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Magazin Mitbestimmung

Interview: „Eine Ohrfeige für die Politik“

Ausgabe 07+08/2013

Jürgen Kerner, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall, über fehlende Industriepolitik und die Forderung nach einer „Energiewende jetzt“. Die Fragen stellten die Journalisten Cornelia Girndt und Andreas Schulte.

Jürgen Kerner, die IG-Metall-Vorsitzenden und 40 Betriebsratsvorsitzende haben die Kanzlerin und ihren Wirtschafts- und Umweltminister in einem offenen Brief aufgefordert, endlich industrie- und energiepolitisch zu handeln. Warum kommt die Aufforderung „Energiewende jetzt“ in diesem Moment?

Es herrscht weitgehend Stillstand. Entweder verzetteln sich die Parteienvertreter in Einzelfragen, oder sie instrumentalisieren die Energiewende im Wahlkampf, etwa indem sie angesichts der steigenden Stromkosten Bürger und Unternehmen gegeneinander aufbringen. Solche Scharmützel gefährden die Energiewende, die doch für unsere technologiestarken Branchen eine herausragende Chance wäre.

Derzeit brechen haufenweise Windradhersteller ein, Bosch gibt seine verlustreiche Solartochter auf.

Was Bosch betrifft, so ist der Rückzug ein schwarzer Tag für den Industriestandort. Die haben gigantische Verluste gemacht. Ganz allgemein führt die politische Untätigkeit dazu, dass Innovationen zögerlich betrieben, ganze Geschäftsfelder aufgegeben oder infrage gestellt werden. Tausende von Arbeitsplätzen brechen weg, 200 000 sind bedroht. Dabei wollen wir die Energiewende als Motor für eine ökologische Modernisierung.

Wäre deren Koordinierung nicht eine Aufgabe der Regierung?

Hier liegt das Dilemma. Industriepolitik findet mit dieser Regierung nicht statt. Eine größere Ohrfeige für die Politik kann es eigentlich nicht geben, wenn 40 Betriebsratsvorsitzende aller betroffenen Branchen warnen: „Fahrt die Energiewende nicht an die Wand!“

Welche Reaktionen haben Sie erhalten?

Arbeitgebervertreter bis hin zu BDA-Präsident Dieter Hundt und viele Wissenschaftler haben uns gesagt: Euren Aufruf könnten wir blind unterschreiben. Auch SPD, Grüne und Linke haben positiv reagiert, CDU und FDP sich dazu kaum geäußert. Offenbar gilt dort die Maxime: „Der Markt wird es richten.“ Das ist eine Fehleinschätzung.

Welche Versäumnisse werfen Sie der Regierung konkret vor?

Das Herumdoktern an Einzelaspekten muss aufhören, etwa wenn sich Bundesumweltminister Altmaier nur noch um eine Strompreisbremse bemüht. Die Energiewende greift weiter: Es geht um mehr als Strom, seinen Preis und seine Herkunft. Es geht um die energetische Basis unserer Industriegesellschaft. Außerdem gehören für uns auch die Themen Mobilität und Wärmedämmung dazu. Wir wollen den Umbau der Industrie hin zu erneuerbaren Energien und Ressourcenschonung mit neuen Produkten und Prozessen mit vorantreiben.

Sie fordern einen Masterplan, „um die Energiewende zu einem industriellen Erfolg zu machen und Arbeit zu sichern“. Was soll der beinhalten?

Wir müssen das Projekt ganzheitlicher angehen und die Akteure – die Politik, die Wissenschaft, die Unternehmen sowie Gewerkschaften und Betriebsräte – an einen Tisch holen. Und zwar gleich nach der Bundestagswahl. Wir konstatieren bei der Wirtschaft eine weitverbreitete Investitionsunsicherheit; Sorgen haben nicht nur die energieintensiven Unternehmen wie Stahl, das betrifft alle. Die Energiewende darf nicht zulasten der Arbeitnehmer gehen, wir wollen ökologische und soziale Nachhaltigkeit. Das heißt für uns: Gute Arbeit sichern und schaffen.

Können überhaupt die guten Arbeitsstandards, wie wir sie von den reifen Industrien kennen, auf die junge Wind- und Solarindustrie übertragen werden?

Selbstverständlich. Denn wir müssen „besser statt billiger“ sein, können nur über Qualität und Innovation punkten. Beides schaffen die Mitarbeiter mit ihren Köpfen und Händen. Das wissen auch die Arbeitgeber. Mit ihnen gemeinsam setzen wir gerne gegenüber der Politik ein Zeichen für die Energiewende und ihre Branchen. Wir erwarten aber gleichzeitig von den Arbeitergebern die Umsetzung guter Arbeitsbedingungen, was im Übrigen auch die Wind- und Solarbranche festigt. Das ist unsere Bedingung. Wer mit uns aufs Plakat geht, der muss unsere Positionen bezüglich Tarifverträgen und Mitbestimmung auch ganz mittragen.

Was muss jetzt getan werden, um Arbeitsplätze in der deutschen Wind- und Solarindustrie zu erhalten?

Das werden wir nur schaffen, wenn wir technologisch die Nase vorn haben. Und innovativ sind. Anteile, die wir etwa in der Solarindustrie an China verloren haben, werden wir mit der gleichen Entwicklungsstufe nicht zurückholen. Ich bin aber sicher, dass Potenziale vorhanden sind, und hier müssen wir mit Fördermitteln gezielt ansetzen.

Wind, Solar und Biomasse sind durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz, das EEG, mit viel Geld gefördert worden.

Aber das EEG hatte nie das Ziel, Arbeitsplätze zu sichern. Im Vordergrund stand, den Ausbau der erneuerbaren Energien voranzutreiben. Das ist mit dem EEG gelungen. Heute benötigen wir eine gezieltere Förderung und einen Perspektivenwechsel: Wir müssen industriepolitisch in Wertschöpfungsketten denken. Beides muss im Masterplan festgelegt werden.

Brauchen wir ein Energieministerium, wie es die SPD vorschlägt?

Das könnte ein Weg sein. Man könnte auch einen Staatssekretär für Energie im Kanzleramt positionieren. Wichtig ist eine sichtbare politische Koordinierung. Denn der Markt wird durch die Energiewende neu aufgemischt. Und ist brutal. Wenn Firmen woanders billigere Energie und verlässlichere Rahmenbedingungen finden, werden sie kurzerhand dort investieren. Von daher muss die Energiewende nicht nur ökologisch, sondern auch industriell ein Erfolg werden. Erst dann ist sie international von Bedeutung und könnte in der Klimapolitik ein Beispiel für andere sein.

Zur Person

Jürgen Kerner, 44, gelernter Informationselektroniker, war in seiner Geburtsstadt Augsburg bis 1995 freigestellter Betriebsrat bei Siemens, übernahm dort eine hauptamtliche Tätigkeit für die IG Metall und wurde 2004 Erster Bevollmächtigter. Seit 2011 ist Kerner geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall, im November wird er auf dem Gewerkschaftstag für das Amt des Hauptkassiers kandidieren. Er sitzt im Aufsichtsrat unter anderem bei Siemens und MAN.

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