gegenüber den älteren Menschen.“ Hier müsse die Politik einen bundesweit einheitlichen und menschenwürdigen Pflegeschlüssel einführen. Aber Pflegekräfte müssten sich auch stärker gewerkschaftlich organisieren.

 „Diese Krise hat die Menschen doppelt so schnell altern lassen“, sagt Gündel. Er spürt es selbst. Früher hat er seinen Garten an einem Nachmittag in Ordnung gebracht. Heute ist er schon nach kurzer Zeit müde. „Und ich hatte kein Corona“, sagt Gündel.

  • Kübra und Spiro Dinas, Qualitätsprüferin und Vorarbeiter im Motorenwerk bei Ford in Köln

Kübra und Spiro Dinas, Qualitätsprüferin und Vorarbeiter im Motorenwerk bei Ford in Köln

Sorgen machen sich Kübra und Spiro ­Dinas nicht. Es ist eher diese Ungewissheit, die über allen schwebt, die das junge Paar bedrückt. „Wir arbeiten beide bei Ford im Motorenwerk, und es ist ganz klar, dass wir dort demnächst nicht mehr gebraucht werden“, sagt Spiro Dinas, Vorarbeiter in der Produktion. Die beiden vertrauen auf die Zusage, dass jeder von ihnen auch in Zukunft bei Ford arbeiten wird. Doch was heißt das, fragt sich Spiro Dinas: „Arbeite ich weiter als Vorarbeiter, oder muss ich zurück ans Band? Wie wird die Arbeit sein, die ich dann habe?“ Der Vertrauensmann der IG Metall hört diese Fragen auch von Kollegen, die sich mit ihren Befürchtungen an ihn wenden. „Die Stimmung hat sich verändert“, sagt Spiro Dinas. „Viele suchen sich etwas anderes und verlassen Ford.“Finanzielle Sorgen plagen die beiden nicht, auch wenn sie schon wieder seit drei Wochen in Kurzarbeit sind. Zwar spüren sie die steigenden Preise in der Haushaltskasse, aber mit kleineren Einschränkungen können sie leben. „Früher sind wir mindestens einmal in der Woche essen gegangen“, erzählt Kübra Dinas, „das machen wir inzwischen viel seltener.“ Freunde laden sie öfter nach Hause ein. Beim Einkauf schaut Kübra mehr auf Angebote.

  • Mareike Kühne, Studentin aus Göttingen

Mareike Kühne, Studentin aus Göttingen

Als Mareike Kühne die Nachricht über das Entlastungspaket der Bundesregierung las, stieg die Wut langsam in ihr hoch. Sie dachte: „Ok, Studierende gehören also nicht zu den einkommensschwachen Haushalten.“ Doch ihr Ärger flaute schnell wieder ab: „Was soll’s? Ich muss mein Studium auf die Reihe kriegen.“ So kannte sie sich selbst nicht. Vor zwei Jahren hätte die 26-jährige Lehramtsstudentin gemeinsam mit anderen etwas dazu geschrieben, Protest organisiert.

Zwei Jahre Pandemie haben an ihren Kräften gezehrt. Sie fand Onlinevorlesungen anstrengend, schaltete schneller ab als im Hörsaal. Suchte die Schuld bei sich selbst. Ihr Studium hat sich verzögert, auch die Arbeit in den Hochschulgruppen litt. „Vielen fehlte die Kraft, sich auch noch dafür in eine Videokonferenz zu setzen“, sagt Mareike Kühne. „In dieser Zeit lief in der Studierendenvertretung weniger als vor der Pandemie.“

Zwar kehrte an den Hochschulen inzwischen der Alltag zurück, doch die Strukturen müssen sich erst wieder aufbauen – vorausgesetzt, die Aktiven sind noch da. Eine Gruppe, in der Mareike Kühne mit anderen bei Konzerten Pfand gesammelt hatte, gibt es nicht mehr. Andererseits spürt sie auch, wie groß das Bedürfnis ist, wieder unter Menschen zu sein. Als eine ihrer Gruppen zum ersten Mal wieder zum interkulturellen Kochen einlud, hatten sich mehr angemeldet als kommen konnten. „Das gab es noch nie“, sagt die Studentin.

  • Thomas Mendrzik, Aufsichtsrat bei der Hamburger Hafenlogistik (HHLA)

Thomas Mendrzik, Aufsichtsrat bei der Hamburger Hafenlogistik (HHLA)

Es herrscht Krieg auf den Plätzen, an denen Thomas Mendrzik vor ein paar Monaten noch saß. „Plötzlich liegt da alles in Schutt und Asche. Was für ein Wahnsinn!“ Der 62-Jährige ist Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat des Hamburger Hafenlogistikers HHLA, der im Hafen von Odessa den größten Containerterminal betreibt. Mendrizk besuchte die Ukraine oft, zuletzt im vergangenen Oktober.

Und nun: Krieg. Der Containerterminal geschlossen. Der Hafen vermint. Den wirtschaftlichen Schaden für die HHLA hält Mendrzik für überschaubar. Die viel wichtigere Frage lautet für ihn: Wann hört dieser Krieg auf? Wann hört das Sterben auf beiden Seiten auf? Rund 450 Menschen beschäftigte der Logistiker im Hafen von Odessa. „Mit dem Vorstand hat unser Arbeitsdirektor die Angehörigen unserer ukrainischen Kollegen in Deutschland und Rumänien in Sicherheit gebracht“, erzählt der Aufsichtsrat. Vier von ihnen hat Mendrzik selbst aufgenommen.

Der Krieg hat nicht nur Plätze zerstört, er hat auch Handelsbrücken abgerissen. „Ein Großteil der Waren der in Odessa umgeschlagenen Container versorgte den Großraum Kiew und ging auch nach Russland. Auf den Schiffen unserer Reeder arbeiteten Russen und Ukrainer. Wenn sie ausfallen, bricht der Welthandel zusammen“, sagt der Gewerkschafter.

Dabei stapeln sich im Hamburger Hafen schon seit Monaten die Container. „Ein Containerhafen ist ein Umschlagplatz“, sagt Mendrzik, „doch inzwischen sieht es eher nach einem Parkplatz aus.“ Die Ursache dafür sieht er nicht nur in den Krisen, sondern auch in der Politik der Europäischen Kommission, die den Wettbewerb auf hoher See aufgehoben hat. „Die großen Reedereien nehmen keine Rücksicht auf Lieferketten“, sagt Mendrzik, „sie nehmen zuerst die Waren, die am meisten Geld bringen.“

Dennoch will er die Globalisierung nicht zurückdrehen: „Das wäre egoistisch. Sie hat vielen Entwicklung und Wohlstand gebracht.“ Um die nächste Krise besser zu überstehen, brauche es eine koordinierte europäische Verkehrs- und Sozialpolitik. Denn Häfen und Handel wird es immer geben. „Wir werden auch wieder mit den Menschen in Russland zusammen­arbeiten“, sagt Mendrzik, „wenn dieser Krieg hoffentlich bald vorbei ist.“

  • Yvonne Siegel

Yvonne Siegel, derzeit auf Arbeitssuche

Spargel ist ein Luxusgut, das Yvonne Siegel nie kaufen würde. Es war ein Fest, als es neulich drei Pfund davon bei der Tafel für kleines Geld gab. Zweimal im Monat geht sie dorthin, versorgt sich mit Obst, Gemüse, Molkereiprodukten und Brot, „richtig gutem Bäckereibrot“, auch Käse und Wurst. Der ganze Einkauf kostet hier nur 1,50 Euro. Seit auch viele Ukrainer zur Tafel kommen, ist der Andrang groß. Man braucht eine niedrige Losnummer, damit das Sortiment nicht schon eingeschränkt ist. „Wenn ich die Nachrichten sehe, Krieg und Inflation, habe ich Angst“, sagt Yvonne Siegel. „Ich weiß nicht, wo das alles hinführt.“ Sieben Jahre hat sie in einer Wäscherei gearbeitet.  Als wegen Corona die Hotels schließen mussten, gab es erst Kurzarbeit, dann war der Job weg. Mittlerweile ist das ALG I ausgelaufen. „Die Tafel hilft mir sehr, klarzukommen“, sagt sie. Auch sonst spart sie, wo es geht: „Duschen statt Badewanne“ ist für sie Normalität. Sie versucht immer, Rücklagen zu haben – damit Geld da ist, falls das Telefon kaputtgeht, oder eine spontane Reise nach Warnemünde möglich ist. Die fünf Euro monatlich, die die Verdi-Mitgliedschaft kostet, stehen für sie nicht zur Diskussion, weil ihr die Gewerkschaft schon mehrmals sehr geholfen hat. In eine Wäscherei will Yvonne Siegel nicht mehr, aber sie hat einen Traum: „Hauswirtschafterin in einem Kindergarten, das würde mir einen Riesenspaß machen. Der Lehrgang dafür ist schon geplant.“

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