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historische Aufnahme vom Wirtschaftsrat der Bizone, der in einem Seitenflügel der Frankfurter Börse Magazin Mitbestimmung

Geschichte: Ein Erfolgsmodell

Ausgabe 02/2024

1949 trat das Tarifvertragsgesetz in Kraft. Eine kleine Zeitreise durch 75 Jahre deutscher Tarifpolitik. Von Reinhard Bispinck

Für Hans Böckler lagen die Lehren aus der Nazidiktatur klar auf der Hand: „Nur durch eine lebendige soziale Ordnung“, schrieb der erste DGB-Vorsitzende im Dezember 1950 an Bundeskanzler Konrad Adenauer, könne „der Vermassung und dem Totalitarismus Einhalt geboten werden“. Dringend notwendig für die Demokratie in Deutschland sei „die Einführung demokratischer Grundsätze in der Wirtschaftsführung und Wirtschaftsgestaltung“. Auf einen Meilenstein beim Weg in diese Richtung konnte Böckler bereits verweisen: Anderthalb Jahre zuvor, am 22. April 1949, war das Tarifvertragsgesetz in Kraft getreten. Es ist bis heute in seinen Grundzügen unverändert geblieben und definiert den rechtlichen Rahmen für Tarifverhandlungen und Tarifverträge zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern oder Arbeitgeberverbänden.

Tarifverträge gelten zwingend und unmittelbar. Abweichungen sind nur zulässig, wenn sie durch den Tarifvertrag gestattet sind oder Regelungen zugunsten der Arbeitnehmer enthalten. Gemeinsam mit der im Artikel 9 des Grundgesetzes verankerten Koalitionsfreiheit bildet das Tarifvertragsgesetz den stabilen rechtlichen Rahmen der Tarifpolitik. Um Löhne, Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen wurde in den vergangenen Jahrzehnten verhandelt und auch gestritten (siehe ausgewählte Stationen rechts). In Ostdeutschland gelang der Aufbau neuer Tarifstrukturen. Auf die Blütezeit folgte seit den 1990er Jahren die konservative Kritik an den vermeintlich verkrusteten Strukturen des „Tarifkartells“. Der Flächentarifvertrag geriet in die Krise, gesetzliche Eingriffe konnten jedoch abgewehrt werden. Tarifliche „Öffnungsklauseln“ wurden ein umkämpftes Thema. Doch in den 2010er Jahren gab es auch wieder Erfolge, die Reallöhne stiegen kräftig. Das Mindestlohngesetz von 2015 brachte erstmals eine gesetzliche Lohnuntergrenze und unterstützte auch die Tarifpolitik in den Niedriglohnsektoren.

Ein Problem bleibt: Immer weniger Menschen arbeiten heute mit Tarifvertrag. Dagegen startete der DGB im vorigen Herbst die Kampagne „Tarifwende“: „Wir fordern die Arbeitgeber auf, ihrer gesellschaftlichen Verantwortung wieder gerecht zu werden und mit uns gemeinsam Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu verabreden“, wirbt die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi für eine Rückkehr zur Tarifbindung. Mit Tarifvertrag gebe es „mehr Geld, mehr Jobsicherheit, mehr Freizeit, mehr Lebensqualität in schwierigen Zeiten“. 

1949

  • historische Aufnahme vom Wirtschaftsrat der Bizone, der in einem Seitenflügel der Frankfurter Börse

Die Trümmerlandschaft des Zweiten Weltkrieges spiegelt sich symbolträchtig in der Geburtsstätte des Tarifvertragsgesetzes. Der Wirtschaftsrat der Bizone, der in einem Seitenflügel der Frankfurter Börse residiert, beschließt das Gesetz am 9. April, noch vor der Gründung der Bundesrepublik. Es ist das Ergebnis langer Verhandlungen zwischen Briten und Amerikanern, der Arbeitsverwaltung sowie den neu gegründeten Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden. In den anschließenden Jahren des „Wirtschaftswunders“ nutzen die Gewerkschaften die Möglichkeiten des Gesetzes. Es gelingt ihnen, in Tarifverhandlungen und mit Streikunterstützung deutlich höhere Löhne durchzusetzen. Bei den Arbeitskämpfen geht es auch um sozialpolitische Themen, etwa beim Streik um die Lohnfortzahlung 1956/57. In der zweiten Hälfte der 50er sind die Verkürzung der Arbeitszeit und die Fünftagewoche („Samstags gehört Vati mir“) vorrangige Ziele der Tarifpolitik.

1974

  • Historische Aufnahme ÖTV-Chef Kluncker und ehem. Innenminister Genscher

Die Harmonie täuscht: ÖTV-Chef Heinz Kluncker und Innenminister Hans-Dietrich Genscher gönnen sich beim legendärsten Tarifkonflikt der Nachkriegsgeschichte nichts. Die ÖTV streikt bundesweit drei Tage und siegt auf ganzer Linie. Die „Kluncker-Runde“ endet mit Lohnerhöhungen von elf Prozent – bei sieben Prozent Inflation. In den 1960er Jahren haben
niedrige Abschlüsse zu Unzufriedenheit der Beschäftigten und spontanen Streiks geführt. In den 1970ern gewinnt neben der Lohnpolitik auch die qualitative Tarifpolitik an Gewicht. Der von der IG Metall 1973 durchgesetzte Lohnrahmentarifvertrag II mit Mindesttaktzeiten und Erholpausen gilt als Musterbeispiel für eine auf die Humanisierung der Arbeit ausgerichtete Tarifpolitik.

1984

  • Historische Aufnahme: Streikhelfer im Mai 1984 bei Daimler in Sindelfingen

Der Streikhelfer, der im Mai 1984 bei Daimler in Sindelfingen die Streikzeitung der IG Metall verteilt, wird die härteste
Tarifauseinandersetzung in der Geschichte der Bundesrepublik wohl nie vergessen. Die Metaller streiken für den Einstieg in die 35-Stunden-Woche, die Arbeitgeber antworten mit der Aussperrung von 500 000 Beschäftigten. Die Arbeitszeitpolitik steht in diesen Jahren im Zentrum gewerkschaftlicher Tarifpolitik. 1987 und 1990 gelingt in der Metall- und in der Druckindustrie die schrittweise Verkürzung der Arbeitszeit auf 35 Stunden bis zum Jahr 1995. In den 1990er Jahren ist die Tarifpolitik geprägt von den Verwerfungen der deutschen Einheit und der scharfen Rezession 1992/93. Die Globalisierung der Wirtschaft übt Druck auf die Tarifverträge aus. Ein erster Rückgang bei der Tarifbindung ist bereits spürbar.

2024

  • Elektronische Anzeigentafel mit Streikankündigung im ÖPNV in Berlin

Das Jahr 2024 wird vielen Bürgern vermutlich als das Jahr der geplatzten Reisepläne in Erinnerung bleiben: Lokführer, Bus- und U-Bahn-Fahrer, Flugbegleiter und das Flughafen-Bodenpersonal – sie alle verliehen ihrer Forderung nach kräftigen Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzungen mit Streiks Nachdruck. Die Folgen der Coronapandemie, die gestiegene Inflation, der wirtschaftliche Einbruch infolge des Ukrainekrieges und die Transformation der Wirtschaft fordern die Tarifpolitik seit Beginn der 2020er Jahre. Angesichts historisch einmaliger Reallohneinbußen stellen die Gewerkschaften deutlich höhere Lohnforderungen. Das Tarifklima ist rauer geworden, die Zahl der Arbeitskämpfe gestiegen. Aus den Reihen von Union und FDP mehren sich bereits Forderungen nach einer Einschränkung des Streikrechts.


Reinhard Bispinck leitete von 1989 bis 2017 das WSI-Tarifarchiv.

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