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Magazin Mitbestimmung

: INTERVIEW 'Das Ende der Demokratie'

Ausgabe 09/2010

Der Verwaltungswissenschaftler Lars Holtkamp über Nothaushalte und die Buchführungstricks der Kommnen.

Das Gespräch führten KAY MEINERS und INGO ZANDER./Foto: Jürgen Seidel

Herr Professor Holtkamp, viele Städte und Gemeinden sind überschuldet. Haben diese Kommunen unseriös gewirtschaftet, oder sind sie Opfer struktureller Probleme?
Etwa 30 Prozent der Schulden sind auf Missmanagement zurückzuführen, 70 Prozent auf strukturelle Probleme. Typisch ist der Fall, dass wegen steigender Arbeitslosigkeit oder neuer Bundesgesetze wie Hartz IV die Sozialausgaben steigen, die die Kommune erbringen muss. Problematische Sozialentwicklungen wie eine hohe Arbeitslosigkeit oder auffällige Jugendliche sorgen für hohe Kosten.

Wo ist die finanzielle Lage besonders schlimm?
In Nordrhein-Westfalen ist die Lage besonders heikel. Hier hat rund ein Drittel der Kommunen keinen genehmigten Haushalt mehr und steht unter Nothaushaltsrecht. Städte wie Hagen oder Oberhausen sind nach jedem Maßstab, den man anlegen kann, pleite. In Ostdeutschland geht es dagegen vielen Kommunen noch gut. Sie erhalten so extrem hohe Finanzhilfen, dass sie nicht auf Steuereinnahmen angewiesen sind.

Warum häufen sich Probleme in Nordrhein-Westfalen?
Generell sind Großstädte anfälliger als kleine Gemeinden. In einem Land wie Nordrhein-Westfalen sind außerdem die Sozialausgaben hoch - etwa im Vergleich zu Baden-Württemberg. Hinzu kommt, dass die Städte in Ballungsräumen miteinander um solvente Einwohner und Unternehmen konkurrieren. Jede Stadt will ein eigenes Theater, ein eigenes Orchester, ein eigenes Schwimmbad. Manchmal ist dieser Wettbewerb auch destruktiv.

Können Sie uns ein Beispiel nennen?
Die Wirtschaftsförderung ist so ein Beispiel. Es gibt im Ruhrgebiet zu viele Gewerbe- und Industriegebiete. Als der Kommunalverband Ruhr in den 90er Jahren ermitteln wollte, wie viele es sind, wollten die Kommunen keine Informationen herausgeben. Schließlich wurden mit Hubschraubern Luftbilder gemacht, um ein Kataster anzulegen. Die Kommunen verschulden sich weiter für neue Gewerbegebiete, die längst über den Bedarf hinausgehen und gönnen der Nachbarstadt keine Ansiedlung.

Wie geht das? Wir dachten, Kommunen dürfen überhaupt keine Schulden machen.
Es gibt die sogenannten Kassenkredite - eine Art Girokonto der Kommunen. Diese Kredite müssen eigentlich innerhalb eines Jahres zurückgezahlt werden - doch manche Kommunen sind seit Jahrzehnten in den roten Zahlen. Wenn der Haushalt von der kommunalen Aufsicht nicht mehr genehmigt wird, greift das Nothaushaltsrecht. Die Kommune kann nichts mehr investieren - aber sie kann kaum gezwungen werden, laufende Einrichtungen dichtzumachen. Einklagbare Leistungen sind sowieso tabu.

Wie bedrohlich ist ein Nothaushalt?
Das ist in Nordrhein-Westfalen fast schon der Regelfall. Manche Kommunen flüchten sich regelrecht in Nothaushalte - und entwickeln zugleich Gegenstrategien: Da werden vorher schnell noch Verträge mit Dritten - etwa Wohlfahrtsverbänden - abgeschlossen. Die Zahlungspflichten, die sich daraus ergeben, gelten dann nicht mehr als freiwillige Leistungen, die unter Nothaushalt gestrichen werden müssen. Oder es werden noch alle Angestellten der Kommune befördert. Außerdem kann man Investitionen vorziehen, bevor der Nothaushalt greift.

Haben Sie noch ein paar Tricks für uns auf Lager?
Nehmen Sie die Buchführung. Vor einiger Zeit wurde von der Kameralistik, also der alten Einnahmen- und Ausgabenrechnung, auf die doppelte Buchführung umgestellt, die auch Vermögenswerte berücksichtigt. Plötzlich hatten Bäume, Straßen und Plätze einen Wert, mit dem die laufenden Ausgaben verrechnet werden konnten. Für einige Jahre gab es so wieder solide Haushalte - auf dem Papier. Das ist Haushaltsschönung, sonst nichts.

Das klingt fast nach Sabotage - nach dem Motto: Sollen die anderen die Suppe auslöffeln.
In vielen nordrhein-westfälischen Kommunen herrscht mittlerweile eine resignative Grundstimmung. Sie gehen davon aus, dass sie den Schuldenberg auf absehbare Zeit nicht mehr aus eigener Kraft abtragen können. Man wurstelt sich so durch - und arrangiert sich mit dem Nothaushaltsrecht.

Wirklich zittern muss offenbar niemand.
In einigen Kommunen wusste die kommunale Aufsicht keinen anderen Rat mehr, als sogenannte Sparkommissare in die Städte zu entsenden. Sie sollen die Kommunen dabei beraten, einen Sparhaushalt aufzustellen. Dabei geht es um Städte, die es zu weit getrieben haben - wie Hagen. Die Kommune hat durch Spekulationen am Finanzmarkt 35 bis 40 Millionen Euro verloren. Doch niemand wurde bisher zur Verantwortung gezogen.

Werden Kommunen belohnt, die versuchen, die Haushalte zu konsolidieren?
Eher nein. Es gibt Kommunen, die sofort unter der starken Führung eines Bürgermeisters auf die Haushaltskrise ihrer Kommune reagierten. Auch wenn sie ihre Haushalte nicht wirklich konsolidieren konnten, müssen diese Kommunen heute mit deutlich kleineren Kassenkreditvolumen leben als Städte, die keinerlei Sparwillen zeigten.
 
Nehmen wir einmal alles Gesagte zusammen. Welche Folgen sehen Sie für die politische Kultur?
Damit deutet sich eigentlich schon das Ende der Demokratie an - jedenfalls auf der untersten Sprosse. Es ist den Bürgern kaum noch vermittelbar, dass der Rat und der Bürgermeister nicht mehr handlungsfähig sind. Die Kommunen, die ich untersucht habe, haben sowohl die Bürger und mehr oder weniger auch die kommunale Aufsicht jahrelang über ihre verheerende finanzielle Lage hinweggetäuscht, ja belogen. Bis zu dem Punkt, als nichts mehr ging.

Wie kann es so weit kommen? Sind die Kompetenzen zu vage geregelt?
Theoretisch ist alles klar: Der Rat verabschiedet den Haushaltsplan, den der Kämmerer vorher eingebracht hat, und die Verwaltung setzt den Plan um. In der Praxis erhebt der Verwaltungschef jedoch Einspruch, wenn er denkt, der Haushaltsplan verstoße gegen geltendes Haushaltsrecht. Und die Kommunalpolitiker revanchieren sich später für das Veto, indem sie dem Verwaltungschef das Leben schwer machen - gerade, wenn er ein anderes Parteibuch hat als die Mehrheit.

Sie vertreten die These, dass die Direktwahl des Bürgermeisters die Konflikte bei knapper Kassenlage noch verschärft. Warum?
In NRW-Kommunen treffen direkt gewählte Bürgermeister auf Verwaltungen und Stadträte, die stark parteigebunden sind. Das kann zu Dauerkonflikten führen - etwa dann, wenn der Bürgermeister einer bestimmten Partei im Amt bleibt, aber im Stadtrat eine andere Partei die Mehrheit stellt. Wenn der Rat den Haushalt konsolidieren will, der Bürgermeister aber nicht mitzieht, können sich beide Kräfte auf Jahre hin blockieren.

Mit welchen Folgen?
In einem Extremfall sind Bürgermeister, Rat und Kämmerer dann nicht einmal in der Lage, einen Haushaltsplan aufzustellen, geschweige denn einen Haushaltsplan zu verabschieden. Dann gibt es sehr emotionalisierte Situationen und Kompetenzgerangel ohne Ende. Auch der Bürgermeister kann einen vom Rat verabschiedeten Haushaltsplan rechtlich beanstanden. Er tut dies vielleicht, weil er glaubt, nur den Bürgern verantwortlich zu sein, die ihn direkt gewählt haben. Diese Spielchen kann man längere Zeit treiben.

Was ist der Unterschied gegenüber dem alten Recht?
Früher waren die Stadtdirektoren in den nordrhein-westfälischen Kommunen Chefs der Verwaltung - sie hatten mehr Hemmungen, Schulden zu machen. Heute haben wir es mit Bürgermeistern zu tun, die oft aus der ehrenamtlichen Kommunalpolitik kommen. Das ist demokratisch betrachtet auch in Ordnung. Oft ist es diesen Bürgermeistern aber wichtiger, dafür zu sorgen, dass die Vereine ihre Zuschüsse erhalten, als den Haushalt zu konsolidieren.

Das heißt, auch die eigenen Bürger können eine Kommune in die roten Zahlen treiben?
Sie verhalten sich oft eher wie Konsumenten und reagieren mit Unverständnis, wenn gespart wird. Es gab früher die Idee, dass mehr direkte Bürgerbeteiligung dazu führt, dass die Bürger angesichts der begrenzten finanziellen Mittel bereit sind, Sparmaßnahmen mitzutragen. Aber das hat sich nicht bestätigt. Wenn beispielsweise ein Schwimmbad geschlossen werden soll, bekommt es die Kommunalpolitik sehr schnell mit einer Bürgerinitiative zu tun, die sich für dessen Erhalt einsetzt.

Wie gehen die Bürgermeister damit um?
Sie wollen Bürgerproteste schon im Vorfeld mit aller Kraft vermeiden. Deshalb werden Haushaltseinsparungen erst einmal nach der Rasenmähermethode vorgenommen. Das heißt: Man tut allen ein bisschen weh, aber keinem zu sehr. Wenn das nicht reicht, geht es der Kultur an den Kragen. Hochkultur wird als sehr elitär empfunden.

Welche Rolle spielen Ihrer Erfahrung nach die Personalräte und die Gewerkschaften?
Sie gehören nicht zu den Kräften, die auf ausgeglichene Haushalte orientiert sind. Es ist aber nicht so, dass die Gewerkschaften ständig mehr Personal fordern - sie vertreten die Interessen des Personals, das gerade da ist. Die Gewerkschaft ver.di hat sich sehr geschickt verhalten, wenn es darum ging, Bürgerbegehren und Bürgerentscheide zu initiieren. In Nordrhein-Westfalen war diese Strategie außerordentlich erfolgreich. Bei den Bürgern sprach sich das herum: Man muss nur mit ver.di drohen, dann überlegen sich die Kommunalpolitiker dreimal, ob sie die Privatisierung kommunalen Eigentums einfädeln oder lieber die Finger davon lassen.

Müssen kommunale Beschäftigte akut mit Entlassungen rechnen?
In den alten Bundesländern ist das kein großes Thema - der Abbau läuft so, dass Stellen nicht wiederbesetzt werden. In den neuen Bundesländern sind Kündigungen einfacher - da ist über Sonderklauseln schon sehr stark abgebaut worden. Auch hier in Nordrhein-Westfalen gibt es Sorgen um den Arbeitsplatz - aber das sind doch andere Maßstäbe als in der Privatwirtschaft.

Die Gewerkschaften sprechen sich gegen Privatisierungen und Geschäfte wie das Cross-Border-Leasing aus. In welchem Maß hat das ins Kontor geschlagen?
Beim Cross-Border-Leasing, wo Anlagen an einen ausländischen Investor verkauft und dann zurückgemietet werden, lässt sich das noch nicht richtig abschätzen. Es geht am Ende allein um haftungsrechtliche Fragen. Aber wenn man eine Schule verkauft und dann über Leasingverträge weiter nutzt, ist das in der Regel auf lange Sicht teurer, als wenn die Kommune Eigentümer bleibt.

Warum unterschreibt man dann so etwas?
Immerhin waren solche Deals eine Option für die Kommunen, um kurzfristig an Geld zu kommen. Ich glaube, dass viele Kommunalpolitiker das mit gutem Gewissen gemacht haben. Um eine perspektivische Haushaltspolitik handelte es sich dabei natürlich nicht. Jetzt wissen viele Kommunen nicht, wie man aus diesen Verträgen herauskommt. Sie sind nicht öffentlich und oft über 1000 Seiten lang. Dazu sind sie in einem Englisch abgefasst, das kein Ratsmitglied versteht.

Und wie beurteilen Sie die Privatisierung kommunalen Eigentums?
Wenn eine Kommune öffentlichen Wohnraum verkauft, dann kann das sozialpolitisch vertretbar sein, denn in den meisten Regionen Deutschlands gibt es ein Überangebot an privatem Wohnraum. Viel schwieriger ist es da, wo die Kommune strategische Optionen vergibt. Die Privatisierung von Stadtwerken etwa sehe ich sehr skeptisch, weil man sich damit energiepolitischer Möglichkeiten beraubt. Mit der heute verfügbaren Technik könnten sich Stadtwerke von den großen Strombetreibern unabhängiger machen und eigene Akzente setzen. Das wäre echte Kommunalpolitik.

Für Prestige- und Großprojekte wie den Kölner U-Bahn-Bau ist Geld da. Wie passt das zum Bild der klammen Kommunen?
Bei Großprojekten werden in der Tat viele Ressourcen verschwendet. Sie werden in der Regel nicht von den Kommunen allein gestemmt, sondern vom Land und der EU mitfinanziert. Viele Städte, die bei der Kulturhauptstadt Ruhr dabei sind, stehen unter Nothaushalten. Und der Kölner U-Bahn-Bau wird wahrscheinlich zur Konsequenz haben, dass die Subventionen für den Busverkehr der umliegenden Gemeinden geringer ausfallen. In Bochum und Dortmund gibt es dafür schon Präzedenzfälle.

Warum ändert sich nichts, wenn alle doch wissen, dass man die Ressourcen intelligenter bewirtschaften muss?
Weil viele Landespolitiker immer noch glauben, sich am besten mit Großprojekten profilieren zu können. Ähnlich denken auch viele Bürgermeister - das sind die Spielmacher, die Großprojekte initiieren und auch gegen kommunale Widerstände durchsetzen. Wenn man mittelfristig denkt, sind viele dieser Projekte unsinnig. Aber mittelfristiges Denken ist fast schon Luxus.


ZUR PERSON

LARS HOLTKAMP, geboren 1969 in Recklinghausen, hält wenig von Verwaltungswissenschaftlern, die keine Kontakte zu Praktikern haben. Holtkamp ist seit 2010 Professor für Politik und Verwaltung an der Fernuniversität Hagen. Er hat von 1990 bis 1996 Sozialwissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum studiert und anschließend über kommunale Haushaltspolitik promoviert. Zuletzt erschien mit finanzieller Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung in der Reihe "Modernisierung des öffentlichen Sektors" beim Sigma-Verlag sein Buch "Kommunale Haushaltspolitik bei leeren Kassen. Bestandsaufnahme, Konsolidierungsstrategien, Handlungsoptionen".

 

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