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Magazin Mitbestimmung

: INTERVIEW 'Dramatische Defizite'

Ausgabe 12/2005

Werner Gleißner, Vorstandsvorsitzender der FutureValue Group AG, über die Prinzipien des wertorientierten Managements, falsch berechnete Kennzahlen und die Sucht nach immer höheren Renditen


Das Gespräch führten Kay Meiners und Christoph Mulitze.

Herr Gleißner, als Unternehmensberater sind Sie unter anderem für die Entwicklung von Kennzahlensystemen zuständig. Wenn wir als Unternehmer kämen, welche Dienste könnten Sie uns anbieten?
Wir sind auf die Strategieentwicklung spezialisiert. Außerdem kommen zu uns Mittelständler, die sich so aufstellen wollen, dass sie ein möglichst gutes Rating erzielen und möglichst günstige Kredite erhalten. Unser drittes Geschäftsfeld - in der RMCE RiskCon GmbH - ist das Risikomanagement, das versucht, unternehmerische Unwägbarkeiten in den Griff zu bekommen.

Ihre Kunden wollen nicht in erster Linie wissen, wo man sparen kann?
Sparen schadet fast nie. Aber es gibt Berater, die sich besser darauf verstehen, die letzten Prozentpunkte bei der Produktivität herauszukitzeln, als wir. Das ist nicht unsere Kompetenz. Wir denken lieber darüber nach, ob Sparen der wichtigste Ansatzpunkt ist oder ob es andere Wege gibt - zum Beispiel die Strategie.

Wie definieren Sie unternehmerischen Erfolg?
Ich bin überzeugter Verfechter eines wertorientierten Managements. Erfolg bedeutet, den Wert eines Unternehmens nachhaltig zu steigern - also zukunftsorientiert zu denken und Risiken mit einzukalkulieren.

In welchen Zeiträumen denken Sie?
Wenn man Werte erhalten will, muss man im Prinzip bis in alle Ewigkeit denken. In der Praxis heißt das: drei Jahre, fünf Jahre, zehn Jahre.
 
Wer gehört zu Ihren Kunden?
Weil wir auch an der Methodenentwicklung beteiligt sind, macht das Geschäft mit börsennotierten Großunternehmen wie Coca-Cola oder der Bayerischen Immobilien AG einen erheblichen Anteil unseres Umsatzes aus. Auch die Unternehmensberatung Ernst & Young und der Versicherungskonzern AXA arbeiten als Partner mit unseren Methoden.

Wie gehen Sie konkret vor, wenn Sie in ein Unternehmen gerufen werden?
Wir kommen als Interessenvertreter des Unternehmers - typischerweise reden wir also erst einmal mit der Unternehmensleitung. Als Zweites sehen wir uns die Daten an, in der Regel den Jahresabschluss. Als Drittes interessiert uns die Meinung der Mitarbeiter. Dadurch dass das, was sie über das Unternehmen wissen, auf den Tisch kommt, beeinflussen sie das weitere Vorgehen mit.

Die Mitarbeiter unterschätzen oft, welche Bedeutung dieser Input hat. Um ihn möglichst standardisiert erfassen zu können, arbeiten wir mit Fragebögen. Aus allen entwickeln wir dann Annahmen über die Stärken und Schwächen eines Unternehmens.

Wie geht es dann weiter?
Zunächst müssen wir die Sicht der Unternehmensleitung, die Daten und die Sicht der Mitarbeiter zusammenführen. Wir arbeiten so lange nicht an einer Strategie, bis wir einen Konsens über die Ausgangssituation erreicht haben. Zu Beginn klaffen die Perspektiven oft auseinander.

Sind Sie bei allen Beteiligten willkommen?
Wir stoßen nur selten auf Vorbehalte, wohl auch deshalb, weil wir uns nicht direkt mit der Optimierung von Arbeitsprozessen oder harten Sanierungen befassen, also den Dingen, die größere Sorgen auslösen. Bei unserer Arbeit hat das Risikomanagement das höchste emotionale Potenzial. Denn Risiken werden - obwohl das falsch ist - von den Betroffenen oft mit Fehlern oder Defiziten gleichgesetzt.

Kennzahlen spielen bei Ihrer Arbeit eine dominierende Rolle. Wie werten Sie die Daten aus?
Wir besitzen eine Benchmark-Datenbank, mit der wir relativ schnell Abweichungen und Unregelmäßigkeiten feststellen. Wenn wir zum Beispiel nachweisen, dass wichtige Kennzahlen deutlich schlechter ausfallen als in vergleichbaren Unternehmen oder dass Abteilungen nicht sauber zusammenarbeiten, lässt das keinen Chef kalt.

Worin liegt der Vorteil von Kennzahlen gegenüber anderen Methoden?
Es geht am Ende um das Unternehmensergebnis, also muss ich rechnen. Aber auch wenn wir die Meinung der Mitarbeiter erforschen, kann ich mit 10 000 Einzelmeinungen nichts anfangen. Ich muss diese Meinungen auf Zahlen kondensieren. Kennzahlen sind nichts anderes als abstrahiertes Wissen über ein Unternehmen.

Das Gleiche gilt für die Strategie. Es reicht nicht, zu sagen: "Ich will wachsen." Sie müssen sagen: "Ich will im nächsten Jahr um zehn Prozent im Umsatz wachsen." Kennzahlen formulieren Zielgrößen und ermöglichen es, diesen wiederum einzelne Maßnahmen und Verantwortlichkeiten zuzuordnen. In einem bestimmten Rhythmus wird überprüft, ob es Fortschritte gibt.

Gibt es Lücken bei der Quantifizierung?
Es gibt im Prinzip keine Lücken. Manchmal ist es nur sehr aufwändig, und man muss sich fragen, ob sich der Aufwand lohnt - etwa bei der Quantifizierung von Imagerisiken. Für einen Konzern wie Coca-Cola lohnt sich auch das, und wir haben es gemacht, indem wir Referenzfälle wie den Konflikt um die Bohrinsel Brent Spa angesehen haben. Am schwierigsten quantifizierbar sind technologische Aspekte - etwa neue Erfindungen.

Wie verlässlich sind die zentralen Controlling- und Bilanzkennzahlen, die in Unternehmen erhoben werden?
Überraschenderweise gibt es gerade bei den Großunternehmen dramatische Defizite. Kennzahlen werden falsch berechnet oder falsch interpretiert - zu Lasten der Aktionäre und der Mitarbeiter. Einige Systeme, die in den Großunternehmen verwendet werden, produzieren systematische Fehler, die dazu führen, dass Unternehmenswerte massiv zerstört werden.

Diese Aussage überrascht uns. Können Sie sie erklären?
Die Kennziffer EVA - Economic Value Added -, die vielerorts über Investitionen und Desinvestitionen entscheidet, kann dazu führen, dass Geschäftsfelder vorzeitig aufgelöst werden oder Investitionen unterbleiben, weil Mindestrenditeanforderungen nicht erfüllt werden. Diese Entscheidungen sind zu einem erheblichen Anteil falsch.

Was sind die Gründe dafür?
Der Kenntnisstand über das, was wertorientierte Managementsysteme ausmacht, ist oft erschreckend gering. Das gilt für die Vorstände, die Aufsichtsräte, die von den Vorständen abgespeckte Informationen vorgelegt bekommen, und auch für viele Berater. Wenn Managementsysteme zuweilen mit bestenfalls rudimentären Kenntnissen eingeführt werden, liegt das zu einem erheblichen Teil an unserer Profession.

Was genau wird falsch gemacht?
Es ist seit langem bekannt, dass man aus historischen Renditezahlen keine Kapitalkosten für die Zukunft berechnen kann. Trotzdem verwenden 90 Prozent der Unternehmen historische Kapitalmarktdaten. Keine zehn Prozent sind in der Lage, aus den tatsächlichen Risiken die richtigen Kapitalkosten abzuleiten.

Mit welchen Folgen?
Viele Unternehmen operieren mit völlig unrealistischen Renditeerwartungen von 12 oder 15 Prozent. Solche Renditen wurden an den Aktienmärkten zwar erzielt, aber das kann man nicht einfach fortschreiben, weil diese historischen Renditen auch aus dem gesunkenen Zinsniveau und damit einhergehend einem steigenden Bewertungsniveau von Aktien resultieren.

Realistisch wären vielleicht sieben oder acht Prozent. Und nun unterbleiben Investitionen, die für nicht rentabel genug gehalten werden. Damit werden große Wachstumspotenziale verschenkt. Das ist der größte Wertvernichter, den wir gegenwärtig in der deutschen Wirtschaft haben.

Wie ist es um die konkreten Unternehmensrisiken bestellt? Welche sind die häufigsten?
Beim Mittelstand spielen Personalrisiken eine große Rolle - es gibt dort meist ein oder zwei Schlüsselpersonen, die kaum ersetzbar sind und deren Ausfall zur Katastrophe führt. Es folgen Konjunkturrisiken und Abhängigkeiten von einzelnen Kunden oder Lieferanten. In größeren Unternehmen ist im Prinzip jeder ersetzbar, die Palette ist stärker diversifiziert.

Die größten Risiken sind nach wie vor Absatz- und Branchenrisiken, etwa wenn Trends verschlafen werden. Ein Unternehmen muss so aufgestellt sein, dass es irgendwo eine dominierende Rolle spielt - durch Wettbewerbsvorteile, die der Kunde wahrnehmen kann. Sonst kommt es irgendwann in den Kostenkampf hinein.

Es gibt also in der Praxis eine Menge Fehlentscheidungen?
Das ist mein Eindruck. Die Managementaufgaben haben heute eine Komplexität erreicht, der viele gängige Managementsysteme nicht mehr Herr werden - und intuitive Entscheidungen schon gar nicht. Die liegen in einer erschreckend hohen Anzahl daneben.

Jeder Anleger will eine überdurchschnittliche Rendite erwirtschaften. Legen Sie den Anlegern nahe, sich mit sieben Prozent statt mit 15 Prozent zufrieden zu geben?
Ich möchte nicht, dass die Unternehmen weniger Rendite haben. International gesehen ist die Rendite deutscher Unternehmen schlecht. Die fünf größten Ölkonzerne der Welt verdienen doppelt so viel wie alle DAX-Unternehmen zusammen. Selbst die deutsche Bank …

Die ein Renditeziel von 25 Prozent verfolgt …
… hat gemessen an der Bilanzsumme, keine wirklich gute Rendite. Die Frage ist nur, ob es geschickter ist, eine Million anzulegen und daraus 20 Prozent herauszuholen, oder ob ich zehn Millionen einsetze und dort zwölf Prozent heraushole. Wir setzen die Werttreiber falsch ein.

Wie macht man es denn richtig?
Durch mehr Wachstum und etwas weniger Rendite könnten wir wesentlich mehr Wert generieren. Konflikte im Aufsichtsrat, auch zwischen Kapitaleignern und Arbeitnehmervertretern, resultieren oft daher, dass mit allen Mitteln die Rentabilität gesteigert werden soll. Es gibt Fälle, wo das erforderlich ist, aber viel interessanter ist, dass es auch andere Potenziale der Wertsteigerung gibt, die wir nicht ausnutzen.

Die Zeitungen berichten doch täglich von handfesten Konflikten. Die Telekom hat angekündigt, 32 000 Stellen abzubauen. Beim Armaturenbauer Grohe haben Vertreter Ihrer Profession vorgeschlagen, die Produktion nach China und die Logistik nach Polen zu verlagern.
Unser Unternehmen unterstützt keine direkten Unternehmensansiedlungen in China. Aber es ist eine typische Handlungsoption der Unternehmenspolitik, Produktionsstätten zu verlagern, und bei der Strategieentwicklung diskutieren wir darüber.

Wir möchten den Unternehmern aber helfen, diese Entscheidungen fair zu treffen. Die Rendite ist in China besser, weil die Personalkosten erheblich niedriger sind. Aber diese Entscheidung relativiert sich manchmal, wenn ich wertorientiert nachdenke, also auch den Risikounterschied ins Kalkül ziehe.

Und wenn jemand trotz Risikoabwägung zu dem Schluss kommt, dass er in China besser klarkommt, bestärken Sie ihn?
Ja, dann gilt es, diese Strategie durchzusetzen - auch gegen die Interessen der Mitarbeiter. Was passiert denn, wenn wir Maßnahmen durchsetzen, die nicht im Interesse der Eigentümer sind? Sie werden ihr Geld abziehen, ob uns das gefällt oder nicht. Wenn das nicht möglich ist, etwa weil der Staat es verhindert, dann tun sie etwas, was an einem anderen Standort offensichtlich besser geht. Also wird jemand anderes es an diesem Standort tun, und sie gehen Pleite.

Aber in der Praxis geht es doch ständig um den Ausgleich der Interessen. Und es gibt Versuche, dem schon im Management gerecht zu werden - zum Beispiel den Stakeholder-Ansatz.
Die Interessen von fünf oder sechs verschiedenen Gruppen zusammenzubekommen ist bei der Strategieentwicklung sinnlos. Sie finden dann für jede Maßnahme einen Kritiker. Also entscheide ich mich für das wichtigste Ziel: die Wertsteigerung. Das ist ein klares, eindeutiges Ziel.

Stakeholder-Ansätze sind nur der Versuch, Klarheit und Präzision zu vermeiden. Der Shareholder-Ansatz ist wegen des übertriebenen Quartalsdenkens etwas in Verruf gekommen. Aber wenn er richtig interpretiert wird, ist er das überlegene Modell.

Waren es nicht Vertreter des Shareholder-Ansatzes, die auf solche kurzatmigen Quartalsberichte gedrängt haben?
Wir achten mehr auf Quartalsdaten, als es eigentlich angemessen ist. Aber wir dürfen Wertorientierung nicht mit Kapitalmarktorientierung verwechseln. Mir geht es darum, den fundamentalen Wert eines Unternehmens zu steigern. Kapitalmarktorientierung kann auch heißen, den Kurs innerhalb weniger Wochen nach oben zu treiben und dann zu verkaufen. Doch dabei verlieren immer auch Aktionäre - denn irgendjemand kauft dabei teuer und muss billiger wieder verkaufen.

Andere Interessengruppen als die Aktionäre kommen in Ihrem Modell nur als Informationsgeber oder als Wertschöpfer vor?
Der Ausgleich mit den Interessen der anderen Stakeholder, mit den Kunden, Lieferanten oder Mitarbeitern wird über Verträge geregelt. Ich kann es mir doch gar nicht erlauben, meine Mitarbeiter zu vergraulen, auch nicht angesichts der angespannten Situation am Arbeitsmarkt. Sie sind die Kompetenzträger. Ebenso wäre meine Bank wenig begeistert, wenn ich auf deren Interessen keine Rücksicht nähme.

Wie versuchen Sie, die Mitarbeiter einzubinden?
Bei der eigentlichen Strategiebildung werden die Mitarbeiter praktisch nicht einbezogen. Das ist eine Sache, die sich die Unternehmensleitung vorbehält. Aber die Umsetzung geht alle Mitarbeiter an. Wenn die nicht mitziehen, weil ich sie nicht überzeugt habe, habe ich ein gewichtiges Problem.

Wie lösen Sie es?
Zuerst einmal durch Transparenz. Jeder Mitarbeiter soll erkennen können, worin sein Beitrag bei der Umsetzung der Gesamtstrategie besteht. Wer versteht, warum er etwas tut, ist nach meiner Erfahrung engagierter als jemand, dem das nicht klar ist.

Welche Rolle spielt Geld als Anreiz?
Geld ist ein wichtiger Motivationsfaktor, aber nicht der einzige. Noch wichtiger ist oft die Art der Arbeit, die gestellte Aufgabe. Der Gemeinschaftssinn kommt da schon später. Man kann aber Prämien einsetzen, um die Interessen des Unternehmens und die der Mitarbeiter möglichst gleichzuschalten, indem sie den von ihnen verantworteten und gesteuerten Beitrag zum Unternehmenswert honorieren.

Haben Sie selbst Angst davor, dass jemand Ihren Job besser und billiger machen kann?
Wir glauben, dass wir uns auf bestimmten Feldern einen Vorsprung erarbeitet haben, den so leicht niemand einholen kann. Da sind wir fast Monopolanbieter. Bei standardisierten Aufgaben jedoch spüren wir durchaus Konkurrenz. Auf Grund der Qualifikation unserer Mitarbeiter sind wir nicht in der Lage, bestimmte Preise zu machen, und müssen uns dann aus bestimmten Beratungsfeldern auch zurückziehen.



Zur Person

Dr. Werner Gleißner, geboren 1966 in Rüsselsheim, ist Vorstandsvorsitzender der FutureValue Group AG und Geschäftsführer der RMCE RiskCon GmbH. Er hat Lehraufträge an verschiedenen Hochschulen. Gleißner ist außerdem Mitglied des Auswahlausschusses der Studienstiftung des Deutschen Volkes und hat zahlreiche Aufsätze und Bücher zur Unternehmensführung sowie zum Risikomanagement verfasst oder mit herausgegeben, unter anderem das Buch "Future Value" (2004) sowie ein Rating-Lexikon (2005). Er lebt in Leinfelden-Echterdingen in der Nähe von Stuttgart.

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