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Magazin Mitbestimmung

Integration: Es fehlt an Rechtssicherheit

Ausgabe 01/2016

Noch macht sich der sprunghafte Anstieg der Flüchtlingszahlen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt kaum bemerkbar. Selbst Förderprogramme haben noch keine Geförderten. Experten verweisen auf das zentrale Integrationshindernis: den ungeklärten Rechtsstatus. Von Gunnar Hinck

Es herrscht die Ruhe vor dem Sturm. Während sich die Zahl der in Deutschland lebenden Flüchtlinge allein aus den Krisen- und Kriegsgebieten im vergangenen Jahr fast verdoppelt hat, ist die Zahl derjenigen, die Arbeit haben, nur um knapp 20.000 angestiegen. Selbst bei den Syrern ist die Beschäftigtenzahl überschaubar. Nur rund 60.000 der 200.000 syrischen Flüchtlinge der vergangenen beiden Jahre sind als arbeitsuchend registriert – und dass, obwohl die Syrer praktisch automatisch einen gesicherten Aufenthaltsstatus bekommen. 

Das Zeitfenster nutzen Unternehmen, Arbeitnehmervertreter, Gewerkschaften und die Kammern, um sich auf die anstehenden gravierenden Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt vorzubereiten. Laut Befragungen der Bundesagentur für Arbeit haben zwar 20 Prozent der Flüchtlinge aus Krisengebieten mindestens die Fachhochschulreife. Ein fast gleich hoher Prozentsatz aber gibt an, gar keinen Schulabschluss zu besitzen – was auch an den gerade für Frauen desolaten Schulbedingungen in Ländern wie Syrien oder Irak liegt. Noch höher ist der Anteil derjenigen, die keine Berufsausbildung haben. Folglich ist es in der Arbeitsmarktforschung nahezu einhellige Meinung, dass es jetzt auf Sprachförderung, Betreuung und Qualifikation ankommt. Überlegungen, wonach für Flüchtlinge kurze „teilqualifizierende Berufsausbildungen“ massiv ausgebaut werden sollen, erteilt die DGB-Vize-Vorsitzende Elke Hannack eine Absage. „Wichtige soziale Standards sollen geschliffen werden, Flüchtlinge dürfen keine Auszubildenden zweiter Klasse werden“, sagt Elke Hannack zu einem Vorschlag des ifo-Instituts für Berufsökonomik.  

Arcelor Mittal geht voran

Ute Dreher in Eisenhüttenstadt hat schon einen Plan, wie sie Flüchtlinge qualifizieren will. Sie ist Geschäftsführerin des „Qualifizierungscentrums der Wirtschaft“ (QCW), einer 100-prozentigen Tochter des Stahlwerks ArcelorMittal. Bis vor kurzem war die strukturschwache Region an der polnischen Grenze kein Ort, an dem Flüchtlinge länger blieben. Denn in dem Stahlstandort liegt Brandenburgs zentrale Erstaufnahmeeinrichtung, von wo aus die Menschen im Bundesland verteilt werden. „Arbeitsdirektor Axel Krause fragte mich: Was machen wir zum Thema Flüchtlinge?“, erzählt Ute Dreher. So entstand das „Modellprojekt Integrationspfad – vom Flüchtling zum Facharbeiter“ als Ausbildungsvorbereitung in mehreren Stufen. Das anderthalbjährige Programm beginnt mit Sprachkursen, die Ute Dreher für extrem wichtig hält: „Die wenigsten bringen Deutsch-Kenntnisse mit.“ 

Danach werden „berufsorientierte Kompetenzen“ ermittelt, dem sich nochmal ein berufsspezifischer Sprachkurs und ein Praktikum anschließen. Geldgeber sind die Bundesagentur für Arbeit, ein EU-Fonds und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.  

Die erste Phase, ein Sprachkurs mit 40 Plätzen, hat gerade begonnen. Ein Problem ist die hohe Fluktuation: Sobald die Flüchtlinge ihren Aufenthalt frei wählen können, ziehen die ersten wieder aus der Region weg, berichtet xxxxxx. Ute Dreher sieht in dem Programm dennoch die Chance, Arbeitskräfte an das Mutterunternehmen zu binden. Fachkräftemangel ist für Ostbrandenburg keine Phrase. „Unsere Bewerberzahlen gehen Jahr für Jahr zurück. Noch können wir unsere 50 Ausbildungsplätze pro Jahr auffüllen“, sagt sie. Doch es fehlten der Region junge Leute mit Begeisterung für Industrieberufe, die „Mitte“, wie sie es nennt.  

Integrationsbarrieren sieht sie in den „kulturellen Unterschieden, die am Anfang die Zusammenarbeit erschweren. Die Zeichensprache zum Beispiel kann in einer anderen Kultur eine ganz andere Bedeutung als bei uns haben“, sagt Ute Dreher. Auf fachlicher Ebene fällt ihr auf, dass die Flüchtlinge mit sehr verschulter Bildung nach Deutschland kämen und wenig Praxiswissen mitbrächten. „Letztlich ist es eine intellektuelle Frage und eine Motivationssache, um später mit der dualen Ausbildung klarzukommen.“ 

Vorgeschaltete Förderprogramme

Auch der IG-Metall-Bezirk Berlin-Brandenburg-Sachsen ist bereits aktiv geworden. Er hat zusammen mit den Arbeitgebern den Tarifvertrag „Förderjahr“ für Flüchtlinge ausgeweitet. Das Programm dient als Vorschaltjahr vor der eigentlichen Ausbildung und ist für Jugendliche gedacht, die noch nicht die nötigen Kompetenzen für eine Ausbildung in der M+E-Industrie haben. Bislang sind in diesem Bezirk noch keine Flüchtlinge aufgenommen worden. 

In Sachsen hat die IG Metall zusammen mit dem Projektträger „Arbeit und Leben“ ein Modellprojekt namens „Schiene frei – Ankommen mit Perspektive“ entwickelt, das als Vorbereitung auf Praktika oder die eigentlichen Förderprogramme gedacht. „Damit soll herausgefunden werden, welche Kompetenzen die Flüchtlinge überhaupt mitbringen“, sagt Nele Heß vom IG-Metall-Bezirk. Gedacht ist das Programm auch für Personalverantwortliche, die mehr interkulturelle Kompetenzen durchaus brauchen können, zumal wenn es Konflikte mit der Stammbelegschaft gibt, sagt Nele Heß. Derzeit laufen erste Gespräche mit Unternehmen, die sich an dem Projekt beteiligen wollen. 

Unsichere rechtliche Situation

Ein gravierendes Problem sei „der oft ungeklärte Rechtsstatus. Das hemmt enorm die Bereitschaft, Flüchtlinge einzustellen. Fälle, bei denen Beschäftigte plötzlich ihren Ausweisungsbescheid bekommen, sprechen sich unter Arbeitgebern schnell herum“ berichtet die Gewerkschaftssekretärin. So wie die Geschichte der pakistanischen Flüchtlinge aus Radebeul (siehe das Porträt im Magazin 1+1-2016und online) 

Die gleichen Erfahrungen macht auch Karsten Berlin, der Vizepräsident und Vertreter der Arbeitnehmervertreter in der Handwerkskammer Berlin ist: „Ein Problem ist immer wieder der unsichere rechtliche Situation der Flüchtlinge.“ Karsten Berlin fordert als Handwerkskammer-Vertreter und Gewerkschafter, dass Auszubildende vor Abschiebung geschützt sind und auch darüber hinaus eine Bleibeperspektive haben. 

Die Handwerkskammer hat neben anderen Institutionen mit dem Berliner Senat das Programm „Arrivo“ auf den Weg gebracht. Inzwischen haben 75 junge Flüchtlinge ein Praktikum absolviert, von denen inzwischen 13 eine Ausbildung bei Handwerksbetrieben machen. Er sieht gerade im Handwerk die Gefahr “dass manche Unternehmen über die öffentlich geförderten Programme versuchen, kostengünstig an Personal zu kommen und das bei künftigen Tarifverhandlungen als Druckmittel einsetzen. „Um die alteingesessenen Bewerber, die sich seit Jahren vergeblich bemühen, müssen wir uns auch kümmern. Für diese wird zu wenig getan“, gibt Karsten Berlin zu Bedenken. Er denkt dabei insbesondere an Jugendliche mit Migrationshintergrund, die Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt haben. 

Wie die betrieblichen Maßnahmen zur Integration von Flüchtlingen laufen, das erkunden gerade Werner Schmidt und seine Mitarbeiterin Andrea Müller vom Tübinger Forschungsinstitut für Arbeit, Technik und Kultur. Bei dem von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Projekt, das gerade begonnen hat, fragen die Forscher auch nach betrieblichen und gesellschaftlichen Risiken: Fühlen sich die etablierten Beschäftigten benachteiligt? Könnten rechtspopulistische Strömungen in die Betriebe eindringen? Denn Unternehmen sind keine Inseln in der Gesellschaft, sagt Schmidt. Bei aller Skepsis: Gerade aufgrund der deutschen Mitbestimmung, die sich auch dadurch auszeichnet, dass Herkunft keine Rolle spielt, ist Werner Schmidt optimistisch, dass Integration gelingen kann. 

Noch keine Anfragen bei Anerkennung der Qualifikation 

Die Anerkennungen von Zeugnissen und Berufsnachweisen besorgen die Kammern, allein die Industrie- und Handelskammern sind für die Anerkennung von rund 350 Berufen zuständig. Die Verfahren dazu erledigt die gemeinsame Anlaufstelle IHK FOSA. „Die aktuelle Welle der Flüchtlinge ist bei der Antragstellung noch nicht angekommen“, sagt Kathrin Tews, die bei der IHK Berlin zu ausländischen Berufsabschlüssen arbeitet. Hat der Antragsteller die nötigen Dokumente, wird geprüft, ob sein Anschluss vollständig oder nur teilweise anerkannt wird. Wenn der Flüchtling keine Zeugnisse dabei hat – was angesichts der meist abenteuerlichen Fluchtwege häufig der Fall sein dürfte –, kann er oder sie die Kompetenzen durch Arbeitsproben oder Fachgespräche belegen. Der Ausbildungsweg muss aber glaubhaft darlegt werden: Die IHK prüft, ob eine Bildungseinrichtung zum genannten Zeitpunkt tatsächlich existierte und der Ausbildungsgang auch angeboten wurde. 

Doch bisher sind bei den Industrie- und Handelskammern bundesweit (seit der Einführung des Anerkennungsgesetzes 2012) nur 50 so genannte Qualifikationsanalysen gemacht worden. Kathrin Tews geht davon aus, dass die „Welle“ der aktuellen Flüchtlinge in diesem Jahr bei den Industrie- und Handelskammern ankommen wird. Auch hier wird der Rechtsstatus die entscheidende Rolle spielen: Für Flüchtlinge, die eine Ausbildung beginnen, fordert die Industrie- und Handelskammer Berlin einen sicheren Status während der Ausbildungszeit und darüber hinaus. „Der Bedarf auf dem Ausbildungsmarkt ist zweifellos da“, sagt Anerkennungsexpertin Kathrin Tews.

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