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Arbeitsmarkt: Einer trotzt der Krise

Ausgabe 06/2022

Kaum ein Restaurant oder Laden, wo man zurzeit nicht Personal sucht: Der Arbeitsmarkt zeigt sich von der Krise bislang unbeeindruckt. Von Fabienne Melzer

Die Inflation klettert seit Monaten steil nach oben, Bäcker schließen ihre Läden, weil sie den Strom nicht mehr bezahlen können, in der Industrie geht die Angst vor dem Blackout um und viele Menschen fürchten sich vor der nächsten Heizungsabrechnung. Gute Nachrichten sind zurzeit selten, doch es gibt sie. Denn einer trotzt der Krise: der Arbeitsmarkt.

Zwar läuft die deutsche Wirtschaft derzeit mau, doch gehen die meisten Prognosen davon aus, dass die Schwäche nicht lange anhalten wird. Unter dieser Voraussetzung rechnet Gerd Zika, Wissenschaftler am Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg, weiter mit wachsender Beschäftigung. Auch beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) blickt Arbeitsmarktexperte Martin Varga noch gelassen auf die Entwicklung: „Kurzfristig könnte sich die Lage zwar eintrüben, aber wir rechnen eher mit einer kleinen Delle in der Beschäftigung, nichts im Vergleich mit dem Einbruch während der Pandemie.“ Darauf deutet für ihn auch das Verhalten der Unternehmen hin, die sich gleichermaßen mit Einstellungen und Entlassungen zurückhalten. „Sie wissen, langfristig werden sie die Leute brauchen“, sagt Varga.

Für die Entwicklung der Beschäftigung bis 2030 hat das IAB zwei Szenarien verglichen: Das eine berücksichtigt die Auswirkungen des Krieges, das andere simuliert die Entwicklung in einem Europa in Frieden. Danach gehen der deutschen Wirtschaft bis 2030 durch den Krieg und die Energiekrise rund 260 Milliarden Euro an Wertschöpfung verloren, und es werden zwischen 2022 und 2028 150 000 Menschen weniger beschäftigt, als es ohne Krieg der Fall gewesen wäre. Nach den Prognosen des IAB werden vor allem in der Gastronomie und im Einzelhandel Arbeitsplätze wegfallen. In diesen Branchen herrscht derzeit allerdings Personalmangel, sodass der Rückgang der Beschäftigung die Lage wahrscheinlich eher entspannt.

Nach den Shutdowns suchen viele Betriebe in der Gastronomie und im Einzelhandel verzweifelt Personal. Kaum ein Laden, in dem nicht ein Schild hängt: „Personal gesucht.“ Wie viele Hände mittlerweile an den Flughäfen fehlen, spürten Reisende, die im Sommer stundenlang auf ihren Abflug warteten. Menschen mit IT-Berufen und in der Pflege sind schon lange gefragt, in Bildung und Erziehung wächst der Bedarf, und in den Bauberufen rechnet das IAB ebenfalls mit Engpässen. Der Krieg hat den Umbau zur regenerativen Energieerzeugung beschleunigt. Daher werde die Baubranche weiter Fachkräfte brauchen. Zwar werde der Umbau der Industrie auch Arbeitsplätze kosten, schwarz sieht Zika die Entwicklung deshalb aber nicht. „Auch die Industrie wird sich weiterentwickeln. Gerade in der Autoindustrie wird der Teufel an die Wand gemalt“, sagt der IAB-Experte. „Wir erwarten zwar einen Rückgang der Beschäftigung, aber die Branche wird weiter bedeutend bleiben.“ In den nächsten Jahren komme es vor allem darauf an, die Menschen für die neuen Arbeitsplätze fit zu machen.

Missverhältnis auf dem Arbeitsmarkt

Das sieht auch der DGB und fordert verschiedene Instrumente. Um Beschäftigten eine Weiterbildung oder Qualifizierung zu erleichtern, müsse es beispielsweise eine Bildungsteilzeit geben. Kurzarbeit kann eine Brücke in neue Tätigkeiten bauen, und bei Arbeitslosigkeit sollten Weiterbildung und der Erhalt von Fähigkeiten wichtiger sein als die schnelle Vermittlung in irgendeinen Job.

Denn auf dem Arbeitsmarkt gibt es ein Missverhältnis zwischen Stellenangeboten und Arbeitssuchenden. „Viele Menschen finden trotz der großen Nachfrage keinen Arbeits- oder Ausbildungsplatz“, sagt DGB-Experte Varga. Ein Mittel gegen den Fachkräftemangel sei daher, diese Menschen auf ihrem Weg in den Arbeitsmarkt zu unterstützen. Neben der Weiterbildung müsse dafür auch die Ausbildung ausgebaut werden durch eine umlagefinanzierte Ausbildungsgarantie. Viele Ausbildungsange­bote müssten sich zudem qualitativ verbessern: durch bessere Bezahlung, attraktive Bedingungen und moderne Inhalte.

Mangel hausgemacht

In einigen Branchen ist der Mangel auch hausgemacht. „Handwerk und Pflege beispielsweise bieten meist viel Arbeit für wenig Geld“, sagt Varga. „In einigen betroffenen Branchen sind nur wenige Arbeitgeber an einen Tarifvertrag gebunden.“ Kein Wunder, dass sich die Menschen lieber woanders umschauen. Mehr Tarifbindung könnte die Arbeitsbedingungen verbessern und die Branchen attraktiver machen.

Falsche Anreize wie Ehegattensplitting oder Minijobs halten Frauen noch immer davon ab, Vollzeit in ihrem Beruf zu arbeiten. „Mehr als 20 Prozent der Minijobber sind überqualifiziert, deutlich mehr als im Durchschnitt aller sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten“, sagt Varga. Unternehmen könnten auch das Poten­zial älterer Menschen und von Menschen mit Behinderung besser nutzen. Einwanderinnen und Einwanderer bringen oft Abschlüsse mit, die in Deutschland nicht anerkannt werden. Ihnen müsste der Zugang erleichtert werden.

Gerd Zika vom IAB würde bei Migranten allerdings noch an anderer Stelle ansetzen. Denn es kommen nicht nur jedes Jahr Menschen aus dem Ausland nach Deutschland, es wandern auch jährlich mehrere Hunderttausend wieder ab. Daher schlägt Zika vor: „Wir müssen uns darum kümmern, dass Zuwanderer auch bleiben wollen.“

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