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Magazin Mitbestimmung

Tarifpolitik: Europäischer Lohnsenkungswettlauf

Ausgabe 09/2012

Durch die harten Interventionen, die die Troika aus EU-Kommission, EZB und IWF anordnet, werden Löhne gesenkt und Tarifvertragssysteme demontiert. Von Thorsten Schulten

In einem gemeinsamen Brief appellierten die griechischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände in diesem Frühjahr an den Ministerpräsidenten, den nationalen Mindestlohn nicht anzutasten, der zuvor in einem landesweiten Tarifvertrag vereinbart worden war. Ohne Erfolg. In einem unverhüllten Eingriff in die Tarifautonomie beschloss das griechische Parlament, das tarifvertraglich vereinbarte Mindestlohnniveau um 22 Prozent und für Jugendliche (unter 25 Jahren) sogar um 32 Prozent abzusenken. Die Forderung nach einer solch massiven Lohnkürzung kam dabei gar nicht aus Griechenland, sondern stammt von der Troika aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfonds (IWF). Die Troika sah hierin eine wichtige Voraussetzung zur Gesundung der griechischen Wirtschaft und nahm die Lohnkürzung kurzerhand in den Maßnahmenkatalog auf, der erfüllt sein musste, damit Griechenland erneut Kredite aus dem Europäischen Rettungsfonds erhalten konnte.

Die Entwicklung in Griechenland steht exemplarisch für den neuen europäischen Interventionismus in der Lohnpolitik. Brüssel formuliert für immer mehr Länder konkrete Vorgaben für die nationale Lohnentwicklung, die mit der Androhung ökonomischer Sanktionen verbunden werden. Am deutlichsten wird dies bei den Staaten, die wie Griechenland, Portugal und Irland derzeit Gelder aus dem Europäischen Rettungsfonds erhalten und sich im Gegenzug zu weitreichenden Reformmaßnahmen verpflichten müssen. In den sogenannten „Memoranden“ zwischen der Troika und den betroffenen Staaten finden sich überall detaillierte Regelungen zur Lohnpolitik. Neben der direkten Einflussnahme im Zuge der Troika-Programme versucht schließlich die EZB auch, den Ankauf von nationalen Staatsanleihen als politischen Hebel zur Durchsetzung bestimmter politischer Maßnahmen zu nutzen. Bekannt wurde dies insbesondere im Falle von Italien und Spanien, wo die EZB lautstark auf lohn- und tarifpolitische Veränderungen drängte.

Daneben entwickelt sich die Lohnpolitik derzeit zu einem neuen europäischen Politikfeld – mit gravierenden Folgen für die nationale Tarifautonomie. Obwohl es laut EU-Vertrag (Artikel 153, Abs. 5) im Bereich der Lohnpolitik eigentlich gar keine europäischen Regelungskompetenzen gibt, ist seit Ausbruch der Eurokrise 2009 die Lohnfrage ganz oben auf die europäische Agenda gerückt. Die rechtliche Grundlage hierfür bildet der im März 2011 verabschiedete Euro-Plus-Pakt. In diesem wird die Krise in Europa als eine Krise fehlender ökonomischer Wettbewerbsfähigkeit interpretiert, für deren Wiederherstellung in erster Linie die Lohnpolitik verantwortlich gemacht wird. Zur Umsetzung des Euro-Plus-Paktes hat sich mittlerweile mit dem sogenannten „Europäischen Semester“ ein neues europäisches Koordinierungsverfahren etabliert, in dem regelmäßig auch die Lohnentwicklungen in allen EU-Staaten überprüft und Empfehlungen für die nationale Lohnpolitik ausgesprochen werden. Liegt die Entwicklung der Lohnstückkosten in einzelnen Ländern über der von der EU gesetzten Höchstmarke von derzeit jährlich rund drei Prozent, können diese Länder perspektivisch mit ökonomischen Sanktionen belegt werden.

Angriffspunkte für den lohnpolitischen Interventionismus in Europa sind vor allem die Lohnentwicklung im öffentlichen Sektor und die Regulierung der gesetzlichen Mindestlöhne. Im Zuge der europaweit verordneten Austeritätspolitik war eine der ersten Maßnahmen, die Löhne im öffentlichen Sektor zu kürzen oder zumindest einzufrieren. Am stärksten betroffen war hierbei Griechenland, wo sich die verschiedenen Lohnkürzungen auf etwa 30 Prozent summieren. In Irland, Italien, Portugal und Spanien schwanken die Kürzungen zwischen fünf und zehn Prozent, wobei die Löhne anschließend auf dem gekürzten Niveau eingefroren wurden.
Dies ließ sich relativ einfach bewerkstelligen, da die Löhne im öffentlichen Sektor vielfach per Gesetz und nicht durch Tarifvertrag geregelt werden. Gleiches gilt auch für die Festlegung der nationalen Mindestlöhne. So wurde in Irland Anfang 2011 der gesetzliche Mindestlohn um einen Euro pro Stunde gekürzt, ein Minus von zwölf Prozent. Der Rücknahme dieser Kürzung stimmte die Troika erst zu, nachdem den Unternehmen entsprechende Kompensationen bei den Sozialversicherungsbeiträgen angeboten wurden. Im Falle Portugals wurde der gesetzliche Mindestlohn eingefroren, und die Troika hat sich de facto eine Art Vetorecht bei künftigen Erhöhungen zusichern lassen.

AUSHÖHLUNG DES FLÄCHENTARIFES

Auch die Lohnentwicklung in der Privatwirtschaft wird beeinflusst – vornehmlich durch den Umbau der nationalen Tarifvertragssysteme. Vonseiten der Troika werden weitreichende Forderungen nach einer Dezentralisierung der Tarifpolitik erhoben, da dezentrale Tarifvertragssysteme eine bessere „Anpassungsfähigkeit der Löhne nach unten“ gewährleisten, anders gesagt, eher in der Lage sind, Lohnkürzungen durchzusetzen.
Diese Forderungen treffen insbesondere die südeuropäischen Staaten, die traditionell über gut entwickelte Flächentarifvertragsstrukturen verfügen. Mittlerweile tragen die weitreichenden Veränderungen, die in Griechenland, Italien, Portugal und Spanien vollzogen wurden, das Potenzial eines grundlegenden tarifpolitischen Systemwechsels in sich. Zwar gibt es nach wie vor Flächentarifverträge, deren Reichweite und Funktionsfähigkeit wurde jedoch durch zahlreiche Gesetzesreformen unterminiert. Hierzu gehören die Einführung gesetzlicher Öffnungsklauseln für betriebliche Abweichungen, die teilweise Aufhebung des Günstigkeitsprinzips, die Möglichkeit von abweichenden betrieblichen Vereinbarungen durch nicht-gewerkschaftliche Arbeitnehmervertretungen sowie die Einschränkung von Allgemeinverbindlicherklärungen.

Mit der Eurokrise hat sich das lohnpolitische Entwicklungsmuster in Europa grundlegend verändert. Bis 2009 konnten alle EU-Staaten eine positive Reallohnentwicklung verzeichnen, die in Ländern wie Griechenland und Irland eher stärker, in Spanien, Portugal und Italien eher moderater ausgefallen war. Einzig in Deutschland mussten die Beschäftigten innerhalb der letzten Dekade deutliche Reallohnverluste hinnehmen. Seit 2010 hat sich das Bild hingegen nahezu umgekehrt. Nur noch wenige Länder können – zumeist leichte – Reallohnzuwächse verzeichnen, während in 18 von 27 EU-Staaten die Reallöhne zurückgegangen sind. Mit Abstand am stärksten ist der Rückgang mit minus 20 Prozent in Griechenland, gefolgt von Portugal mit minus zehn Prozent. Die Folgen des neuen lohnpolitischen Interventionismus der EU sind damit klar erkennbar. Sie führen direkt in eine lohnpolitische Absenkungsspirale und tragen somit dazu bei, die ökonomische Stagnation in Europa weiter zu verfestigen und die Lasten der Krise einseitig den Arbeitnehmern aufzubürden.

Text: Thorsten Schulten, Leiter des Referats Arbeits- und Tarifpolitik im WSI 

Mehr Informationen

Klaus Busch/Christoph Hermann/Karl Hinrichs/Thorsten Schulten: Eurokrise, Austeritätspolitik und das Europäische Sozialmodell. FES-Studie, Berlin 2012

Thorsten Schulten: Europäischer Tarifbericht des WSI 2011/2012. In: WSI-Mitteilungen 6/2012 

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