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Betriebsrätin Sabine Craemer-Böcker, BASF Magazin Mitbestimmung

Betriebsrätepreis: Einigung ohne Handicap

Ausgabe 06/2022

Eine neue Inklusionsvereinbarung bei BASF in Lemförde verbessert die Arbeitsbedingungen Schwerbehinderter. Von Andreas Schulte

Sabine Craemer-Böcker hat viele Register gezogen, um ihr Projekt zu einem erfolgreichen Ende zu führen. Einmal hat die heutige Betriebsratsvorsitzende bei BASF Polyurethanes in Lemförde bei einer Betriebsversammlung sogar ein Bild von Boxhandschuhen präsentiert. So verdeutlichte sie der Belegschaft, dass sie weiterhin mit dem Arbeitgeber streitet. Denn ihr Kampf für mehr Entlastung für Schwerbehinderte am Standort des Chemiekonzerns in Niedersachsen dauerte fast zwei Jahre. Seit Beginn des vergangenen Jahres hält sie dafür nun endlich ihre Trophäe in den Händen: eine weitreichende Inklusionsvereinbarung. 

Ein solches Papier soll die Eingliederung und Beschäftigungssituation schwerbehinderter Arbeitnehmer im Betrieb verbessern. Dazu enthält es Regelungen etwa zur Personalplanung, zur Arbeitsorganisation und zur Arbeitszeit. Eigentlich sind Arbeitgeber per Gesetz verpflichtet, hierzu Verhandlungen mit der Schwerbehindertenvertretung und dem Betriebsrat zu führen. Doch Inklusionsvereinbarungen sind rar. Das Management hat nur wenig Interesse, eine Ausarbeitung voranzutreiben: „Für den Arbeitgeber entstehen durch die Vereinbarungen Kosten, zudem muss er Ressourcen für Verhandlungen bereitstellen”, sagt Craemer-Böcker. 

Wenig überraschend also, dass auch bei BASF in Lemförde eine solche Einigung bislang nicht existierte. Im Jahr 2019 hat Craemer-Böcker erstmals vehement an die Tür der Personalleitung geklopft. „Ich habe gesagt, wir müssen über eine Inklusionsvereinbarung reden, aber da wollte zunächst niemand mit mir reden”, erzählt sie. Dabei arbeiten Schwerbehinderte hier auf allen Ebenen. „Von der Führungskraft bis zur Produktion”, sagt die Betriebsrätin. In Lemförde produzieren mehr als 1600 BASF-Mitarbeiter Kunststoffe unter anderem für die Autoindustrie.  63 von ihnen sind schwerbehindert oder Schwerbehinderten gleichgestellt.

Die Betriebsratsvorsitzende und Schwerbehindertenvertrauensperson ließ nicht locker und verwendete viel Zeit darauf, sich eine Argumentation zurechtzulegen und sich mit den Rechten für Schwerbehinderte auseinanderzusetzen. „Dabei hat mir meine Freistellung geholfen, ohne sie hätte mir die Zeit gefehlt.” Regelmäßig brachte sie das Thema der Inklusionsvereinbarung auf Betriebsversammlungen auf den Tisch. „Nur wenn es eindeutig Wichtigeres im Betrieb gibt, wie etwa Kurzarbeit, dann hält man sich mit untergeordneten Anliegen besser zurück. Sonst stößt man damit auf umso größeren Widerstand.”
 
Mit Geduld zum Erfolg

Die Taktik ging auf. Irgendwann setzte sich der Arbeitgeber mit ihr an den Tisch. „Am Ende habe ich bei den meisten Punkten sogar mehr rausgeholt als ich das insgeheim erwartet hatte”, sagt sie. Tatsächlich freuen sich Schwerbehinderte bei BASF in Lemförde seit Inkrafttreten der Vereinbarung am 1. Januar 2021 über ganz konkrete Verbesserungen. „Wir wollten dem Wunsch der betroffenen Kollegen nach zeitlicher Entlastung mit zunehmendem Alter nachkommen“, sagt die Betriebsratsvorsitzende. Dies ist gelungen. Denn jetzt werden Schwerbehinderten und Gleichgestellten schon mit 55 Jahren zweieinhalb Arbeitsstunden wöchentlich erlassen. Das ist zwei Jahre früher als im Tarifvertrag Chemie vorgesehen. Für Schichtarbeiter gilt diese Regelung nun ab 53 Jahren. Die Stunden werden gesammelt und als ganze Tage genommen, bis zu drei Tage am Stück sind möglich.

„Das verursacht natürlich Kosten für den Arbeitgeber”, räumt Craemer-Böcker ein. Dennoch ließ er sich überzeugen. Ihr Argument: der Fachkräftemangel. „Die neue Regelung dient auch dazu die Leute länger im Job zu halten”, sagt sie. 

Vergünstigungen konnte sie auch für Eltern von schwerbehinderten Kindern aushandeln. Sie bekommen nun für begleitende Arztbesuche bis zu sechs Tage pro Jahr frei. „Bezahlt”, wie Craemer-Böcker betont. „Man meint, hier bestünde kein Bedarf, aber wir haben am Standort 14 Fälle, in denen die neue Regelung greift.” Auch hier konnte sie den Arbeitgeber davon überzeugen, dass auch das Unternehmen einen Vorteil hat. „BASF schreibt sich groß die Vereinbarkeit von Beruf und Familie auf die Fahne. Jetzt können wir beweisen, dass wir dies auch leben und damit neue Mitarbeiter für unseren Standort begeistern.”

Schwerbehindertenquote steigt 

Seit 2014 ist Craemer-Böcker die Schwerbehindertenvertrauensperson am Standort. In den vergangenen Jahren sei das Verständnis im Umgang mit Schwerbehinderten im Unternehmen deutlich gestiegen. „Mittlerweile rufen mich einige Führungskräfte an, bevor sie im Betrieb Neuerungen einführen. Sie fragen mich, ob sie dabei die Belange von Schwerbehinderten ausreichend berücksichtigen.” Die Schwerbehindertenquote hat sich während ihrer Amtszeit von 2,1 Prozent auf vier Prozent fast verdoppelt. Das liegt auch daran, dass Kollegen, die ihre Behinderung im Unternehmen erleiden, besser integriert werden als früher. So habe ein Schlaganfallpatient nicht mehr seiner Tätigkeit in der Produktion nachgehen können. Für ihn wurde bald ein EDV-Job im Lager gefunden. „Wichtig ist nicht nur, dass die Menschen überhaupt wieder in den Betrieb kommen, sondern auch dass es schnell geht. Denn wer um seine Arbeit fürchtet, bekommt schnell Existenzängste”, sagt Craemer-Böcker. 

Für die neue Inklusionsvereinbarung hat sie viel Schulterklopfen erhalten. „Plötzlich rufen andere Unternehmen an, die wissen wollen, wie wir vorgegangen sind, und auch andere BASF-Gruppen sind interessiert.” Sie selbst freue sich, dass sie nun den Schwerbehinderten und gleichgestellten Kollegen bessere Arbeitsbedingungen verschaffen konnte, sagt sie. Auf die Nominierung zum Betriebsratspreis sei sie stolz. „Jetzt hoffen wir natürlich auch, dass wir gewinnen”, sagt sie. 

Weitere Informationen:

Auf unserer Übersichtseite Deutscher Betriebsrätetag

Der Deutsche Betriebsräte-Preis ist eine Initiative der Fachzeitschrift „Arbeitsrecht im Betrieb“ des Bund-Verlags. Die Hans-Böckler-Stiftung ist Kooperationspartnerin. Mit dem Preis werden seit 2009 alljährlich Praxis-Beispiele vorbildlicher Betriebsratsarbeit ausgezeichnet. In diesem Jahr wird der Preis am 10. November auf dem Deutschen Betriebsräte-Tag in Bonn verliehen. Von mehr als 60 Bewerbungen wurden 12 Projekte nominiert. 

www.deutscher-betriebsraete-preis.de

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