zurück
Gewerkschaftlerinnen beim Protest 2022 Magazin Mitbestimmung

Ukraine: In Abneigung vereint

Ausgabe 03/2022

Die Gewerkschaften sind untereinander verfeindet, haben aber zwei gemeinsame Gegner: die russischen Truppen und die Politik von Präsident Wolodymyr Selenskyj. Von Stefan Scholl

Nikolai Wolynko erklärt das Risiko eines Arbeitskampfes in den prorussischen Separatistengebieten im Donbass in einfachen, klaren Worten: „Wer es versucht, läuft Gefahr, auf dem Keller zu landen“, sagt der Vorsitzende der Unabhängigen Gewerkschaft der Grubenarbeiter der Ukraine (UPGU). „Auf dem Keller“, das sind jene Gefängnisse der Separatisten, in denen auch Folter droht. Dass die ukrainischen Gewerkschaften untereinander verfeindet sind, macht die Sache nicht einfacher. „2016 wurde in der Zeche Tscheljuskinzew in Donezk vier Tage gestreikt“, erzählt Wolynko. „Aber dann hat Pawel Paschkow, der Chef der staatlichen Gewerkschaft, unsere Aktivisten verpfiffen, sie landeten auf dem Keller, wurden dort bearbeitet, der Streik war erledigt.“ Jetzt befürchten Gewerkschafter in Kiew, Ähnliches könne sich in von Russland besetzten Gebieten auch anderswo abspielen.

Die Gewerkschaften in der Ukraine haben viele Feinde. Angefangen mit der Schattenwirtschaft: Mehr als 30 Prozent der ukrainischen Arbeitsverhältnisse stehen außerhalb der Legalität. Dazu kommt das Kartell der Oligarchen, die fast die gesamte Großindustrie kontrollieren, aber auch viele Beamte und Parlamentarier.

Vor allem aber sind die Gewerkschaften seit Jahrzehnten untereinander verfeindet. Den alten Berufsverbänden aus Sowjetzeiten stehen unabhängige Neugründungen in erbitterter Konkurrenz gegenüber. Die einen haben sich als „Föderation der Gewerkschaften der Ukraine“ (FPU) zusammengetan, die anderen in der  Konföderation der freien Gewerkschaften der Ukraine“ (KVPU). Die Mitgliederzahl der FPU ist seit 1998 von 17,7 Millionen auf angeblich noch 4,8 Millionen abgestürzt, aber selbst diese Zahl scheint hoch gegriffen. Die FPU gibt sich politisch neutral, sympathisiert aber traditionell mit der prorussischen „Oppositionsplattform für das Leben“.

Dagegen gilt die KVPU als westlich orientiert, ihr Vorsitzender Michail Wolynez sitzt seit 2002 für den liberalpatriotischen „Block Julia Timoschenko“ im ukrainischen Parlament. Sein Verband zählt weniger als 170 000 Mitglieder, die sind allerdings weit aktiver als die FPU-Klientel. Die KVPU finanziert sich aus Mitgliedsbeiträgen, die FPU aber hat die Immobilien, Erholungsheime und Hotels der Sowjetgewerkschaften geerbt, ebenso die Kontrolle über die staatliche Sozialversicherungskasse. Ein reicher Verband – nicht nur die KVPU wirft ihm Korruption vor.

Die Arbeitnehmerschaft selbst hält sich aus dem Konflikt zwischen den Gewerkschaften weitgehend heraus. Und es ist eine undankbare Aufgabe,etwa Kohlekumpel für Gewerkschaftsarbeit zu begeistern. „Du schlägst einem vor, Mitglied zu werden, aber er fragt dich: Und was hab ich davon? Ich antworte immer: Viel Kopfschmerzen, dafür die Möglichkeit, die eigenen Interessen gegen die Grubenleitung zu verteidigen“, erzählt Bergarbeitergewerkschafter Nikolai Wolynko. „Unsere Leute verstehen unter Gewerkschaft vor allem organisierten Urlaub am Meer und Neujahrsgeschenke für die Kinder.“ Eine Arbeitnehmervertretung, die aktive Mitarbeit verlangt, sei für viele noch immer undenkbar. „Die ehemaligen Sowjetgewerkschaften haben deshalb etwa dreimal so viel Mitglieder wie die Unabhängigen.“

Jetzt aber gibt es vor allem in der Ostukraine erbitterte Artilleriegefechte, ein Großteil der Industriebetriebe dort liegt schon in Trümmern. Auch angesichts des zu erwartenden Sturzes des Bruttoinlandsproduktes um 35 Prozent ist es nicht die Zeit, um über betriebliche Mitbestimmung zu streiten.

Kündigungen jederzeit möglich
Allerdings sind die russischen Truppen nicht der einzige gemeinsame Feind der konkurrierenden Gewerkschaften. Die Regierung des wirtschaftlich neoliberal ausgerichteten Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und seine Partei „Diener des Volkes“ sind unter ukrainischen Gewerkschaftern weit unpopulärer als bei westlichen Journalisten.

Nach ihrem Wahlsieg 2019 hatte Selenskyjs Mehrheitsfraktion im Parlament eine Neufassung des Arbeitsrechts eingebracht, gegen die sowohl FPU als auch KVPU protestierten. Die Novelle wurde 2021 trotzdem verabschiedet und im März, als schon russische Panzer durch die Ukraine rollten, durch weitere Neuerungen auf Kosten der Arbeitnehmer ergänzt, die allesamt in scharfem Widerspruch zu EU-Recht stehen. Im Ergebnis dürfen die Unternehmer Tarifverträge einseitig kündigen, die bisher notwendige Zustimmung des Betriebsrats zu jeder Entlassung wurde gestrichen. Auch Kündigungen wegen Abwesenheit, Krankheit oder Urlaub sind jetzt möglich. Gewerkschaften sollen zu bloßen Organen der „Bürgerkontrolle“ degradiert werden und die Einhaltung des Gesetzes überwachen. Der KVPU-Vorsitzende Michail Wolynez kommentierte die Verabschiedung des Gesetzes mit den Worten, dass es „den Arbeitgebern freie Hand lässt und die Rechte der Arbeitnehmer uuntergräbt“.

In zweiter Lesung liegt dem Parlament jetzt ein weiteres Gesetzesvorhaben vor, das Kündigungen schon erlaubt, wenn der Unternehmer „dem Arbeitnehmer die notwendigen Arbeitsbedingungen in Kriegszeiten nicht gewährleisten kann“ – eine sehr dehnbare Formulierung. Beschäftigte in kleinen und mittleren Unternehmen – das sind mehr als zwei Drittel der ukrainischen Arbeitnehmerschaft – sollen künftig nicht mehr unter das geltende Arbeitsrecht fallen, sondern individuelle Verträge mit ihrem Arbeitgeber abschließen. „,Diener des Volkes‘ neigte schon immer zu hastigen, unbedachten Entscheidungen“, sagt der Kiewer Publizist Dmitry Durnev. „Das könnte die Partei und Selenskyj politisch noch teuer zu stehen kommen.“

Auf tönernen Füßen

  • „Bei den großen politischen Entwicklungen der Ukraine in den letzten Jahren konnten die Gewerkschaften keine eindeutige Position beziehen.“
  • „Durch persönliche Verwicklungen in das politische Geschäft verlieren die Gewerkschaften an Glaubwürdigkeit und werden oft als Teil der korrupten politischen Eliten wahrgenommen.“
  • „Grundsätzlich sehen sich die Gewerkschaften in der Ukraine eher neoliberalen Tendenzen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik gegenüber, auch bedingt durch die Abhängigkeit von internationaler Hilfe. Hier müssen die Gewerkschaften zu einer konsolidierten Position kommen, wenn sie tatsächlich Einfluss auf die politischen Entscheidungsprozesse nehmen wollen."

 

(Zitate aus: Marcel Röthig/Kateryna Yarmolyuk-Kröck: Ukraine. Gewerkschaftsmonitor. FES Briefing. Friedrich-Ebert-Stiftung, April 2021)

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrerm Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen