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Marode Autobahnbrücke Magazin Mitbestimmung

Infrastruktur: Investieren ist teuer, nicht investieren ist teurer

Ausgabe 01/2023

Jahrelang wurde zu wenig in den Erhalt von Brücken, Straßen und Schienen investiert. Wozu das führt, zeigt das Beispiel einer kleinen Region in Südwestfalen. Angesichts der anstehenden Verkehrswende wird es höchste Zeit, umzudenken. Von Fabienne Melzer

Aus Lüdenscheid kam zu Weihnachten eine Karte mit ungewöhnlichen Grüßen: „Viele Grüße aus der Stadt ohne Autobahnanschluss, Bahnverbindung und Fichten.“ Die Stadt am Rande des Sauerlands hat es hart getroffen. Im Dezember 2021 musste die Rahmedetalbrücke auf der Autobahn 45 gesperrt werden. An der Ausfahrt Lüdenscheid ist seither Schluss, und durch die Stadt wälzen sich nun schon seit mehr als einem Jahr an Wochentagen 5740 Laster und 11 500 Autos, wie die Unternehmensberatung IW Consult zählte. Pendler verloren allein im ersten Jahr auf der Fahrt durch und nach Lüdenscheid 40 000 Tage Lebenszeit. Als sei das alles noch nicht genug, kappte die Bahn im vergangenen Jahr auch noch die letzte Bahnverbindung nach Lüdenscheid. Eine Brücke auf der Strecke muss saniert werden.  

In Lüdenscheid erleben die Menschen die Folgen dessen, was der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) Spuren nennt, die der langjährige öffentliche Sparkurs an der Infrastruktur hinterlassen hat. Nicht überall ist die Lage so dramatisch wie im Sauerland, aber viele Regionen leiden unter einer Verkehrsinfrastruktur, die seit Jahrzehnten unterfinanziert ist. Katja Rietzler, Ökonomin am Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung, genügt ein Blick auf die staatlichen Bruttoinvestitionen, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten überwiegend niedriger waren als die Abschreibungen. „Bei den Bauinvestitionen sieht die Entwicklung noch trauriger aus“, sagt Rietzler. Deutschland lebt von der Substanz. 

2020 befanden sich nur noch 12,9 Prozent aller Brücken an Bundesfernstraßen in einem guten oder sehr guten Zustand. 20 Jahre zuvor traf das noch auf jede dritte Brücke zu. Ein Viertel der Eisenbahnbrücken weist deutliche Schäden auf, fünf Prozent müssen in den nächsten Jahren abgerissen werden. Auf den Wasserstraßen sieht es noch düsterer aus. 85 Prozent der Schleusen bekommen im besten Fall die Note „Ausreichend“, im schlimmsten Fall ein „Ungenügend“. Die Deutsche Bahn schätzt die Kosten für Ersatzinvestitionen bei Gleisen, Weichen und Ähnlichem auf 56 Milliarden und bei Bahnhöfen auf noch einmal mehr als acht Milliarden Euro.  

Länger als gedacht 

Auch der Sanierungsbedarf im Straßennetz lässt sich nur schätzen. Noch fehlen Daten. Eine Forschungsgruppe am Deutschen Institut für Urbanistik (Difu) erhebt zurzeit die Länge des kommunalen Straßennetzes und dessen Zustand. Erste Ergebnisse überraschten auch Projektleiter Wulf-Holger Arndt: „Das kommunale Straßennetz ist länger als gedacht.“ Schätzungen gingen von maximal 660 000 Kilometern aus, nach Berechnungen des Difu sind es 720 000, davon sind ein Drittel in einem schlechten Zustand. „Jetzt wissen wir, worüber wir reden“, sagt Arndt. „Kosten hochrechnen können wir nur, wenn wir die Grundgesamtheit kennen.“ Die größten Sorgen bereiten den Kommunen die Brücken. Fast jede zweite ist laut Difu in keinem guten Zustand. „Brücken sind ein Sicherheitsrisiko“, sagt Arndt. „Den Kommunen bleibt nichts anderes übrig, als den Verkehr einzuschränken oder zu sperren.“ 

Eine marode Infrastruktur belastet nicht nur Autofahrer und Bahnpendler, sie wirkt viel weiter. In Lüdenscheid können sie davon erzählen.  Fabian Ferber ist Gewerkschaftssekretär der  IG Metall im Märkischen Kreis. Er fürchtet um die wirtschaftliche Zukunft des Standorts. Die Stadt mit rund 71 000 Einwohnern ist geprägt durch Klein- und Mittelbetriebe der metallverarbeitenden Industrie. Aus Lüdenscheid kommen Miniaturfahrzeuge von Siku, elektronische und mechatronische Teile für die Autoindustrie, Möbel, Ventile, Armaturen und das Bundesverdienstkreuz. Nun haben erste Unternehmen Büros im Ruhrgebiet angemietet. Der Metaller fragt sich, ob auch Investitionsentscheidungen zukünftig gegen die Region im südlichen Westfalen fallen könnten.  

Auch der Fachkräftemangel verschärft sich durch die Verkehrslage. Als im Ruhrgebiet viele Menschen ihre Arbeit verloren, fanden sie im Märkischen Kreis neue, pendelten seither von Bochum, Dortmund oder Hagen ins Sauerland. Nun kündigen die ersten. Bei Jasin Nafati, Verdi-Gewerkschaftssekretär in Südwestfalen und unter anderem zuständig für das Gesundheitswesen, rufen regelmäßig Beschäftigte der Märkischen Kliniken an und fragen ihn nach den Arbeitsbedingungen in anderen Häusern. „Wer nach Lüdenscheid pendelt, will sich wegbewerben“, sagt Nafati. Die Märkischen Kliniken mit 2400 Beschäftigten verzeichnen inzwischen 20 Prozent mehr Fluktuation. Arbeitswege von drei Stunden seien keine Seltenheit. Immer häufiger laute der Kündigungsgrund: Brückensperrung. „Ausbaden müssen das die, die bleiben“, sagt Nafati, „die Belastung steigt.“ Denn die Verkehrssituation macht es nicht einfacher, neue Fachkräfte zu gewinnen. 

„Selbst wer in Hagen wohnt, verzichtet lieber auf ein paar Hundert Euro im Monat, als weiter nach Lüdenscheid zu pendeln“, sagt Ferber. Geschäfte, Restaurants und Museen spüren das Ausbleiben von Kundschaft. Caroline Vedder führt das gleichnamige Café-Restaurant. Durch die Sperrung sei der Umsatz um 25 Prozent eingebrochen. Das Beratungsunternehmen IW Consult beziffert den volkswirtschaftlichen Schaden der Brückensperrung im ersten Jahr auf 360 Millionen Euro. „Das ist der Preis der schwarzen Null“, sagt Fabian Ferber. 

Das Festhalten an der schwarzen Null sieht auch Martin Stuber, beim DGB zuständig für Mobilität, kritisch. Gerade langfristige Investitionen könnten über Kredite finanziert werden, die auch zukünftige Generationen bezahlen. „Mit Investitionen in eine moderne Infrastruktur eröffnen wir Optionen für die Zukunft“, sagt Stuber. „Dazu müssen wir vor allem Schiene und ÖPNV ausbauen und die Verkehrsträger miteinander verknüpfen.“ Ähnlich argumentiert IMK-Ökonomin Katja Rietzler: „Wir brauchen eine goldene Regel, die bestimmte Investitionen vom Kreditaufnahmeverbot ausnimmt. Das wäre auch im Sinne der Generationengerechtigkeit, da Vorteile einiger Investitionen erst anfallen, wenn heutige Steuerzahler sie gar nicht mehr genießen können.“ Welche Investitionen durch Kredite und welche durch Steuererhöhungen finanziert werden, ist für Katja Rietzler eine politische Entscheidung. Nur eins ist für sie klar: „Finanzieren müssen wir es.“  

Wenn Deutschland die Klimaziele erreichen will, müssen vor allem im Verkehr die Emissionen sinken. Die Politik hat sich für diesen Sektor viel vorgenommen. Bis 2030 sollen sich die Fahrgastzahlen des öffentlichen Personennahverkehrs verdoppeln, der Anteil des Güterverkehrs auf der Schiene soll ebenfalls deutlich wachsen. Daher steht die Bahn noch längst nicht überall unter Strom. Das Ziel: In drei Jahren sollen 75 Prozent der Schiene elektrifiziert sein. 

Doch Ziele allein machen noch keine Verkehrswende. „Wer die Fahrgastzahlen verdoppeln will, muss auch das Angebot verdoppeln“, sagt Martin Stuber vom DGB. Ein attraktiver öffentlicher Nahverkehr muss flächendeckend und bezahlbar sein. Mit dem 9-Euro-Ticket ging der Bund einen ersten Schritt in Richtung bezahlbar. Das Nachfolgeticket für 49 Euro ist aus Sicht des DGB für manche Menschen zu teuer. Er fordert daher ergänzend ein bundesweites Sozialticket für unter 30 Euro. Mit dem 9-Euro-Ticket wuchs nicht nur die Begeisterung der Menschen fürs Bahnfahren, es legte auch die Probleme eines Netzes offen, das jahrelang vernachlässigt oder gar zurückgebaut wurde. Nun fehlen Ausweichstrecken, weshalb sich die Fahrt vor Baustellen oft verzögert. 

Die Beschäftigten arbeiteten im ÖPNV im Sommer 2022 drei Monate lang am Anschlag, denn es fehlt Personal. Verdoppeln sich die Fahrgastzahlen, braucht es bis 2030 nach Berechnungen der Gewerkschaft Verdi 170 000 zusätzliche Beschäftigte. Die Gewerkschaft rechnet für den Ausbau mit jährlichen Investitionen zwischen 10 und 12 Milliarden Euro. Bereits im vergangenen Jahr mahnte die stellvertretende Verdi-Vorsitzende Christine Behle, die Kommunen damit nicht allein zu lassen: „Viele können schon heute den Betrieb ihres ÖPNV kaum stemmen. Bund und Länder müssen Verantwortung für die Mobilitätswende übernehmen.“ Es werde nicht nur Geld für Sanierungen und Ausbau benötigt. Auch die Arbeitsbedingungen im ÖPNV müssten dringend verbessert werden. 

Fachkräftemangel und Arbeitsbedingungen – ein weiterer Knackpunkt der Verkehrswende. Denn Investitionen scheitern nicht immer nur am Geld, sondern auch am fehlenden Personal. In einer Befragung 2020 nannten 40 Prozent aller Kommunen Personalmangel in den Baubehörden als zweithäufigstes Hindernis für Investitionen. Nach dem Bauboom Anfang der 1990er Jahre wurde überall Personal abgebaut. „Das wirkt bis heute nach“, sagt IMK-Ökonomin Katja Rietzler. „Solche Personallücken lassen sich vermeiden, wenn der Staat seine Bautätigkeiten verstetigt.“  Auch die Digitalisierung schreitet in der Bauplanung wie auch im Verkehr nur langsam voran – noch eine Investitionsbaustelle.  

Eine andere: die Elektrisierung des Autos. Die Bundesregierung hat das Tempo angezogen. Bis 2030 sollen mindestens 15 Millionen Autos in Deutschland elektrisch fahren, eine Steigerung um 50 Prozent gegenüber dem Klimaschutzprogramm der alten Bundesregierung. Für sie muss die Ladeinfrastruktur ausgebaut werden. Zwar sieht Martin Stuber hier auch Energiewirtschaft und Autoindustrie in der Pflicht, ohne eine öffentliche Infrastruktur werde es aber nicht gehen. Doch der Antriebswechsel ist keine rein technische Frage. „Wir müssen die Transformation der Autoindustrie angehen. Uns geht es um gute Arbeitsplätze in der gesamten Mobilitätswirtschaft“, sagt Stuber. Ohne staatliche Förderung werde das kaum gelingen. Vor allem kleinere Zulieferer könnten unter die Räder kommen, dabei sind sie nicht selten für regionale Arbeitsmärkte sehr wichtig. 

„Zum Glück kam Corona zuerst" 

Auch hierfür steht der Märkische Kreis beispielhaft. Die Region ist nicht nur vom Verkehr abgeschnitten, sie steckt auch mitten in der Transformation. Hier sitzen viele Klein- und Mittelständler der metallverarbeitenden Industrie, nicht wenige liefern an die Autoindustrie. „In Plettenberg hängen fast alle Arbeitsplätze am Verbrenner",sagt Ferber. Die Betriebe in dem kleinen Ort nahe Lüdenscheid trifft die Sperrung gleich doppelt. Nach der Dauerbelastung durch den umgeleiteten Verkehr von der A45 ist eine Brücke im Lennetal so marode, dass sie ebenfalls gesperrt werden musste.  

Manuel Bunge ist Betriebsratsvorsitzender beim Autozulieferer Kostal in Lüdenscheid. Um den Kolleginnen und Kollegen das Leben zu erleichtern, hat der Arbeitgeber, Co-Working-Spaces im Norden und Süden angemietet. So bleibt ihnen die Fahrt nach Lüdenscheid erspart. „Wir hatten Glück, dass uns erst Corona und dann die Brücke getroffen hat“, sagt Manuel Bunge, „sonst wären wir in der Digitalisierung noch nicht so weit gewesen.“ Schwerer wiegt allerdings, dass Kostal die Produktion aus Lüdenscheid unter anderem nach Mazedonien verlagert. Diese Entscheidung fiel vor der Sperrung. „Aber die Brücke wird die Diskussion über Alternativen nicht einfacher machen“, sagt Bunge.  

In dieser Situation neue Strukturen in der Region aufzubauen, scheint eine Mammutaufgabe. Doch es bleibt keine Wahl, sagt Gewerkschaftssekretär Fabian Ferber: „Wir müssen noch in diesem Jahr ein Zukunftsbild entwerfen, wohin der Wandel führen soll.“ Es geht darum, neue Industrien anzusiedeln, Betriebe dabei zu unterstützen, sich zu verändern und gleichzeitig die noch laufenden Aufträge zu bedienen. „Für all das brauchen wir Investitionen – in die Infrastruktur, in Weiterbildung, in Transformation.“  

Das IMK hat den gesamten Bedarf an investiven staatlichen Ausgaben für die kommenden zehn Jahre berechnet, die auch die Kosten einer ökologischen und sozialen Transformation enthalten. Sie liegen zwischen 600 und 800 Milliarden Euro. Neben der Aufnahme zusätzlicher Kredite sieht der DGB auch Spielräume bei Steuer­einnahmen, etwa durch die Wiedereinführung einer Vermögenssteuer, des Solidaritätszuschlags für Investitionen in Ost und West sowie einer umfassenden Finanztransaktionssteuer. 

Investitionen in die Zukunft gibt es nicht umsonst. Aber nicht investieren kann auch teuer werden, wie das Beispiel Lüdenscheid zeigt. Immerhin einen Lichtblick gab es Anfang des Jahres für Stadt: Die Bahnverbindung Richtung Süden funktioniert wieder. 

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