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Magazin Mitbestimmung

: Grenzgänger der Arbeitswelt

Ausgabe 12/2006

Ein Zustand latenter Unsicherheit hat große Teile der Arbeitswelt erfasst. Nicht nur sozial schwache Milieus sind davon betroffen, sondern auch Personen, die sich lange sicher wähnten.



Von Berthold Vogel
Dr. Vogel ist Soziologe am Hamburger Institut für Sozialforschung und arbeitet zum Wandel von Wohlfahrtsstaat und Arbeitswelt.


Seit die Friedrich-Ebert-Stiftung mit ihrer Studie "Gesellschaft im Reformprozess" das neue Prekariat aus dem Schutzraum akademischer Zirkel entlassen hat, treibt die Suche nach den abgehängten Prekariern dem vertrauten Talkshow-Personal die Sorgenfalten auf die Stirn. Wo finden wir das Prekariat? An den Rändern oder inmitten unserer Arbeitsgesellschaft?

In den industriellen Kernbetrieben als Leiharbeitskräfte und Aushilfsjobber oder bei den Scheinselbstständigen und Ich-AGs? Unter Fachkräften oder Hilfsarbeitern? In den kreditbelasteten Einfamilienhäusern im Neubaugebiet oder in den Hochhaussiedlungen am Stadtrand? Unter Alleinerziehenden oder im Einverdienerhaushalt? Morgens in der S-Bahn oder am späten Vormittag im Billigmarkt?

Wie berechtigt das gelegentlich geäußerte Unbehagen an medial verwertbaren Schlagworten wie "Prekariat" sein mag, so spiegeln sich in der Wortschöpfung dennoch starke Veränderungen in der Wirklichkeit der Betriebe und des Arbeitsmarktes wider. Das Bemerkenswerte ist, dass diese Veränderungen in ihren Folgen unscharf bleiben und dass ein klar identifizierbarer Ort fehlt, dem man guten soziologischen Gewissens den Stempel der Prekarität aufdrücken könnte.

Während die Grenzen zwischen den sicheren und den unsicheren, den stabilen und den brüchigen Zonen der Arbeitswelt und des Arbeitsmarktes undeutlich bleiben, ist doch die Zahl der Grenzgänger unzweifelhaft gewachsen - von Leuten, die sich durch das unwegsame Gelände von Minijobs, Praktika, Leiharbeit, befristeten Tätigkeiten und Grundsicherung bewegen.

Was weiß man über sie und ihre Erfahrungen? Zunächst zeigt sich, dass sie längst nicht mehr nur aus der angelernten Arbeiterschaft stammen oder aus Teilen der Wirtschaft, die einfache Dienstleistungen angeboten werden. Dort, wo niedrige Löhne für einfache Tätigkeiten gezahlt werden, wo Schwarzarbeit und Gelegenheitsjobs zur Normalität gehören, dort, wo rechtliche Standards weniger Geltungskraft als anderen Orts besitzen, war dieser Sozialtypus schon immer zu Hause: bei den Hilfsarbeitern in der Industrie und im Handwerk, aber auch bei den zahlreichen schlecht bezahlten und rechtlich oft vogelfreien Frauenjobs im Reinigungs- und Gaststättengewerbe, im Supermarkt oder bei den Pflegediensten.

Seit einiger Zeit beginnt sich allerdings das Profil dieser Grenzgänger zu verändern. In den rechtlich deregulierten und materiell knappen Zonen des Arbeitsmarktes finden sich immer häufiger auch qualifizierte Facharbeiter und Fachangestellte.

Die Fragilität und Unsicherheit von Beschäftigung hält Einzug in die stabilen Kernbereiche der Arbeitsgesellschaft - Branchen, die man einst mit besten Karrierechancen und sozialer Sicherheit gleichsetzte: die Autoindustrie, den Maschinenbau, Banken und Versicherungen oder auch die öffentlichen Dienste.

Längst ist auch die Mittelschicht betroffen. Zunehmend sind auch qualifizierte Arbeitnehmer, Männer und in ihren Berufen und Betrieben ursprünglich fest verwurzelte Beschäftigte betroffen. Prekarität ist zwar nicht überall, aber sie gewinnt für einen Gutteil der auf Sicherheit und Vorwärtskommen orientierten Arbeitnehmerschaft an bedrohlicher Normalität. Die Lebensläufe der Grenzgänger folgen keinem einheitlichen Muster. Es lassen sich aber doch einige typische Formen finden.

Für die eine Gruppe, die dauerhaft Instabilen, ist die Vorläufigkeit und Widerrufbarkeit von Arbeitsverhältnissen schon ganz normal geworden. Klassische Karrierewege und der Erwerb von sozialem Status durch Erfolge am Arbeitsmarkt sind für sie kein Maßstab. Ihre Bemühungen zielen darauf, auf irgendeine Weise im Erwerbsleben zu verbleiben. Unter dieser sozialen Randlage am Arbeitsmarkt leiden sie nicht nur.

Viele von ihnen haben über lange Jahre bestimmte Fertigkeiten entwickelt, die ihnen ihre Rolle als stetige Grenzgänger erleichtern. Sie wissen sich im Umgang mit den Ämtern durchaus zu helfen. Über soziale Beziehungen erhalten sie Hinweise auf Jobs, und auch der Schwarzarbeitsmarkt ist für sie kein unbekanntes Terrain. Viele von ihnen sind echte Kämpfernaturen und entsprechen so gar nicht dem öffentlichen, gelegentlich auch von der Wissenschaft gepflegten Ressentiment einer fürsorglich vernachlässigten, passiven Unterschicht, die den harten Besen der Aktivierung spüren muss, um wieder auf die Beine zu kommen.

Wesentlich stärker als die dauerhaft Instabilen leidet die zweite Gruppe, die der allmählich Destabilisierten, an ihrer Situation. Denn sie haben etwas verloren - ihre betriebliche oder berufliche Stellung, ihr über eine stabile Erwerbslaufbahn definiertes Selbstwertgefühl und ihre materielle Sicherheit, die es ihnen erlaubt, auch als Konsumenten jeden Vergleich mit Nahestehenden auszuhalten. Periodische Arbeitslosigkeit, befristete Beschäftigung oder immer wiederkehrende Kurzzeitjobs und Leiharbeitseinsätze haben einen markanten beruflichen und sozialen Abstieg zur Folge. Diese Prekarier sehen sich als Deklassierte, obgleich sie noch längst nicht

am Arbeitsmarkt abgehängt sind. Doch der Abstand zwischen ihrer aktuellen Lage und ihren eigentlichen Wünschen ist sehr groß. Jeder Weg zum Amt, jeder gut gemeinte Hinweis aus dem Bekanntenkreis wird als Last, häufig gar als Demütigung empfunden. Ihre Furcht ist groß, dass sie der Abwärtsspirale nicht mehr entrinnen können.

Zur dritten Gruppe der Grenzgänger gehören die, die um Stabilität kämpfen, aber fürchten, dass sie niemals in eine berufliche Aufwärtsspirale kommen, die ihre Lage verbessern kann. Es sind die, die landläufig als "Generation Praktikum" bezeichnet werden - gut qualifizierte Absolventen des höheren Bildungswesens, denen der Einstieg in die Arbeitswelt nicht so recht gelingen mag. Wie Satelliten umkreisen sie die Kernbelegschaften der Betriebe, stets in der Hoffnung, dass irgendwann einmal der Ausstieg aus der Praktikantenrolle gelingt.

Sie sind Grenzgänger, an die von den Betrieben zwar häufig hohe Ansprüche gestellt werden, die aber selbst wenig Ansprüche anmelden können und obendrein schlecht bezahlt werden. Das Praktikum wird zum vorberuflichen Fegefeuer und die Angst, irgendwann zu alt zu sein und ganz aus dem Rennen genommen zu werden, wächst. Weit aussichtsloser ist freilich die Lage ihrer Generationsgenossen, die mit einem Hauptschulabschluss und ohne Ausbildungszertifikat an die Türen der Betriebe klopfen.

Diese Generation der an- oder ungelernten jungen Arbeitskräfte weiß um ihre geringen Arbeitsmarkt- und Aufstiegschancen. Sie ist auf prekäre und temporäre Beschäftigung angewiesen, um überhaupt einen Anschluss an die Arbeitswelt zu finden. Wer sich ihr zurechnet, geht im Grunde davon aus, auf die Rolle des prekären Grenzgängers festgelegt zu sein.

Die Folgen für die Gesellschaft und ihre Fähigkeit zur Integration bleiben nicht aus. Deutschland ist nicht mehr nur mit einer Arbeitsmarkt- oder Beschäftigungskrise konfrontiert, die durch den Einsatz geeigneter politischer Instrumentarien oder durch die Förderung ökonomischen Wachstums behebbar wäre. Dieser naive Ökonomismus, der glaubt, durch starres Festhalten an Wachstumsfantasien von gestern könne man heute die Gesellschaft von morgen gewinnen, ist eine tragische Selbsttäuschung der Politik und der sich als Wissenschaft gerierenden Politikberatung.

Die über Jahrzehnte gewachsene Verfestigung der Arbeitslosigkeit und die Diffusion prekärer Beschäftigungsverhältnisse in nahezu allen Branchen machen deutlich, dass die Politik auf der einen Seite normativ in ihren selbst geknoteten Fesseln der Wachstumsfixierung verstrickt ist, während sie auf der anderen Seite die produktions- und informationstechnologischen Veränderungen der Arbeitswelt nur noch halbherzig zu regulieren versucht.

Allzu häufig macht sich das politische Denken und Handeln heute zum resignativen Erfüllungsgehilfen eines neuen Geistes des Kapitalismus. Dessen Mantra besteht aus der ressentimentgeladenen Forderung nach Flexibilität, Mobilität, Lohnverzicht und der Auflösung arbeits- und sozialrechtlicher Standards. Mit der Neuausrichtung betrieblichen Handelns im Sinne eines neuen kapitalistischen Geistes verlieren die Unternehmen ihre soziale Funktion als integrative Institutionen mehr und mehr.

Der französische Sozialhistoriker Robert Castel hat in seinem Buch "Die Metamorphosen der sozialen Frage" gezeigt, dass die Unternehmen ausgerechnet in dem Moment an integrativer Kraft verlieren, in dem sie in den Apologien des Marktes als "Quelle nationalen Reichtums, Schule des Erfolgs, Modell für Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit" besungen werden. Das lässt sich am Beispiel Opel und Karstadt zeigen, aber auch bei Siemens und der Allianzversicherung. Interne Flexibilisierungsmaßnahmen und die Aufspaltung von Unternehmen in Zulieferernetzwerke machen für einen Gutteil ehemals stabiler Belegschaften rasch den Weg an die Ränder der Arbeitsgesellschaft frei.

Doch neue Personaleinsatzstrategien und neue Formen der unternehmerischen Organisation sind nur ein Teil der Geschichte vom neuen Prekariat. Der andere Teil ist die Neuausrichtung der Arbeitsmarktpolitik, die sich spätestens mit den so genannten Hartz-Gesetzen von der Leitlinie verabschiedet hat, den erreichten Qualifikations- und Sozialstatus derer zu schützen, die ihre alte Arbeit verloren haben und auf der Suche nach neuer sind. Arbeitsmarktpolitik ist keine Statussicherungspolitik mehr.

Diese grundlegende Neujustierung hat sowohl zur Ausbreitung rechtlich und materiell unsicherer Beschäftigungsformen als auch zur Neudefinition der Grenzen von Stabilität und Instabilität, von Sicherheit und Unsicherheit im Erwerbsleben beigetragen. Die rechtliche und materielle Umgestaltung der Leiharbeit ist hierfür ein Beispiel, aber auch die gezielte Förderung von Mini- und Midijobs oder die gesetzgeberische Animation zur Kleinselbstständigkeit.

Die Arbeitsmarktpolitik sieht sich mithin immer häufiger gezwungen, auf die Folgen der durch Arbeitsmarktpolitik verursachten Prekarität reagieren zu müssen. So beginnt sich um die Sozialfigur des Grenzgängers herum eine Arbeitsmarktpolitik zweiter Ordnung zu entwickeln.

Die Existenz der Grenzgänger hat schließlich noch eine universale gesellschaftliche Dimension. Es geht um nichts Geringeres als um die Frage nach künftigen Formen sozialer Kontrolle und sozialen Zusammenhalts. Bisweilen wird übersehen, dass die kontinuierliche Einbindung in Beschäftigung immer auch ein machtvolles Instrument sozialer Kontrolle und Kohäsion war.

Regelmäßige und stabile Erwerbsarbeit strukturiert die Lebenszeit, sie stiftet Sinn und stärkt den sozialen Zusammenhalt, ohne dass die dahinterstehenden Strukturen der Macht stets sichtbar sind. Die politische Leitlinie "Arbeit für alle" bedeutet immer auch die Formulierung eines arbeitsgesellschaftlichen Kontroll- und Integrationsanspruchs - gerade auch gegenüber dem jüngeren männlichen Teil der Bevölkerung.

Dessen Ausschluss vom Erwerbsleben nährt seit jeher den Verdacht von Unordnung, Verfall, Rebellion und Renitenz. Die Perspektive auf stabile Erwerbsarbeit sorgt dafür, dass die Jüngeren in ein betriebliches und soziales Gefüge eingegliedert werden. Doch genau dieser Prozess wird prekär.

Zerfällt also mit dem Aufkommen des Prekariats die letzte Instanz allumfassender sozialer Kontrolle? In seinem Aufsatz mit dem Titel "Die globale Klasse und neue Ungleichheit" schrieb Ralf Dahrendorf vor einiger Zeit: "Zuerst verloren die Kirchen ihre Kraft, dann die Familie, die Gemeinde, die Nation. Überall sind Gesellschaften den Weg von ständischen zu vertraglichen Bindungen gegangen."

Am Ende, so fährt er fort, sei der Arbeitsvertrag fast die einzige noch übrig gebliebene Methode, um dem Leben der Menschen Struktur zu geben: "In dem Maße, in dem das nicht mehr die Regel, ja für die meisten nicht mehr die Lebenserfahrung ist, entsteht eine gefährliche Leere." Wie versucht die Politik, diese "gefährliche Leere" aufzufüllen?

Die Zeichen der Zeit deuten zum einen auf autoritative Praktiken hin. Neue Formen materieller Abhängigkeit, sozialer Selektivität, rechtlicher Entsicherung und politischer Pression begleiten die Neujustierung der Arbeitsgesellschaft.

Die Verdrängung von Langzeitarbeitslosen aus beruflichen Förderprogrammen, die politische Forcierung der Leiharbeit und Gelegenheitsbeschäftigung oder die verschärften "Zumutbarkeitsregeln" für die Aufnahme neuer Beschäftigung sind hierfür Beispiele. Doch die neue Arbeitsmarktpolitik erschöpft sich keineswegs in autoritärer Repression. Vielmehr entwickelt sich in Wissenschaft, Gewerkschaften, Verbänden und Politik eine ebenso lebhafte wie produktive Diskussion um die politische Organisation von Übergangsarbeitsmärkten und Konzepten der so genannten Flexicurity - ein Kunstwort, das Flexibiliät und Sicherheit (security) vereint.

In diesen Debatten wird der Frage nachgegangen, welcher neuer Rechtsformen und inner- wie außerbetrieblicher Strategien es bedarf, um wechselhafte Beschäftigungssituationen und diskontinuierliche Erwerbsverläufe abzusichern. Einiges spricht daher dafür, dass die Quellen der sozialen und rechtlichen Gestaltung der Arbeitswelt künftig eher in deren Randlagen und nicht mehr in deren Zentrum entspringen - jenseits der Kernbelegschaften. Dort findet sich der Ansatzpunkt für neue soziale und rechtliche Kompromisse, die verhindern müssen, dass häufige Arbeitsplatzwechsel und brüchige Berufsverläufe immer noch ein Abstiegs- und Ausgrenzungsrisiko ersten Ranges sind.

Wenn die künftige Gestaltung der Arbeitswelt stärker von deren Rändern her erfolgt, dann geraten auch endlich andere regelungsbedürftige Branchen und deren Beschäftigte in den Blick: die meist weiblichen Arbeitskräfte im Einzelhandel, im Gesundheits- und Pflegesektor oder in den Weiterbildungseinrichtungen. Vielleicht kann die aktuelle Debatte um das Prekariat dazu beitragen, die Aufmerksamkeit für diese prekären Erwerbsbiografien und Tätigkeitsfelder zu erhöhen. Dann hätte die mediale Aufregung auch noch etwas Gutes.




 

Zum Weiterlesen
"Gesellschaft im Reformprozess"
Von der Studie, die die TNS Infratest Sozialforschung im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung verfasste, sind erst Vorergebnisse bekannt. Sie wird Ende 2006 veröffentlicht. Näheres unter www.fes.de

Robert Castel: Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit. Konstanz, UVK Universitätsverlag Konstanz 2000. 416 Seiten, 34,77 Euro

Ralf Dahrendorf: Die globale Klasse und die neue Ungleichheit.
In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. Heft 11, November 2000

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