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Magazin Mitbestimmung

: Distanzen überwinden

Ausgabe 11/2004

Neue Technologien und Studiengänge bringen berufliche und akademische Bildung näher zusammen. Nicht formale Abschlüsse, sondern konkrete Befähigungen sind am Arbeitsplatz und für die Karriere entscheidend.

Von Hermann Horstkotte
Dr. Horstkotte ist Privatdozent an der RWTH Aachen und arbeitet als freier Journalist vor allem über bildungspolitische Themen. horstkotte.bonn@t-online.de

Neue Technologien und Studiengänge bringen berufliche und akademische Bildung näher zusammen. Nicht formale Abschlüsse, sondern konkrete Befähigungen sind am Arbeitsplatz und für die Karriere entscheidend.

Anja Schumachers ist mathematisch-technische Assistentin (MATA) mit Abschluss vor der Industrie- und Handelskammer. Sie hat ihre theoretische und praktische Ausbildung im Rechenzentrum der Technischen Hochschule Aachen und bei der Telekom absolviert. Jetzt macht sie das entsprechende Fachhochschulstudium zum Diplom-Technomathematiker. Dabei wird ihr die Berufsausbildung schon als Vordiplom angerechnet, in zwei statt vier Jahren ist sie fertig. Auch die Fernfachhochschule Darmstadt erspart der und dem MATA das Grundstudium und führt ebenfalls in durchschnittlich zwei Jahren berufsbegleitend zum Diplom (FH). In Düsseldorf oder an der Aachener TH hätte Anja auch gleich ins Unistudium einsteigen können, dort wäre ihre Ausbildung freilich nicht ganz so hoch angerechnet worden wie an der FH.

Solche Übergänge von der beruflichen in die akademische Bildung gibt es heute Dutzende, zum Beispiel in den Gesundheitsfachberufen wie etwa der Physiotherapie oder als Weiterbildung vom Industrietechnologen oder Sparkassenfachwirt zum international gängigen "Bachelor". Diese Beispiele sind freilich seltene Ausnahmen, insgesamt ein paar Dutzend von mehr als zehntausend Studienangeboten. Und das, obwohl in vielen Fachhochschulfächern fast jeder zweite Student bereits eine entsprechende Berufsausbildung vorweisen kann. Von drei Ingenieurstudenten an den FHs haben sogar zwei die passende IHK-Prüfung hinter sich.

Die wechselseitige Abstimmung zwischen geharnischter Berufsehre - "Verachtet mir die Meister nicht und ehrt mir ihre Zunft!" - und sprichwörtlichem Akademikerdünkel erfordert auf beiden Seiten allerdings eine Horizonterweiterung und viel Einfühlungsvermögen, in der Regel auch formelle Kooperationsverträge zwischen den Hochschulen und Unternehmen. Im Allgemeinen sind die berufliche Aus- und Weiterbildung und die Hochschulbildung vielmehr zwei streng getrennte Welten mit eigenen, oft jahrhundertealten Traditionen. Das zeigt sich sogar in der Sprache: Kürzlich schrieb etwa der Stifterverband für die deutsche Wissenschaft einen Wettbewerb zur "akademischen Weiterbildung" aus - womit wie selbstverständlich die Fortbildung von Akademikern und nicht zu Akademikern gemeint war. Neue, angeblich "berufsqualifizierende" Studiengänge zum Bachelor und Master nach internationalem Vorbild hecken die Professoren hierzulande weitgehend unter Ausschluss der Berufswelt aus. Dazu eine vielleicht nicht ganz repräsentative, aber doch bezeichnende Stichprobe auf einer Fachtagung der FH Dortmund in diesem September: Von mehr als 100 Hochschullehrern aus allen Bundesländern und vielen Fächern gaben gerade mal sechs an, für ihre Lehrpläne auch Vertreter aus dem Beschäftigungssystem zu Rate zu ziehen.

Rückläufige Studierendenzahlen

Die Akademisierung von Wirtschaft und Gesellschaft scheint unaufhaltsam. Das 21. Jahrhundert wurde schon zum Zeitalter der Wissens- oder Informationsgesellschaft ausgerufen - in der sogar der frühere Heizungsmonteur und heutige Klimatechniker seine Wartungsarbeiten mit dem Laptop vor der Brust durchführt. Im vorigen Jahr hat der Reiz der Hochschulausbildung mit zwei Millionen Studierenden aber bereits seinen Höhepunkt erreicht. Zum Sommersemester dieses Jahres sank die Studentenzahl an zahlreichen Hochschulen schon wieder um 15 Prozent und mehr. Der Grund: die Einführung von Gebühren für Langzeitstudenten in manchen Bundesländern, das heißt für junge Erwachsene, die den Studentenausweis nur für mancherlei Vergünstigungen wie verbilligte Bahn- und Kinokarten brauchen und in Wirklichkeit überwiegend arbeiten, als Sekretärin beispielsweise oder als Lieferant. Wegen der neuen Gebühren macht sich die Hochschulzugehörigkeit für sie einfach nicht mehr "bezahlt", also Schluss mit dem Schein-Studium.

Die Kultusministerkonferenz geht davon aus, dass in zehn Jahren nur noch zwei Drittel der Abiturienten ein Studium aufnehmen. 1990 waren es noch 90 Prozent. Viele Abiturienten sagen heute von vornherein: Studium, lieber nein danke. Es gibt vielmehr ganze Berufsschulklassen, etwa im Bereich der Informatik, in denen nur Azubis mit Abi sitzen. Einer ist Nils Gottschaldt. Er erklärt: "Ein Studienplatz steht mir von Rechts wegen immer noch zu, nicht aber ein Ausbildungsplatz. Den habe ich mir im firmeneigenen Auswahlverfahren als einer von fünf Glücklichen unter 160 Bewerbern erstritten." Eine Karriere mit Lehre und anschließender (lebenslanger) Weiterbildung gewinnt zunehmend an Attraktivität. MATAs wie Anja Schumachers werden immer mehr zum Vorbild.

Manchen lockt auch die Kombi-Ausbildung mit Lehre und Studienplatz, die Unternehmen und Fachhochschulen zusammen organisieren. Das ist bundesweit mittlerweile rund 250-mal der Fall. Dietger Mainz vom Vorstand der "Nordakademie" in Elmshorn hat die Erfahrung, dass die doppelt ausgebildeten FH-Absolventen unter den angehenden Führungskräften doppelt so stark vertreten sind wie solche mit einfachem akademischem Abschluss. Gerd Woortmann, Bildungspolitiker beim Deutschen Industrie- und Handelskammertag, sagt: "Die duale Ausbildung in Betrieb und Schule oder Hochschule muss die Regel werden!" Ein Prototyp sind die seit 1974 in Baden-Württemberg und inzwischen auch in anderen Bundesländern florierenden "Berufsakademien".

Sprungbrett Bachelor

Heute erfordert jeder sechste Arbeitsplatz ein Hochschulstudium, im Jahr 2015 nach einer amtlichen Prognose fast schon jeder fünfte. Aber welches Studium? Mitnichten unbedingt ein wissenschaftliches, wie sich beim Rundblick in anderen modernen Industrieländern zeigt. In England, Amerika, Australien oder Südostasien ist die anwendungsorientierte, also berufspraktische Bachelorausbildung zwischen drei und vier Jahren das Übliche. Nur Absolventen mit besonderen theoretischen Interessen werden anschließend zum forschungsorientierten Master- und/oder Doktorstudium eingeladen. Vor diesem Hintergrund ist die deutsche Hochschullandschaft (noch) eine verkehrte Welt: Die wenigsten Studenten lernen an der Fachhochschule mit ihrem ausgeprägten Praxisbezug, drei von vier gehen immer noch auf die Uni - und kommen vielfach mit deren theoretisch-wissenschaftlicher Ausrichtung nicht zurecht.

Die Einführung des zweistufigen Bachelor-Master-Studiums gleichermaßen an unseren Unis und FHs hat das Ziel, die akademische Ausbildung in Deutschland vom Kopf auf die Füße zu stellen. Die Kultusministerkonferenz hat klar festgelegt, dass der Bachelor nach sechs, sieben oder höchstens acht Semestern der "Regelabschluss" ist. "Nur jeder dritte Absolvent kommt für das weiterführende wissenschaftliche Studium zum Master in Betracht", erklärt der parteilose Hamburger Wissenschaftssenator Jörg Dräger für die meisten seiner Kollegen. Der akademische Umbau läuft seit vier, fünf Jahren und muss wegen Vereinbarungen innerhalb der Europäischen Union bis 2010 flächendeckend abgeschlossen sein.

Das offizielle Hochschul-Informations-System (HIS) in Hannover hat jetzt erstmals eine repräsentative Untersuchung über den Berufseintritt der deutschen Bachelor vorgelegt. Befragt wurden alle 4000 Absolventen der Abschlussjahre 2002 und 2003. Nur drei Prozent der FH-Absolventen und sechs Prozent der (womöglich arbeitsmarktferneren) Uniabgänger bezeichnen sich als arbeitslos. Dagegen ist rund ein Drittel mit dem Arbeitsplatz voll zufrieden, sowohl mit der Position im Betrieb wie mit den Arbeitsaufgaben und deren Nähe zum Studienfach. Weitere 20 Prozent sehen sich gut untergekommen, vermissen aber (zunächst noch) die Fachnähe.

Die meisten Absolventen arbeiten als wissenschaftliche oder jedenfalls qualifizierte Angestellte mit einem anderen Leistungsprofil als Lehr-Absolventen der rein beruflichen Bildung. Als leeres Gerücht erweist sich die Behauptung, mit dem Bachelor habe man nur Chancen bei internationalen Großunternehmen, die Erfahrungen mit den international üblichen Abschlüssen Bachelor und Master haben. Tatsächlich ist jeder vierte Arbeitssuchende bei einer Firma mit bis zu 20 Beschäftigten untergekommen. Im Anfangsgehalt liegen die zufriedenen Bachelor ungefähr so wie herkömmliche FH-Absolventen mit Diplom. Dazu erklären erfahrene Personalchefs immer wieder: Die im ersten Arbeitsjahr wirklich bewiesene Leistung ebnet den Karriereweg und nicht der eine oder andere akademische Titel, der höchstens ein Leistungspotenzial andeutet.

Berufs- und Hochschulbildung im Wettbewerb

Als "unangemessen" beschäftigt sieht sich, je nach Fachstudium, immerhin noch jeder vierte oder gar dritte Bachelor. Am wenigsten zufrieden sind offenbar Absolventen, die im öffentlichen Sektor arbeiten wollen. "Gerade das Beispiel der gesundheitswissenschaftlichen Fachrichtungen lässt vermuten, dass die Absolventen noch auf alte Strukturen stoßen, die eine Einstufung des neuen Abschlusses schwer möglich machen", heißt es in der HIS-Studie. Physio- oder Ergotherapeuten beispielsweise müssen sich erst noch gegen Kollegen mit Fachschulabschluss (Assistentenberufe) durchsetzen.

Ähnliche Stellenkonkurrenz besteht zum Beispiel zwischen Chemielaboranten und Bachelors der Chemie, dem sechssemestrigen Bachelor der Architektur, der nicht "kammerfähig" ist, und dem Techniker oder Bauzeichner. "Auch unsere MATAs verdienen gleich so viel wie jemand mit FH-Diplom", sagt Bendikt Magrean, Ausbildungsleiter am Aachener Rechenzentrum. "Sie studieren, um ihre Aufstiegschancen noch zu verbessern."

Mit dem Bachelorstudium schöpfen die Hochschulen die akademische Erstausbildung "nach unten" aus und überschneiden sich dabei mit der beruflichen Aus- und Weiterbildung. Folgerichtig darf sich der "Fachwirt (IHK)" mit Genehmigung des Bundeswirtschaftsministeriums international auch "Bachelor (CIC)" nennen, zum Ärger vieler Hochschulrektoren. Denn, so Bildungsforscher Ulrich Teichler: In Deutschland ist "die Koalition des akademischen Dünkels, des wissenschaftlichen Snobismus, des Willens zur Erhaltung großer Qualifikationsdistanzen" noch längst nicht überwunden.

Einen übergreifenden Qualifikationsrahmen schaffen!

Das muss sich jetzt auf dem Weg in den gemeinsamen europäischen Bildungs- und Hochschulraum schnell ändern. Denn die EU-Bildungsminister haben im vorigen Jahr in Berlin vereinbart, zunächst nationale "Qualifikationsrahmen für Hochschulabschlüsse" zu erarbeiten. Die sollen die Kompetenzen oder Könnerschaft beschreiben, die mit dem akademischen Grad wirklich verbunden sind ("learning-outcome"): vor allem also die Befähigung, das erworbene Wissen beruflich anzuwenden oder auch bei Entscheidungen "soziale Verpflichtungen zu berücksichtigen".

An einem entsprechenden Kriterienkatalog knobelt gegenwärtig die Hochschulrektorenkonferenz. In Abstimmung damit und nach möglichst ähnlichen Kriterien entwickelt das Bundesinstitut für berufliche Bildung einen "Beruflichen Qualifikationsrahmen". Erst im Vergleich finden beide ihr Profil. Das gemeinsame Ziel: Am Ende wird sich zeigen, in welchen Bereichen und Befähigungen sich die unterschiedlichen Ausbildungswege überschneiden, womöglich zum gleichen Ergebnis führen und wo anrechenbare Vorleistungen sachgerechte Übergänge zwischen beruflicher und akademischer Bildung eröffnen - wie bei den MATAs. Das Grundproblem: die Hürde Abitur, eine rein schulische Vorleistung, durch Könnensnachweise im Beruf zu überwinden!

Die Treffen von Bologna und Berlin

Die gemeinsame Erklärung von 29 Bildungsministern in Bologna im Jahre 1999 markiert einen Meilenstein in der Schaffung eines europäischen Bildungsraums. Kern ist die Vergleichbarkeit und gegenseitige Anerkennung der Hochschulabschlüsse und Zertifikate, womit die Attraktivität und internationale Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Hochschulen gesteigert werden soll. Die Unterzeichnerstaaten verpflichteten sich daher, mit dem Bachelor und dem Master zwei in ihrer Abfolge gestufte Abschlüsse einzuführen. Während der Bachelor als berufsqualifizierender Abschluss auf dem europäischen Arbeitsmarkt Anerkennung finden soll, ist der Master stärker wissenschaftsorientiert.

Kennzeichen des Reformwerks neben dem modularen Aufbau der Studiengänge ist die Einführung eines Punktesystems, das die Anrechnung vergleichbarer Leistungen ermöglicht. Auf der Nachfolgekonferenz im September 2003 in Berlin wird die Stärkung der Kohäsion des europäischen Bildungsraums betont, die durch eine Reduzierung sozialer und nationaler Ungleichheiten erreicht werden soll. Die Regierungen der inzwischen 40 Unterzeichnerländer haben sich verpflichtet, das zweistufige System der Hochschulabschlüsse ab 2005 einzuführen. Der Masterabschluss soll den Zugang zur Promotion ermöglichen.

Zum Weiterlesen

Quantitative Entwicklung im Schul- und Hochschulbereich bis 2015: www.kmk.org/statist/home.htm?bild
Zukunft von Bildung und Arbeit. Perspektiven bis 2015. Bericht der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung: www.blk-bonn.de/papers/heft104.pdf
Hochschulzugang ohne Abitur: www.kmk.org/hschule/Synopse2003.pdf
Kerstin Mucke: Förderung der Durchlässigkeit zwischen beruflicher und hochschulischer Bildung durch Anerkennung von Qualifikationen und Kompetenzen. In: Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis, Heft 6/2004
Kerstin Mucke: Duale Studiengänge an Fachhochschulen - Eine Übersicht. Schriftenreihe des Bundesinstituts für Berufsbildung. 2003
Ulrich Teichler, Andrä Wolter: Zugangswege und Studienangebote für nicht-traditionelle Studierende. In: Die Hochschule, Heft 2/2004

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