zurück
Magazin Mitbestimmung

: Gnade vor Recht

Ausgabe 09/2010

ARBEITSRECHT Wer in der Diakonie arbeitet, findet sich in einer anderen Zeit wieder. Die 1,3 Millionen Beschäftigten dürfen nicht streiken, um ihre Forderungen durchzusetzen. Von Uta von Schrenk

UTA VON SCHRENK ist Journalistin in Berlin./Foto: Stephan Wallocha, epd

Wie war das noch mal mit Gott? Günther Barenhoff, Pastor und Sprecher des Vorstands der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe, muss da im Laufe seines Berufslebens etwas durcheinandergeraten sein: "Gott kann man nicht bestreiken", erklärte Barenhoff, nachdem das Arbeitsgericht Bielefeld Anfang März Streiks in Kirche und Diakonie für unzulässig erklärt hatte. Im Herbst zuvor hatte die Gewerkschaft ver.di eine Arbeitsniederlegung an der Diakonie Bielefeld organisiert. Gott - der Boss eines diakonischen Krankenhauses? Auch Hans-Peter Strenge, Präsident der nordelbischen Synode, meldete da theologische Zweifel bei Barenhoff an. Der Konflikt ist alt: ver.di und die christlichen Kirchen in Deutschland streiten seit fast zehn Jahren um die tariflichen Rechte von kirchlichen Angestellten. Während ver.di darauf besteht, dass auch für Beschäftigte von Diakonie und Kirche das "Grundrecht auf Streik" gilt, verweist der Verband der diakonischen Dienstgeber Deutschlands (VdDD) auf das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen, wonach sie ihre Arbeitsbedingungen nach eigenem Gusto regeln können - Streiks oder Aussperrungen, die Tarifauseinandersetzungen oft begleiten, sind dabei nicht vorgesehen.

LOHNVORTEILE FÜR DIE DIAKONIE_ Der Streit flammte wieder auf, als die diakonischen Arbeitgeber begannen, das Tarifniveau in ihren Einrichtungen abzusenken - auch mittels Leiharbeit und Outsorcing. Akut wurde die Auseinandersetzung mit der Tariferhöhung für die Angestellten im öffentlichen Dienst 2008. Plötzlich mussten die Beschäftigten in einem diakonischen Haus auf eine achtprozentige Tariferhöhung verzichten. So verdient eine Krankenschwester mit 17 Jahren Berufserfahrung in einer westdeutschen Einrichtung der Diakonie monatlich 340 Euro weniger als in einem privat oder öffentlich geführten Haus. Noch größer ist die Differenz in Ostdeutschland. Ein Beispiel: Eine Krankenpflegerin mit zehn Jahren Berufserfahrung verdient dort fast 480 Euro weniger im Monat als eine Kollegin, die nach dem Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes bezahlt wird. Nach harten Auseinandersetzungen kam es zu einem Schlichtungsverfahren, dessen Ergebnis viele Mitarbeitervertretungen jedoch empört ablehnten. "Warum sollen sich die Betreiber diakonischer Einrichtungen durch niedrige Löhne einen Wettbewerbsvorteil sichern dürfen?", fragt Gewerkschaftssekretär Niko Stumpfögger, bei ver.di für die Koordination der Aktivitäten bei der Diakonie zuständig.

Mittlerweile fordern bundesweit elf Arbeitsgemeinschaften der diakonischen Mitarbeitervertretungen, die 90 Prozent der Mitarbeiter der Diakonie vertreten, Tarifverhandlungen mit der Gewerkschaft aufzunehmen. Die Mehrzahl der Mitarbeitervertreter weigert sich aus Protest, ihre Delegierten für die sogenannte Arbeitsrechtliche Kommission (ARK) zu wählen, und blockiert somit das paritätisch besetzte Gremium der Kirche, in dem Tarife ausgehandelt und notfalls per Schlichterspruch durchgesetzt werden. Von einer "Funktions- und Legitimationskrise des Systems der Arbeitsrechtlichen Kommissionen" spricht deshalb der Politologe Hermann Lührs, der erst kürzlich eine grundlegende Studie über den Sonderweg der Kirchen im Arbeitsrecht veröffentlicht hat. Im vergangenen Jahr organisierten die ver.di-Vertrauensleute Streiks an verschiedenen diakonischen Einrichtungen quer durch die Republik. Die diakonischen Arbeitgeber reagierten unterschiedlich. Das Repertoire reichte von öffentlich bekundetem Verständnis in Bremen über versuchte einstweilige Verfügungen in Hamburg bis hin zur Klage, wie in Bielefeld und Hamburg, und zu Hausverboten für Gewerkschaftssekretäre wie in Schwäbisch-Hall.

Per Gerichtsbeschluss verboten sind Streiks derzeit in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen. Gestreikt wurde noch im Juni am Diakonieklinikum Hamburg, das zur Agaplesion gAG gehört, dem größten evangelischen Konzern mit rund 16 000 Beschäftigten. Das griechische Kunstwort Agaplesion bedeutet so viel wie: Liebe deinen Nächsten. Die gemeinnützige Aktiengesellschaft hat gegen die Streiks Klage am Hamburger Arbeitsgericht eingereicht. Die Landeskirche Nordelbien und das Diakonische Werk Hamburg jedoch sind - anders als in Bielefeld - nicht in das Verfahren eingestiegen. Der Hintergrund: Das Diakonische Werk der Hansestadt hat einen Tarifvertrag mit ver.di abgeschlossen, stellt seinen Mitgliedseinrichtungen jedoch frei, ob sie ihn anwenden. Der Protest der kirchlichen Beschäftigten kommt nicht von ungefähr - in den Mitarbeitervertretungen der diakonischen Krankenhäuser ist ver.di gut vertreten. Der Organisationsgrad liegt bei 40 bis 50 Prozent, in den großen Einrichtungen sind die meisten Mitarbeitervertreter zugleich ver.di-Mitglieder. Und doch droht ver.di die Vertretung der Interessen der Mitglieder in diakonischen und anderen kirchlichen Einrichtungen reichlich zahnlos zu geraten - ohne das weltliche Druckmittel einer Gewerkschaft, das Streikrecht. "Der Gesetzgeber hat eine arbeitsrechtliche Parallelwelt zugelassen", sagt Gewerkschafter Stumpfögger. "Zum Problem wurde das, als Wettbewerbsdruck im Sozial- und Gesundheitswesen eingeführt wurde."

STREIT UMS GRUNDGESETZ_ Das Grundgesetz garantiert den Religionsgemeinschaften in Deutschland ein Selbstbestimmungsrecht. "Jede Religionsgemeinschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Sie verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde", heißt es in Artikel 140. Auf diese Verfassungsnorm berufen sich die kirchlichen Arbeitgeber auch in dem Arbeitskonflikt mit ver.di. Artikel 140 garantiere ihnen einen sogenannten "Dritten Weg" im Arbeitsrecht. Dieser sei den anderen Tarifverfahren "zivilisatorisch sogar überlegen, weil er nicht auf Konfrontation, sondern auf Kooperation setzt", sagt Hartmut Spiesecke, Pressesprecher des konfliktfreudigen Verbandes der diakonischen Dienstgeber Deutschlands (VdDD). Das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer in der Kirche sei geprägt von der sogenannten Dienstgemeinschaft. "Sowohl Leitende als auch diejenigen, die direkt ihren Dienst in der Pflege und der sozialen Arbeit an Menschen tun, verstehen sich als Teil eines kirchlichen Auftrags", heißt es dazu im Geschäftsbericht 2009 der Diakonie. Streik oder Aussperrung - schlicht unmöglich.

Politologe Lührs dagegen sieht die Freiheit der Kirchen gerade durch den Artikel 140 begrenzt. "Er bildet einen Rahmen, in dem und nicht neben dem die Kirchen als Religionsgemeinschaften handeln können", sagt Lührs. Sie seien damit "gerade kein Staat im Staate, sondern stehen durch den verfassungsmäßigen Schutz ihrer Rechte unter einer demokratischen Verfassung". Dieser Rechtslogik folgt auch ver.di, wo man sich auf den Artikel 9 des Grundgesetzes, die Koalitionsfreiheit, beruft. "Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig", heißt es dort. ver.di leitet aus dieser Formulierung das Recht auf Streik ab.

Lührs sagt: "Es geht darum, ob Beschäftigte in Einrichtungen der Kirchen auch mit dem Mittel des Arbeitskampfes Tarifverträge mit bestimmten Arbeitgebern und Arbeitgeberverbänden in diesem Bereich anstreben und gestalten können oder nicht." Angesichts der zunehmenden Zahl prekärer und unsicherer Arbeitsverhältnisse bei der Diakonie und vergleichbar schlechterer Bezahlung auf der einen Seite und dem Herausbilden eines mächtigen Arbeitgeberverbandes mit dem Verband der diakonischen Dienstgeber Deutschlands auf der anderen Seite scheint die arbeitspolitische Konfliktlage eklatant. Ein pikantes Detail: Der VdDD ist selbst gar nicht Mitglied der Diakonie, dafür aber in der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände organisiert und dort sogar im Vorstand vertreten - bemerkenswert für einen nicht-weltlichen Arbeitgeber.

ZUGESTÄNDNISSE ALS GNADENAKT_ Ohne das Mittel des Streiks und ohne die Möglichkeit, Tarifverhandlungen mit Unterstützung einer Gewerkschaft führen zu können, bleiben "die Beschäftigten der Kirchen Arbeitnehmer zweiter Klasse", stellt ver.di-Mann Stumpfögger fest. Zudem hätten kirchliche Belegschaften kein Recht auf eine Arbeitnehmervertretung im Aufsichtsrat, keine Rechtsgrundlage für Konzernbetriebsräte, und das Urteil des Kirchengerichts sei nur moralisch bindend, jedoch nicht juristisch. Sämtliche Zugeständnisse an die Arbeitnehmer - letztlich ein Akt der Gnade. Stumpföggers Fazit: "Das kirchliche Arbeitsrecht hinkt der ökonomischen Wirklichkeit hinterher." Eine Folge dieses Sonderwegs ist das Lohngefälle innerhalb der kirchlichen Einrichtungen. Während die Diakonie Württemberg ihre Mitarbeiter nach dem Tarifniveau des öffentlichen Dienstes bezahlt, beharrt der Verband der diakonischen Dienstgeber Deutschlands für seine Mitglieder auf einem Gehalt unter Branchenniveau - zwischen 2004 und 2009 gab es dort keine Tariferhöhung. Erst auf Druck von ver.di gab es eine Erhöhung von über vier Prozent.

Um diesen Zustand zu beenden, hatte ver.di im Mai und im September 2009 bundesweit in verschiedenen Einrichtungen zum Streik aufgerufen - unter anderem im Evangelischen Krankenhaus Bielefeld, dessen Arbeitgeber prompt vor das örtliche Arbeitsgericht zog. ver.di hat gegen das kirchenfreundliche Urteil der Richterin umgehend Berufung eingelegt. Mit einem Termin vor der nächsten Instanz, dem Landesarbeitsgericht in Hamm, wird Ende des Jahres gerechnet. Und auch dieser Gerichtstermin wird wohl nicht der letzte in der Sache sein. Ellen Paschke, beim ver.di-Bundesvorstand für den Gesundheitsbereich und Kirchen zuständig, hat mehrfach betont, dass der Geltungsbereich des Streikrechts notfalls vor dem Bundesverfassungsgericht geklärt werden muss. Schließlich geht es um die Rechte von 1,3 Millionen Arbeitnehmern. Noch hat die Gewerkschaft keine Verfassungsbeschwerde erhoben - doch die Vorgänge in Bielefeld könnten der Anlass dazu sein, wenn sich die Sache nicht anders regeln lässt. Dann würde ver.di nach Lage der Dinge klagen.
Für die kirchlichen Arbeitgeber könnte das kein leichter Gang werden - denn es kann Jahre dauern, bis Recht gesprochen wird.

Da ist es nur konsequent, dass die Diakonie jetzt nach Alternativen sucht. Mitte Juni beschloss die Diakonische Konferenz, die Stellung der Arbeitnehmer in der ARK zu stärken. Die Mitarbeitervertreter sollen ein Jahresbudget von bis zu 100.000 Euro erhalten, um sich externes Know-how für ihre Beratung mit den Arbeitgebern einkaufen zu können. Zudem soll die Arbeitsrechtliche Kommission künftig eine rechtlich selbstständige Organisation im Diakonischen Werk werden. So weit zum Zuckerbrot. Mit der Peitsche werden dafür die unbotmäßigen Mitarbeitervertretungen, nämlich jene, die Tarifverhandlungen mit ver.di  fordern, aus der ARK ausgesperrt. Zudem beschlossen die Leitungsgremien der Diakonie, die Verfahrensordnung der zentralen Arbeitsrechtlichen Kommission so zu ändern, dass die Arbeitgebervertreter in der Kommission künftig auch ohne Anwesenheit von Arbeitnehmervertretern Beschlüsse fassen können. Eines zeigt diese Vorgehensweise deutlich: Der Dritte Weg ist derzeit offensichtlich auch aus Sicht der Kirche unpassierbar geworden.

SOZIALER SPRENGSTOFF_ ver.di wirft der Kirche vor, den Konflikt politisiert zu haben. "Die niedrigen Löhne sind sozialer Sprengstoff. Dass sich die Dinge zuspitzen, ist für mich nicht eine Frage des ‚Ob‘, sondern nur des ‚Wann und Wie‘", sagt der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske. "Die diakonischen Arbeitgeber irren, wenn sie glauben, das ließe sich mit einem Gerichtsverfahren erledigen." Das Konfliktpotenzial ist immens. Denn es geht nicht nur um die Frage, ob das Tarifniveau des öffentlichen Dienstes seine einstige Funktion als Orientierungsmarke im Bereich der kirchlichen Einrichtungen zurückerhält. "Wenn sich die diakonischen Arbeitgeber mit ihrer Strategie durchsetzen, dann entsteht ein Absenkungsdruck auf die Arbeitsbedingungen in der gesamten Branche", warnt Gewerkschafter Stumpfögger. Was bleibt, wenn mit den gewerkschaftlichen Waffen kein Stich zu holen ist, hat ver.di am Beispiel von Lidl gelernt: Es sind die bürgerlichen Rechte. Eine öffentliche Kampagne, flankiert von Demonstrationen und einer fleißigen Pressearbeit, können Arbeitgeber und Politiker heute kaum ignorieren. Ein schlechtes Image ist nicht gut fürs Geschäft, erst recht nicht für das mit der Nächstenliebe.

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrerm Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen