zurück
Magazin Mitbestimmung

: Gründlich schiefgegangen

Ausgabe 05/2010

STUDIENREFORM Die Umstellung auf Bachelor- und Masterabschlüsse in den Ingenieurwissenschaften hat große Unzufriedenheit ausgelöst. Ein gewerkschaftliches Gutachternetzwerk streitet für bessere Studienbedingungen und mehr Praxisnähe.

Von BARBARA UNDERBERG, Journalistin in Bochum/Foto: Jürgen Seidel

Robert Riesebieter hat Maschinenbau studiert und sein Diplom bereits in der Tasche. Weil der 25-Jährige promovieren will, hat er vor Kurzem mit dem Masterstudiengang Energieingenieurwesen an der RWTH Aachen begonnen. Der Studienplan dort ist dicht gedrängt, erzählt der Böckler-Stipendiat: "Bis Anfang Februar hatte ich Vorlesungen. Eine Woche später begann die Klausurphase, die bis Ende März lief. Dann ging es direkt weiter mit den Vorlesungen. Zeit für Praktika, Arbeit als Werkstudent oder auch nur einen Messebesuch war nicht drin."

Knapp 80 Prozent aller Studiengänge in Deutschland sind heute im Rahmen des sogenannten Bologna-Prozesses vom Diplomabschluss auf Bachelor und Master umgestellt, in den Ingenieurwissenschaften sogar 93 Prozent. Der damit verbundene hohe Leistungsdruck, die knappe Zeit und die pausenlosen Prüfungen gehörten zu den wesentlichen Gründen für die Studierendenproteste im letzten Jahr. Doch mit den Folgen der Studienreform sind nicht nur die Studierenden unzufrieden. Bernhard Kempen, Präsident des Deutschen Hochschulverbandes, der konservativen Interessenvertretung der Universitätsprofessoren, sagt, es sei "kein einziges Reformziel erreicht worden". Selbst die Kultusminister wollen das Bachelorstudium radikal reformieren, Stoff und Prüfungen begrenzen, Studienzeiten flexibilisieren. Und auch die Hochschulrektorenkonferenz sieht erheblichen Änderungsbedarf. Da ist offenbar gründlich was schiefgegangen.

MITBESTIMMUNG BEI DER AKKREDITIERUNG_ Was als "Bologna-Prozess" bekannt ist, begann 1999. Da unterzeichneten die europäischen Bildungsminister die sogenannte Bologna-Erklärung, in der als Ziel die Schaffung eines einheitlichen europäischen Hochschulraumes verkündet wird. In der nur wenige Seiten umfassenden Erklärung sind einige Maßnahmen dazu formuliert: Bis 2010 sollen europaweit vergleichbare Studienabschlüsse - eben Bachelor und Master - eingeführt werden. Und es soll zwei Hauptzyklen für das Studium geben, von denen der erste mindestens sechs Semester dauert und Voraussetzung für den zweiten ist. Mit entsprechenden Angeboten soll die Mobilität von Studierenden und Lehrenden zwischen Hochschulen, Ländern und Kulturen gefördert werden.

In Deutschland führt der Weg zu diesem einheitlichen Hochschulraum über die Kultusministerkonferenz der Länder (KMK), ein umfangreiches Genehmigungsverfahren für neue Studiengänge und die praktische Umsetzung der Studienreform an den Hochschulen. Die KMK setzt mit den "ländergemeinsamen Strukturvorgaben" die Rahmenbedingungen für die Studienreform. Auf dieser Grundlage legt der gesetzlich beauftragte Akkreditierungsrat die Kriterien fest, nach denen die von ihm zertifizierten Agenturen - überwiegend gemeinnützige Vereine - und Gutachter die Studiengänge prüfen und genehmigen. Die Hochschulen wiederum entwickeln die neuen Studiengänge und mit ihnen auch einen neuen Studienalltag. "Die Probleme, über die die Studierenden sich zu Recht beklagen, entstehen durch Defizite auf allen drei Ebenen", erklärt Bernd Kaßebaum, der beim IG-Metall-Vorstand für die Studienreform zuständig ist.

In die Akkreditierungsverfahren sind nämlich auch die Gewerkschaften als Vertreter der Berufspraxis eingebunden. Sie sind im Rat vertreten, stellen Gutachter, und IG BCE und IG Metall sind zudem Mitglied bei ASIIN e.V., einer Akkreditierungsagentur, die vor allem ingenieur- und naturwissenschaftliche Studiengänge prüft. Gerhard Lapke ist promovierter Chemiker und hat als Vertreter der IG BCE bislang um die 20 neue Studiengänge begutachtet. Er beschreibt die beiden Seiten der gewerkschaftlichen Beteiligung: "Es ist das erste Mal überhaupt, dass Gewerkschaften bei einer Studienreform mitreden. Insofern ist das ein echter Fortschritt. Unser Einfluss ist aber eher gering. Von mehreren Tausend akkreditierten Studiengängen haben wir höchstens 100 Gutachten mit erstellt." Das liegt daran, dass die Gewerkschaften nur ein Vorschlags- und kein Entsenderecht für die Gutachterteams haben. Auch sind die Gewerkschaften in den Gremien in der Minderheit, können also überstimmt werden. Für ihre Positionen müssen sie werben und durch Argumente überzeugen.

ALTE LEHRPLÄNE, GROSSES BEHARRUNGSVERMÖGEN_ Beinahe unüberschaubar viele Akteure und unterschiedliche Interessen machen die Studienreform zu einer äußerst komplexen Prozedur. Um ihren Einfluss zu stärken, haben IG BCE, IG Metall und ver.di gemeinsam mit der Hans-Böckler-Stiftung und der TU Berlin ein Gutachternetzwerk gegründet. Das Netzwerk besteht seit 2003 und hat etwa 80 Mitglieder. Betriebsräte und Vertrauensleute sind dabei, Stipendiaten und Vertrauensdozenten der Stiftung, Fachleute und Gewerkschafter. Das Gutachternetzwerk unterstützt und qualifiziert die gewerkschaftlichen Gutachter und bietet einen fachübergreifenden Austausch zwischen Gewerkschaften, Hochschullehrern und Studierenden.

Die Erfahrungen von Gerhard Lapke als Gutachter zeigen, welche Einflussmöglichkeiten die Gewerkschaften haben: "Gegen das Klausurenunwesen habe ich relativ erfolglos angekämpft, auch gegen eine Entrümpelung der Studiengänge wehren sich die Hochschulvertreter in den Gutachterteams meist vehement. Aber ich konnte zum Beispiel erfolgreich ein Minderheitenvotum gegen die Wiedereinführung einer verkappten Diplomprüfung einlegen. An einer anderen Hochschule wurde durch mein Bemühen der Wahlpflicht- und Wahlbereich ausgeweitet."

Irmgard Kucharzewski kümmert sich für die Hans-Böckler-Stiftung um das Gutachternetzwerk und stellt ernüchtert fest: "Die Ziele der Bologna-Erklärung sind in Ordnung. Es hapert an der Umsetzung. Zum Beispiel achtet der Akkreditierungsrat nicht auf Inhalte, sondern nur darauf, dass die neuen Studiengänge formal korrekt gestaltet sind. Ob sie so angelegt sind, dass die Studierenden damit gut klarkommen können, interessiert weniger. Wir sind heute von einer Vergleichbarkeit der Studiengänge und -abschlüsse weiter entfernt denn je."

Kucharzewski, Kaßebaum und Lapke arbeiten im Gutachternetzwerk eng zusammen. Geht es nach den Gewerkschaften, sollte das ingenieur- und naturwissenschaftliche Studium gesellschaftliche, soziale, ökologische und ökonomische Bezugspunkte aufweisen und stärker auf die berufliche Praxis ausgerichtet sein. Ein nach wie vor umstrittener Punkt ist die Anerkennung des Bachelor als erstem berufsqualifizierendem Abschluss. "Insbesondere die großen Technischen Universitäten betrachten den Bachelor als neue Zwischenprüfung", erzählt Bernd Kaßebaum. So sorgen sich die "TU9" um ihre Reputation und die Qualität der Studienabschlüsse. Im Verband TU9 haben sich die neun großen Technischen Universitäten zusammengeschlossen, die sich selbst als "Eliteuniversitäten" beschreiben. Unter anderem sind die RWTH Aachen, die TU München und die TU Berlin dabei. Sie plädieren für den Master als Regelabschluss und wollen den "Dipl.-Ing." als Marke wiederbeleben. Darüber kann Bernd Kaßebaum nur den Kopf schütteln: "Eine Umfrage des VDI, des Vereins Deutscher Ingenieure, in Unternehmen zeigt, dass Bachelor- und Master-Ingenieure ähnliche Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben wie ihre Kollegen mit Diplom."

HOHE ABBRUCHQUOTEN_ Es gibt in Deutschland zurzeit etwa 345.000 Studierende der Ingenieurwissenschaften. Die durchschnittliche Abbruchquote liegt bei einem Viertel, besonders hoch ist sie in Elektrotechnik und Maschinenbau mit rund 33 Prozent. Hinzu kommen noch die, die nicht selbst das Handtuch werfen, sondern "rausgeprüft" werden. Auf der anderen Seite beklagen Arbeitgeber- und Berufsverbände einen Mangel an Ingenieuren. Nach Angaben des VDI betrug die Ingenieurlücke, also die Differenz aus Fachkräftenachfrage und -angebot, Ende 2009 rund 26.000.

Die Technische Universität Hamburg-Harburg hat an den TU9 und an ihrer eigenen Hochschule untersucht, warum Studierende der Ingenieurwissenschaften das Studium abbrechen. Als Gründe gaben diese an, Praxisbezug und Erfolgserlebnisse hätten ihnen gefehlt, sie hätten den Anschluss verpasst, Betreuung und Lehrstoffvermittlung seien schlecht gewesen. Die Untersuchung kommt zu dem Schluss, dass 80 Prozent der Studienabbrecher grundsätzlich für ein Ingenieurstudium geeignet sind und mit Unterstützungsangeboten viel erreicht werden könnte. Irmgard Kucharzewski bestätigt: "Oft scheitern Studierende an mangelnden mathematisch-naturwissenschaftlichen Vorkenntnissen und Schwächen im wissenschaftlichen Arbeiten. Vielen fehlt es nicht an technischer Wissbegierde, sondern an einer guten Heranführung an diese Themen durch die Hochschule. Gerade Menschen, die nicht direkt nach dem Abitur an die Hochschule kommen, haben Anschlussprobleme. Dazu gibt es leider immer noch Professoren, die stolz auf hohe Durchfallquoten sind."

Die Stipendiaten der Hans-Böckler-Stiftung, die technische Fächer studieren, stehen ungewöhnlich gut da, nur ein Prozent von ihnen bricht das Studium ab. Kucharzewski führt das neben der hohen Motivation der Stipendiaten nicht zuletzt auf die intensive Beratung und Betreuung durch die Stiftung zurück. Trotzdem leiden auch die Stiftungs-Stipendiaten unter der schlechten Umsetzung der Studienreform. Robert Riesebieter ist genervt von der schlechten Organisation an der RWTH: "Ich muss parallel Vorlesungen besuchen, weil die Prüfungsvorbereitungen mit sehr großem Zeitaufwand verbunden sind. Entweder sollte was gestrichen oder das Studium um ein Semester verlängert werden. So, wie es zurzeit organisiert ist, geht es jedenfalls nicht."

STUDIENREFORM BLEIBT THEMA_ Neue Studiengänge werden nicht dauerhaft, sondern meist für fünf Jahre akkreditiert. Dann steht die Reakkreditierung an. Für Tausende von Studiengängen ist dies in den nächsten Jahren der Fall. Zurzeit werden im Akkreditierungsrat die Kriterien für die Reakkreditierung ausgehandelt. Die IG Metall hat dazu eine Liste mit acht Punkten für mehr Qualität im Studium vorgelegt. Bernd Kaßebaum sieht in der Reakkreditierung eine Chance: "Das ist ein riesiges Politikfeld. Wichtig ist vor allem, dass die Studiengänge studierbar und stärker berufsqualifizierend gestaltet werden."

Bei der Umstellung der Studiengänge vom Diplom auf Bachelor und Master wurden viele Kompromisse geschlossen, damit die Studienreform überhaupt in Gang kam. Die Qualität der Akkreditierungsverfahren und der neuen Studiengänge stand damals nicht im Vordergrund. "Die Hochschulen bekamen oft eine Akkreditierung quasi auf Vorschuss, zumal es noch keine Erfahrung mit den Folgen gab", sagt Kaßebaum. Das ist heute anders. Zu den Erfahrungen gehört, dass die Akkreditierungsagenturen relativ wenige Gutachter einsetzen, diese dafür aber sehr häufig.

Das hat laut Bernd Kaßebaum mit Routine und Vertrauen zu tun, da die Verfahren sehr kompliziert sind: "Aber es hat auch mit gegenseitigem Prüfen und Geprüftwerden zu tun. Wir fordern daher, dass bei der Reakkreditierung eines Studiengangs andere Gutachter herangezogen werden als beim ersten Mal." In den Gutachterteams sind die Hochschullehrer freilich immer in der Mehrheit, perspektivisch mahnt Bernd Kaßebaum eine paritätische Besetzung an.


GUTACHTERNETZWERK

Mitgestalten neuer Studiengänge

Nach außen stärkt das Gutachternetzwerk die gewerkschaftliche Position in der Studienreform und im Akkreditierungsprozess, es unterstützt die Gestaltung und Entwicklung neuer Studiengänge im Interesse der Studierenden und künftigen Beschäftigten. Auf der Agenda der nächsten Jahre steht insbesondere die Qualitätssicherung der Studiengänge. Nach innen qualifiziert und unterstützt das Gutachternetzwerk die Gutachter, organisiert den Erfahrungsaustausch zwischen Gewerkschaftern, Studierenden und Hochschullehrern und erarbeitet gemeinsame Positionen und Konzepte zur Reform der ingenieur- und naturwissenschaftlichen Studiengänge. Das Netzwerk ist eine Kooperation von IG Metall, IG BCE, ver.di und Hans-Böckler-Stiftung. Wer Interesse hat, als Gutachterin oder Gutachter bei der Studienreform mitzuwirken, ist eingeladen, Kontakt zum Gutachternetzwerk aufzunehmen - über http://www.gutachternetzwerk.de/

Nächstes Treffen: 16./17. September 2010 an der Hochschule Magdeburg zum Thema "Qualitätssicherung durch Akkreditierung - Realität und Anspruch"

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrerm Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen