zurück
Magazin Mitbestimmung

: Initiative ArbeiterKind.de

Ausgabe 07+08/2011

BEGABTENFÖRDERUNG Das Webportal ArbeiterKind.de ist ein Sozialunternehmen neuen Typs, geleitet wird es von einer ehemaligen Hans-Böckler-Stipendiatin. Was leistet die Initiative? Von Andreas Molitor

ANDREAS MOLITOR ist Journalist in Berlin/Foto: Michael Hughes

Der Tulpenstrauß in Katja Urbatschs Berliner Büro bietet ein Bild des Jammers. Das Wasserglas, das als Vase herhalten muss, ist leer bis auf den Grund, schlapp lassen die verdurstenden Blumen ihre Köpfe aufs Fensterbrett hängen. Katja Urbatsch greift sich das Glas mit den Tulpen und geht zur Toilette, Wasser nachfüllen. Wie soll man ein Auge für das Wohlergehen von Blumen haben in solch hektischen Zeiten? Die Initiatorin des Internet-Bildungsportals ArbeiterKind.de hat innerhalb von drei Jahren eine bemerkenswerte Metamorphose durchlaufen – von der unbekannten Doktorandin zur mehrfach ausgezeichneten Sozialunternehmerin und allseits gefragten Interviewpartnerin. Manchmal wirkt die 32-jährige ehemalige Stipendiatin der Hans-Böckler-Stiftung, die über nordamerikanische Literatur promoviert, als könne sie den Popularitätsschub noch gar nicht richtig begreifen.

ANDERE ERMUTIGEN ALS ZIEL_ Mit einer kleinen lokalen Initiative in Gießen fing alles an. Gegen Ende ihres Studiums verspürte Katja Urbatsch immer stärker das Bedürfnis, Menschen zu unterstützen, für die es alles andere als selbstverständlich ist, nach dem Abitur zu studieren. So war es schließlich auch bei ihr gewesen. „Ich bin die Erste aus meiner Familie, die studiert hat“, sagt sie. Genau solche Kinder aus „Nicht-Akademikerfamilien“ wollte sie ermutigen.

Ein Blick in die Statistik bestärkte sie. Von 100 Akademikerkindern in Deutschland studieren 83. Von 100 Kindern, deren Eltern keine Hochschule besucht haben, sind es dagegen nur 23. Urbatsch registrierte, wie viele Schüler aus einfachen Verhältnissen sich von den Risiken und Untiefen eines Studiums abschrecken lassen. Und in der Familie gibt es niemanden, der wichtige Fragen beantworten kann oder will: Was bringt mir ein Studium? An welche Uni soll ich gehen? Wie organisiere ich mir einen Studienplatz? Was ist BAföG, und wie bekomme ich das? Welche Stipendien gibt es?

„Eigentlich müsste man doch nur diese ganzen Informationen auf eine Internetseite stellen“ – die Idee nahm Gestalt an. Aber wie könnte man so eine Website nennen? Das gestelzt und defizitär klingende „Nicht-Akademikerkind“ schied von vornherein aus. „‚Arbeiterkind‘ war irgendwie am nächsten dran“, erinnert sich die Initiatorin. Mit ihrem Bruder und ihrem Freund bastelte sie monatelang am Konzept und an der Website. In einer Sonntagnacht im Mai 2008 ging ArbeiterKind.de online. Die Häutung vom lokalen Grassroots-Projekt zum bundesweit agierenden Sozialunternehmen verlief rasend schnell. Schon im ersten Jahr wurde das ArbeiterKind-Konzept mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Engagementpreis der Hans-Böckler-Stiftung, die mit Urbatsch kooperiert.

UNTERNEHMEN NEUEN TYPS_ „Wir aber wollen weiter wandern und suchen“, heißt es in Brechts Parabel „Der gute Mensch von Sezuan“, „damit das Gerede aufhört, dass es für die Guten auf unserer Erde nicht mehr zu leben ist.“ Unternehmensgründer wie Katja Urbatsch wollen beweisen, dass das sehr wohl möglich ist: gut zu sein und doch zu leben, womöglich sogar gut zu leben. Sie holen Hauptschüler aus der Bildungs-Wüstenei, arbeiten an der Umstellung der Energieversorgung Äthiopiens auf Solarenergie, richten einen Online-Shop für in Gefängnissen gefertigte Taschen ein, versuchen, langzeitarbeitslose Jugendliche durch Theaterprojekte zu aktivieren.

Die Armada derer, die ähnlich denken wie Katja Urbatsch, wird immer stattlicher. Befeuert vom Grusel angesichts der Auswüchse des Gier-Kapitalismus, ganz oben auf oder knapp hinter der Welle, die Friedensnobelpreisträger und Mikrokredit-Papst Mohammad Yunus vor sich herschiebt, haben sich die undogmatischen Weltverbesserer zu einer neuen Spezies von Entrepreneuren formiert. Das Mantra der Gewinnmaximierung werfen sie zugunsten einer sozialen Vision über Bord, verstehen sich ansonsten aber als ganz normale Unternehmer. Sie gehen mit einer bewunderswerten Mischung aus Pragmatismus und Chuzpe ans Werk, identifizieren ein Problem, finden eine Lösung, testen die Idee. Sie schreiben Businesspläne, sie jonglieren mit Excel-Tabellen, sie sind keine Verzichtspäpste, die sich bei dem Wort „Gewinn“ vor Ekel schütteln.

Für die einen ist das Unternehmen zur Lebensaufgabe geworden, die anderen würden es durchaus auch verkaufen – vorausgesetzt, ein guter Preis würde geboten. Die einen würden gern auch Großunternehmen als Partner akzeptieren, für die anderen wäre das Sozialunternehmertum damit am Ende. Die einen wollen sich spätestens in zwei, drei Jahren durch selbst erwirtschaftete Einnahmen tragen und ansonsten aufgeben, die andern haben kein Problem damit, auch langfristig mit Einnahmen aus Spenden und Stiftungen zu arbeiten.

Katja Urbatsch kann mit dem Etikett „Sozialunternehmerin“ gar nicht viel anfangen. „Ich habe mir über den ganzen Hype, der mittlerweile um Social Business gemacht wird, keine Gedanken gemacht“, sagt sie trocken. „Irgendwann hat mir jemand den Stempel aufgedrückt.“ Nun ist sie Sozialunternehmerin. Wenn es ArbeiterKind.de nützt – auch gut. ArbeiterKind.de, das ist zunächst einmal die Website, ein Online-Ratgeber mit vielen guten Argumenten für ein Studium und Infos zu BAföG, Stipendien, Auslandsaufenthalten, Praktika und wissenschaftlichem Arbeiten. Immer wieder geht das Team in Gymnasien und Gesamtschulen, um Oberstufenschüler zum Studium zu ermutigen. Nachdem ArbeiterKind.de einige Preise gewonnen und Fördermittel von Stiftungen erhalten hatte, konnte Katja Urbatsch jetzt endlich auch einige Mitarbeiter an Bord holen. Aktuell reicht das Geld für viereinhalb Stellen in Hessen, Nordrhein-Westfalen und Berlin.

In den vergangenen Jahren ist um das Online-Portal herum ein soziales Netzwerk gewachsen, in dem sich aktuell schon mehr als 2500 Menschen registriert haben. Die meisten sind ehrenamtliche ArbeiterKind-Mentoren – Studenten, Doktoranden oder Menschen, die schon mitten im Berufsleben stehen –, die vor Ort Schüler und Studienanfänger unterstützen, ihre Fragen rund ums Studium beantworten und sie zur Not an die Hand nehmen. Mit 70 lokalen Gruppen und vier Dutzend Stammtischen, an denen Mentoren und Schüler beisammensitzen, ist ArbeiterKind.de dem Stadium des reinen Internetportals längst entwachsen.

EFFIZIENTER MITTELEINSATZ_ Gäbe es einen Preis für Effizienz, wäre ArbeiterKind.de auf jeden Fall bei den Top-Favoriten. In den ersten zwei Jahren hat das Unternehmen mit einem Budget von nur 20.000 Euro gewirtschaftet – und damit, grob geschätzt, 5000 Schüler beraten und das bundesweite Mentoren-Netzwerk aufgebaut. „Mir geht es nicht darum, nur eine Handvoll Schüler auszuwählen, die dann die volle De-luxe-Betreuungspackung bekommen“, erklärt Katja Urbatsch. „Ich will mit wenig Geld möglichst viele Leute erreichen.“

Bei potenziellen Geldgebern stößt sie mit ihrem rustikalen Geschäftsmodell, das bislang völlig ohne die Kennzifferntools der klassischen Betriebswirtschaft auskommt, des Öfteren auf Unverständnis. „Die sagen dann: ‚So geht das aber nicht! Sie haben ja gar keine verlässlichen Zahlen.‘“ Die JP-Morgan-Stiftung fördert jetzt ein Projekt, mit dem die Wirkung der hessischen ArbeiterKind-Sparte genau gemessen werden soll. Bahnbrechende Erkenntnisse erwartet die Pionierunternehmerin sich davon nicht. „Ich bekomme so viel begeisterte Rückmeldung aus der Community“, berichtet Urbatsch, „von Leuten, die sich bedanken, weil sie mit unserer Unterstützung ein Stipendium bekommen haben oder sich ein Studium zutrauen, obwohl ihre Eltern dagegen sind. Mir braucht niemand zu beweisen, dass unser Konzept funktioniert. Ich weiß, dass es funktioniert.“

MEHR INFORMATIONEN

Die Internetseite www.arbeiterkind.de richtet sich an Schüler und Studierende, die als Erste in ihrer Familie einen Studienabschluss anstreben.

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrerm Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen