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Magazin Mitbestimmung

Von ANNETTE JENSEN: Hier steht die Arbeitswelt auf dem Uni-Lehrplan

Ausgabe 01/2018

Wissen Schon zehn Hochschulen unterrichten angehende Akademiker darüber, was in einem Arbeitsvertrag stehen muss und welche Rolle Gewerkschaften spielen. Entwickelt wurde das Angebot mit wissenschaftlicher Begleitung durch eine ver.di-Arbeitsgruppe.

Von ANNETTE JENSEN

„Ich habe schon Arbeitsverträge unterschrieben. Aber worauf ich dabei achten muss, wusste ich bis vor kurzem nicht“, sagt die Politikstudentin Bianca Orels aus Tübingen. Im Wintersemester hat die 21-Jährige das Modul „Arbeitsbeziehungen in Deutschland – Kompetenzen für die Arbeitswelt“ belegt, weil sie wissen wollte, was es mit den Tarifen auf sich hat und welche Rechte Beschäftigte haben. Nach dem dreitägigen Blockseminar, sagt sie, sei sie deutlich besser vorbereitet auf das Berufsleben.

Ihr Kommilitone Dominik Noller hatte das Wahlpflichtmodul im Bereich Schlüsselqualifikationen vor allem aus terminlichen Gründen ausgesucht. „Es war erstaunlich gut“, lautet die Bilanz des Psychologiestudenten. Bis dahin hatte er sich nie über die Funktion von Betriebsräten und Gewerkschaften Gedanken gemacht, durch Rollenspiele sind ihm die Zusammenhänge jetzt klar geworden. Jetzt will er sich noch einmal in die Seminarunterlagen vertiefen und ein bisschen im Betriebsverfassungsgesetz stöbern.

Auch Rebecca Schwerdt, die an der Hochschule für Nachhaltige Entwicklung (HNE) in Eberswalde einen Masterstudiengang zu nachhaltigem Tourismusmanagement belegt hat, fand es spannend, sich erstmals mit dem deutschen Arbeitsrecht zu beschäftigen. „Davon hatte ich vorher im Bachelorstudium noch nie was gehört.“ Dass sie beispielsweise als Praktikantin Anspruch auf bezahlten Urlaub gehabt hätte, wurde ihr erst jetzt klar. „Für mich hätte die Unterrichtseinheit gerne noch ausführlicher sein können“, meint die 23-Jährige. In ihrem Studiengang sind lediglich Teile des Moduls in ein gesellschaftspolitisches Seminar integriert.

Bisher war die Arbeitswelt kein Thema

Die Vorbereitung des akademischen Nachwuchses auf die Arbeitswelt beschränkt sich bisher fast überall in Deutschland auf das Fachliche. Wie die Arbeitswelt verfasst ist, welche Rolle Tarifverträge spielen und welche Rechte Beschäftigte haben – Fehlanzeige. „Wir haben sehr viele Studienordnungen und Vorlesungsverzeichnisse durchforstet, ob und wie dort die Arbeitswelt thematisiert wird – und wurden weitgehend nicht fündig“, berichtet Renate Singvogel, bis vor kurzem bei ver.di für Hochschulpolitik zuständig.

Das Gleiche trifft auch auf BWL-Studiengänge zu, wie eine von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studie von Martin Allespach und Birgitta Dusse belegt. Die Autoren untersuchten das Angebot von 25 deutschen Hochschulen, darunter die zehn größten Universitäten. „Mitbestimmung und Betriebsräte sind ganz überwiegend ein blinder Fleck“, fasst Allespach das Ergebnis zusammen. Zwar würden Arbeitsbeziehungen in Kursen über Personalmanagement thematisiert. Doch typisch sei eine marktförmige Perspektive, in der kollektive Verhandlungen keine Rolle spielten.

Weil aber so gut wie alle Absolventen nach dem Examen einer Erwerbstätigkeit nachgehen wollen, sollten solche Kenntnisse zur Grundausstattung der akademischen Ausbildung gehören und zu einem Qualifikationsziel der Hochschulbildung werden – das war die Ausgangsüberlegung einer ver.di-Arbeitsgruppe. In einem zweijährigen Prozess konzipierte sie ein Modul, das sich ins fachliche und überfachliche Studienangebot integrieren lässt.

Thomas Haipeter, Professor am Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen, und die Politologin Kerstin Budde begleiteten das Projekt wissenschaftlich. Inzwischen haben Kurse an zehn Fachhochschulen und Universitäten in mehreren Bundesländern stattgefunden, die Aufnahme ins Studienangebot weiterer Hochschulen steht bevor. „Das didaktische Konzept ist für alle Fachrichtungen offen, kann aber auch auf bestimmte Studiengänge zugeschnitten werden“, berichtet Kerstin Budde.

Rollenspiele und Gerichtstermine

In Rollenspielen lernen die Teilnehmer die unterschiedlichen Perspektiven in Tarifverhandlungen verstehen. Auch Begegnungen mit Menschen aus der Praxis gehören zum Konzept. André Holtrup vom Institut für Arbeit und Wirtschaft an der Universität Bremen besucht mit seinen Studenten das Arbeitsgericht. Im vergangenen Wintersemester konnten sie gleich sieben Güteverhandlungen miterleben. „Wir hatten Glück: Die Richterin hat sich zwischendurch immer Zeit für uns genommen und Fragen beantwortet“, erzählt Holtrup.

Mit dem Modul können die Studenten mindestens drei der für einen Studienabschluss wichtigen ECTS-Punkte erwerben. Kalkuliert wird dafür mit 30 Stunden Präsenzunterricht sowie 60 Stunden Selbststudium. Das Konzept schlägt drei inhaltliche Blöcke vor: Grundlagen der Arbeitsbeziehungen, Grundlagen des Arbeitsrechts sowie einen Überblick über die gegenwärtigen Veränderungen der Arbeit in Deutschland.

Ziel der Initiatoren ist es, das Modul an möglichst vielen Hochschulen zu etablieren. „Damit das gelingt, bedarf es immer eines Promotors, der die Sache an seiner Hochschule vorantreibt und die entscheidenden Strukturen und Personen vor Ort kennt“, berichtet Hans-Jürgen Immerthal, der die Rolle des Kümmerers in der Jade-Hochschule am Standort Wilhelmshaven übernommen hat. Er hat das Modul über die Kooperationsstelle Oldenburg im Seminarbetrieb verankert, wo es gegenwärtig zum dritten Mal läuft.

„Vor allem der Kontakt mit der Praxis wird sehr geschätzt“, berichtet Hardo Schenke, der den Kurs gemeinsam mit einem Kollegen sowohl in Oldenburg als auch Aachen veranstaltet. Die beiden Dozenten laden nicht nur Arbeitsrechtsanwälte ins Seminar ein, sondern veranstalten auch Exkursionen zu Unternehmen. Dabei lernen die Teilnehmer nicht nur den Alltag eines Betriebsrats kennen, sondern sind dabei, wenn über die Einführung neuer Technik verhandelt wird.

Bei Premium Aerotec, einem Zulieferer der Flugzeugindustrie, standen sowohl Unternehmensleitung als auch Mitarbeitervertreter Rede und Antwort, was ihnen bei der Einführung neuer Technik jeweils wichtig ist. Die Firma beherrscht nicht nur moderne Kompositwerkstoffe, sondern ist auch in den metallischen 3D-Druck von Bauteilen eingestiegen.

Von solchen Einblicken in eine zeitgemäße Produktion und in Arbeitsbeziehungen können Studenten nur profitieren. „Viele Hochschulen räumen ein, dass Bedarf für die Inhalte des Moduls vorhanden ist“, berichtet Renate Singvogel. Allerdings gebe es häufig die Befürchtung, dass Prüfungsordnungen geändert werden müssten. Das ist jedoch keineswegs notwendig, schließlich ist das Modul sehr flexibel nutzbar. So lassen sich Teile davon in existierende Kurse wie im Tourismusstudiengang in Eberswalde integrieren.

Aufmacherfoto: HNE Eberswalde

 

WEITERE INFORMATIONEN

Auf der Internetplattform Kofa – Kompetenzen für die Arbeitswelt gibt es weitere Informationen zum Konzept des Moduls sowie Material zur Didaktik mit Studienphasen und Lernzielen. Evaluationsberichte, Unterrichtsmaterialien und Branchenanalysen stehen dort bereit. ver.di bietet außerdem jährlich einen Workshop für Dozenten an.

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