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Magazin Mitbestimmung

: Gestern Bremsklotz - morgen Motor für Beschäftigung?

Ausgabe 11/2006

Galoppierende Kosten lim Gesundheitssektor lassen Versorgungsengpässe befürchten. Zugleich mehren sich die Stimmen, die vorrechnen, der Gesundheitssektor werde zur Wachstumsindustrie.




Von Josef Hilbert
Dr. Hilbert ist Privatdozent an der Universität Duisburg-Essen und Direktor des Forschungsschwerpunkts Gesundheitswirtschaft und Lebensqualität am Institut Arbeit und Technik (IAT) in Gelsenkirchen.
hilbert@iatge.de



Bereits heute ist die Gesundheitswirtschaft die größte Wirtschaftsbranche in Deutschland. Dazu zählen nicht nur Ärzte, Krankenhäuser und Altenheime. Gesundheit ist auch ein gemeinsames Merkmal für eine Fülle von zuliefernden Branchen (etwa Medizintechnik) sowie benachbarten Wirtschaftsbereichen (etwa gesunde Ernährung oder Fitness und Wellness). Insgesamt arbeiten in der Gesundheitswirtschaft mittlerweile mehr als 4,5 Millionen Menschen. Zudem war die Gesundheitsbranche die heimliche Heldin des Strukturwandels in den letzten 20 Jahren; hier sind rund eine Million zusätzlicher Arbeitsplätze entstanden, mehr als in jeder anderen Branche.

Das Altern der Gesellschaft, der medizinisch-technische Fortschritt und der Wertewandel - sprich das wachsende Gesundheitsbewusstsein - lassen den Bedarf und die Nachfrage nach Angeboten zur Gesunderhaltung und Heilung in Zukunft erheblich steigen. Außerdem wird Deutschlands wirtschaftliche Zukunft stark von Erfolgen bei den Hochtechnologien abhängen, vor allem in der Molekularbiologie und der Nanotechnologie. Deren wichtigste Anwendungen liegen im Gesundheitsbereich. Der Ruf nach mehr Hightech wird somit das Interesse der Wirtschaft an einem leistungsstarken Gesundheitssektor wecken.

Nicht länger Mühlstein am Hals der Ökonomie

Verschiedene Studien zur Zukunft der Arbeit - etwa von der Prognos AG, von der TU Darmstadt (Fachgebiet Finanz- und Wirtschaftspolitik) oder auch vom Institut Arbeit und Technik (IAT) - rechnen damit, dass der Gesundheitssektor auch in Zukunft viele zusätzliche Arbeitsplätze bringen wird. Gelingt die Erneuerung des Gesundheitswesens, ist mit mehr als 800 000 zusätzlichen Arbeitsplätzen in dieser Branche zu rechnen; selbst wenn sie misslingt, wird es dennoch ein Beschäftigungsplus von über 360 000 Arbeitsplätzen geben.

Schon heute arbeiten mehrere Regionen Deutschlands daran, sich als Kompetenzregionen der Gesundheitswirtschaft zu profilieren. Diese Bemühungen zielen zum einen darauf, die gesundheitliche Lebensqualität der Bevölkerung zu verbessern, und wollen gleichzeitig Wachstum und Beschäftigung im Gesundheitscluster steigern. Bundesländer, die explizit auf Gesundheitswirtschaft setzen, sind etwa Bayern, Berlin, Hamburg, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Nordrhein-Westfalen (hier vor allem das Ruhrgebiet und Ostwestfalen-Lippe).

Die Logik hinter diesen Überlegungen zur Zukunft des Gesundheitswesens ist, dass sich ein Paradigmenwechsel abzeichnet: Bislang wurde Gesundheit als eine Solidaritätsverpflichtung der Gesellschaft begriffen, die zwar notwendig ist, die die Wirtschaft aber stark belastet. Zunehmend wird jetzt erkannt, dass Ausgaben für Gesundheit keineswegs eine Last sind, sondern gute Potenziale haben, Innovationsmotor und Jobmaschine Nummer eins zu werden. Gesundheit bleibt nicht mehr der Mühlstein am Hals unserer Ökonomie, sondern wird die wichtigste Zukunftsbranche und Triebkraft für viele andere Bereiche der Wirtschaft. Doch das Gelingen dieses Paradigmenwechsels ist an eine Fülle von Voraussetzungen gebunden.

Fortschritte bei Qualität und Effizienz

Seit Jahren setzt die Gesundheitspolitik darauf, die Qualität und Effizienz im Gesundheitswesen zu verbessern. Erste Erfolge sind ermutigend. Dabei kann es keineswegs nur darum gehen, weniger Geld auszugeben. Viel wichtiger ist, dass wirkungsstärker und intelligenter gearbeitet wird. Der Einsatz der modernen Kommunikationstechnologien beispielsweise bietet viele Chancen, Informationswege zu vereinfachen, Such- und Wegekosten zu reduzieren. Die verbesserte Zusammenarbeit zwischen dem ambulanten und dem stationären Bereich kann endlich zu einer ganzheitlichen Behandlung von Patienten führen und dennoch helfen, Geld zu sparen. Gleichwohl ist auch hier erst der Anfang gemacht.

Entscheidende Fortschritte könnten auch von einer Offensive in Sachen Arbeitsgestaltung kommen. Zwar leidet die Gesundheitswirtschaft überall in der Welt darunter, dass die Arbeitsbedingungen und die Arbeitsorganisation ungünstig sind, jedoch schneidet das deutsche Gesundheitswesen bei internationalen Vergleichen besonders schlecht ab. Für Verbesserungen wird zentral sein, dass Ärzte besser mit der Pflege zusammenarbeiten. Generell gilt des Weiteren, dass endlich beim Bürokratieabbau Fortschritte erzielt werden müssen.

Mehr innovative Angebote

Wenn nicht alles täuscht, bietet die medizinische, technische und gesundheitswissenschaftliche Forschung Hoffnung dafür, dass wir vor einer Welle von Neuerungen für die Gesunderhaltung und Heilung stehen. Damit die Möglichkeiten auch genutzt werden, müssen sie von der Praxis aufgegriffen, erprobt und breit eingesetzt werden. Ein Beispiel für eine solche Innovation ist etwa das Telehealthmonitoring, also die Fernüberwachung von Vitalparametern und die Fernbetreuung von Patienten mit Hilfe der modernen Informations- und Kommunikationstechnologie.

Pilotprojekte - etwa am Herz- und Diabeteszentrum NRW in Bad Oeynhausen - zeigen, dass erhebliche diagnostische und therapeutische Fortschritte erzielt werden können. Mit Hilfe eines kleinen, etwa handygroßen und tragbaren Geräts können EKGs vom Patienten selbst erstellt und per Telekommunikation an ein mit Fachleuten besetztes Kompetenzzentrum übertragen werden, das dann entweder beruhigende Verhaltenshinweise gibt, zum Aufsuchen eines Haus- oder Facharztes rät oder gegebenenfalls auch Soforthilfe einleitet.

Erste Studien zur Evaluation solcher Projekte und Angebote stimmen sehr optimistisch. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass es Innovationsbremsen gibt. Ein Problem ist vor allem, dass oft unklar ist, wie neue Leistungen finanziert werden können. Viel Sand ins Getriebe kommt auch dadurch, dass neue Angebote bei den bisherigen Anbietern auf Zurückhaltung stoßen, weil sie für sich Nachteile befürchten. Nur mit mehr Innovationsbiss und mit der breiten Bereitschaft, aus neuen Angeboten das Beste zu machen, wird es gelingen, Deutschland und seine Gesundheitsregionen zu einem weltweit führenden Innovationsstandort zu machen.

Bessere Arbeitsbedingungen

Gesundheit ist die Branche, in der der Begriff "Burn-out-Syndrom" entstanden ist. Dies hat seine Ursache darin, dass hier besonders herausfordernde Arbeitsbedingungen herrschen - schlechte Organisation, überkommene Hierarchien, Stress, Umgang mit Krankheit, Verzweiflung, Tod. Gleichzeitig liegt jedoch für den größten Teil der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Bezahlung unter dem durchschnittlichen Verdienst in Deutschland. Lange Jahre ist dieses Missverhältnis durch hohe Motivation bei den Beschäftigten aufgefangen worden; außerdem bot der allgemeine Arbeitsmarkt wenig Alternativen für unzufriedenes Personal.

In der letzten Zeit jedoch gibt es vermehrt Anzeichen dafür, dass die Gesundheitsbranche nicht umhin kommen wird, die Arbeitsbedingungen zu verbessern. In einigen Regionen besteht bereits ein Ärztemangel - nicht zuletzt weil ausgebildete Ärzte ins Ausland abwandern oder in anderen Berufsfeldern tätig werden - und die tarifpolitischen Auseinandersetzungen werden deutlich härter. Erfahrungen aus anderen Ländern lassen vermuten, dass sich in Zukunft auch in anderen Gesundheitsberufen - etwa in der Pflege - vergleichbare Probleme ergeben.

In Deutschland werden drohende Personalengpässe zwar noch dadurch überdeckt, dass Pflegekräfte aus Osteuropa hier aktiv werden und dass oft nur schlecht qualifiziertes Personal tätig wird. Auf längere Sicht wird dies aber nicht ausreichen, um der in ganz Europa wachsenden Nachfrage und den hohen Qualitäts- und Effizienzanforderungen in Deutschland gerecht zu werden. Von daher ist eine Zukunftsinitiative "Moderne Arbeit in Gesundheit und Pflege" in Deutschland mehr als überfällig.

Mehr Ressourcen

Die Finanzierung des Gesundheitswesens ist keineswegs der einzige wichtige Aspekt bei der Suche nach der Zukunft der Gesundheitswirtschaft. In der Öffentlichkeit stößt sie dennoch auf die größte Aufmerksamkeit. Sicherlich gibt es noch viele Möglichkeiten, effizienter und trotzdem besser zu arbeiten. Gleichwohl lassen die Alterung der Gesellschaft, der medizinische Fortschritt sowie das wachsende Gesundheitsbewusstsein in der Bevölkerung nur eine Prognose zu: Deutschland wird in Zukunft mehr Geld für die Gesundheit ausgeben!

Allerdings wird dies - so die Szenarien der meisten Beobachter - anders als heute geschehen. Es wird eine relativ anspruchsvolle Basisversorgung geben, die zumindest teilweise unabhängig von den Lohnkosten aufgebracht wird, sei es als Bürgerpauschale oder als Bürgerversicherung. Darüber hinaus wird es für die einzelnen Bürger zusätzliche Wahlmöglichkeiten geben, die dann teilweise tarifvertraglich abgesichert sein können oder auch gänzlich privat bezahlt werden.

Gesundheitspolitisch und sozialpolitisch wird entscheidend sein, dass die Basissicherung keine Billigsicherung wird und dass sie anspruchsvoll dynamisiert ist. Klug könnte es ferner sein, möglichst viele Betriebsvereinbarungen oder Branchentarifverträge rund um das Thema Zusatzversicherungen abzuschließen. Dann können diese so gestaltet werden, dass Arbeitgeber Vorteile haben, wenn sie bei der Gesundheitsprävention am Arbeitsplatz erfolgreich sind. Last but not least ist es unerlässlich, sozial schwache Mitbürger dann zu unterstützen, wenn sie sich eigenständig keine Zusatzsicherungen leisten können.

Solange die Gesundheit als Last der Wirtschaft gesehen wird, wird die Finanzierung immer mit kräftigem Gegenwind der Wirtschaft zu rechnen haben. Wenn die Gesundheitsbranche dem Rest der Ökonomie allerdings klar macht, dass sie die Zukunftsbranche Nummer eins ist und Auftrieb für Innovationen in vielen anderen Branchen bringt, kann aus dem Gegenwind eine frische Brise Rückenwind werden.

Mehr Kostenbewusstsein und mehr Qualität

Viele Politiker, Gewerkschafter, Vertreter von Kirchen und Wohlfahrtsverbänden befürchten, dass die Betrachtung des Gesundheitswesens als Wirtschaftsbranche den sozialen Auftrag der Gesundheitspolitik unterhöhlen wird und dass eine anspruchsvolle und ethisch vertretbare Gesundheitsversorgung durch ökonomisches Denken bedroht werden kann. Sicherlich ist das eine ernst zu nehmende Gefahr, und bereits heute ist erkennbar, dass eine ausschließlich und wahllos auf Kostendämpfung setzende Ökonomisierung zu wachsenden Versorgungsproblemen führt. Dies muss aber keineswegs die einzige ökonomische Perspektive sein. Im Gegenteil: Es zeichnet sich immer deutlicher ab, dass Gesundheit nicht eine Last, sondern der wichtigste Motor für die Ökonomie der Zukunft sein wird.

Natürlich braucht das Gesundheitswesen der Zukunft mehr Kostenbewusstsein und Qualität. Gleichwohl ist es durchaus machbar, soziale und ethische Ansprüche mit einem offensiven Innovations- und Wachstumskurs zu vereinbaren. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist, dass sich Ärztinnen und Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger und andere Gesundheitsprofis nicht nur als Status-quo-Verteidiger sehen, sondern auch als Modernisierer und Innovationstreiber auf sich aufmerksam machen. Mehr Innovationsbiss bei den Gesundheitsprofis nutzt nicht nur der Qualität und den Patienten, sondern es setzt auch Politiker unter Zugzwang, ihre verkrampfte Orientierung an einer zu kurz gedachten Kostendämpfung endlich zu überwinden.





Zum Weiterlesen
Michaela Evans/Josef Hilbert: Die Gestaltung von Arbeit und Qualifizierung: Schlüsselherausforderung und Achillesferse für die Zukunft der Gesundheitswirtschaft.

In: Johanne Pundt (Hrsg.): Professionalisierung im Gesundheitswesen: Positionen, Potenziale, Perspektiven; Handbuch Gesundheitswissenschaften. Bern, Huber-Verlag 2006

Heinz Lohmann/Ines Kehrein (Hrsg.): Innovationsfaktor Gesundheitswirtschaft:
Die Branche mit Zukunft. Wegscheid, Wikom-Verlag 2004

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