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Magazin Mitbestimmung

Von STEFAN SCHEYTT, CARMEN MOLITOR UND GUNNAR HINCK: Diese Gewerkschafter wollen in den Bundestag

Ausgabe 08/2017

Portrait Wie fühlt es sich an, wenn man zum ersten Mal fürs Parlament kandidiert und Wahlkampf macht? Wir stellen insgesamt sechs aktive DGB-Gewerkschafter aus vier Parteien vor. Teil 2 folgt in der nächsten App-Ausgabe.

Von STEFAN SCHEYTT, CARMEN MOLITOR UND GUNNAR HINCK

Leni Breymaier, ehemalige ver.di-Landesleiterin, will für die SPD punkten

Seit Mitte Juli tourt Leni Breymaier, 57, mit Campingtisch und Campingstühlen im Kofferraum durch Baden-Württembergs Fußgängerzonen, um im September für die SPD in den Bundestag einzuziehen. Ihr Wahlkampfformat lautet „3–1–2“: Drei Minuten hört sie den Bürgern auf den Campingstühlen zu, eine Minute dauert ihre Replik, zwei Minuten der Dialog.

Dabei verzichtet sie fast völlig auf die SPD: keine roten Parteiballons, keine Fähnchen, keine Schirme oder Flyer. Weil die Wähler immer größere Bögen um die Werbestände der Parteien machen, soll der Mensch Leni Breymaier überzeugen. Sie ist geradeheraus, schwäbelt unerschrocken, lacht gern laut auf. Und wird nicht direkt mit den historisch schlechten 12,7 Prozent der SPD bei der Landtagswahl 2016 in Verbindung gebracht.

„Eine Demütigung“, kommentiert Brey­maier, „die Zahl steckt allen in den Knochen.“ Jetzt soll im konservativen Südwesten, in dem auch die SPD nie für den linken Flügel der Partei stand, ausgerechnet eine ehemalige ver.di-Landeschefin als neue Parteivorsitzende die Trümmer wegschaffen (gemeinsam mit einer früheren Juso-Vizin als Generalsekretärin). „Als Linke war ich hier immer in der Minderheit, aber die Quintessenz nach vielen Aufarbeitungsdebatten war: Die SPD wünscht sich mehr Emotionen und mehr Einsatz für soziale Gerechtigkeit. Das Ergebnis bin ich.“

Am Campingtisch wirbt die frühere Betriebsrätin deshalb dafür, die Rentenkürzungen zurückzunehmen („Wer CDU wählt, wählt Rentenkürzung“), und für die Rückkehr zur paritätisch finanzierten Krankenversicherung, für die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverträgen, für gleiches Entgelt für Leiharbeiter ab der ersten Arbeitsstunde, für beitragsfreie Kindergärten … Sie will sich dabei nicht abarbeiten an den Grünen („Die sind sowieso schwarzgrün“) und den Linken (die sie aus Frust über die Rente mit 67 vor vielen Jahren schon mal gewählt hat).

Der Gegner sei die CDU, auch was Europa anbelangt: „Da haben Merkel und Schäuble versagt. In Europa muss zum Friedensversprechen das soziale Versprechen hinzukommen. Martin Schulz steht für ein solidarisches Europa.“ Und erst die fehlenden Frauen bei den Christdemokraten: „In Baden-Württemberg hat die CDU in 38 Wahlkreisen ganze drei Frauen für Berlin nominiert. Alle sehen nur Merkel und von der Leyen. Dabei machen wir gleichstellungspolitisch viel mehr als die Kanzlerin, das regt mich schon wieder auf, das kotzt mich an.“ Leni Breymaier, emotional.

„Ich war selten so einverstanden mit meiner Partei wie jetzt“, sagt sie fröhlich am Campingtisch, um gleich ein Dissensthema hinterherzuschieben: Prostitution, ein Feld, das sie schon lange beackert. „Da ist mir die CDU näher als meine SPD. Ein riesiger gesellschaftlicher Skandal, für den wir uns in 30 Jahren schämen werden. Deutschland ist das Bordell Europas.“ Noch sei sie damit in der Nische, aber danach schaut eine wie Leni Breymaier nicht, sie will die Debatte darüber. Und sich im September als Parteichefin am Wahlergebnis messen lassen. Der Maßstab sind natürlich nicht die demütigenden 12,7 Prozent bei der Landtagswahl, sondern die Bundestagswahl 2013 (20,6 Prozent). Ihr Ziel: „26 Prozent plus X.“

Text: Stefan Scheytt

 

Thorsten Hoffmann, Kriminalkommissar a.D., will für die CDU einen Dortmunder Wahlkreis holen

Die alte Dame an der Haustür ist freundlich-resolut: „Ich wähle Sie nicht“, sagt sie zur Begrüßung zu dem Mitfünfziger, der in Poloshirt, Jeans und Turnschuhen auf ihrer Treppe steht, einen Prospekt aus seinem Stoffbeutel kramt, „aber Sie sind im Ort sehr eifrig!“ Thorsten Hoffmann lacht. „Dann geben Sie mir doch Ihre Stimme!“, sagt er. „Ich habe schon immer die anderen gewählt“, antwortet die Frau schulterzuckend. Mit 85 werde sie nicht anfangen, bei der CDU ihr Kreuz zu machen.

Thorsten Hoffmann ist im Häuserwahlkampf. Fünf Tage die Woche geht er jeweils drei Stunden mit jungen Wahlhelfern von Tür zu Tür, klingelt, erinnert freundlich an die Wahl und versucht, möglichst unaufdringlich seine Ziele zu vermitteln: mehr Personal und gute Ausrüstung für die Polizei, fair bezahlte Arbeit, mehr Geld für Familien. Heute, in Dortmund-Kirchhörde, hat er ein Heimspiel.

Hier wohnt er, man mag ihn als Kommunalpolitiker. Doch er ist mitten im SPD-Land: Seinen Wahlkreis Dortmund I konnte die CDU noch nie direkt gewinnen. Hoffmann träumt davon, der Erste zu sein. „Ich bin in einigen Punkten eher ein altmodischer Typ“, sagt der 56-Jährige. Einer, der feste Prinzipien habe, auf gutes Benehmen Wert lege und sich selbst über kleine Ungerechtigkeiten aufrege.

Er hat seinen Sohn allein großgezogen, nachdem seine Frau ihn verlassen hatte. Schippt auch mal spontan einer Oma Schnee vor der Haustür weg, engagiert sich bei der Tafel. Vielen hier ist Hoffmann mit seiner zupackend-­natürlichen Art sympathisch. Nur sei er halt in der „falschen“ Partei. Gerechtigkeit ist ihm wichtig.

34 Jahre lang war er bei der Polizei, zuletzt als Kriminalhauptkommissar. Davon hat er 14 Jahre in der Dortmunder Unterwelt unter kriminellen Clans, Zuhältern, Prostituierten, Rauschgifthändlern und Mördern ermittelt. „Ich war mit Jeansjacke und langen Haaren unterwegs und habe wahrscheinlich mehr erlebt als Schimanski“, erzählt er lächelnd. Den Glauben daran, dass es mehr gute Menschen gibt als schlechte, konnte er sich trotzdem erhalten. „Ich bin ein Typ, der knallhart durchgreift, der sich aber auch entschuldigen kann und nicht unbelehrbar ist.“

Hoffmann gehört zum Arbeitnehmer­flügel der CDU, er ist Mitglied der CDA und der Gewerkschaft der Polizei. Ein Linker ist er nicht: „Arbeitgebern muss es gut gehen, damit sie überhaupt Leute einstellen können“, sagt er. Gewerkschaftliche Arbeit hält er für wichtig, aber pragmatisch müsse sie sein: „Die Gewerkschaften sollten die Interessen der Arbeitgeber im Kopf haben – und andersherum genauso. Dann kommt man zu einer vernünftigen Einigung.“

Der Dortmunder war schon zur Bundestagswahl 2013 angetreten und zu seiner großen Enttäuschung gescheitert. Aber als Ronald Pofalla 2015 aus dem Bundestag ausschied, rückte er für ihn nach, arbeitete unter anderem im Innenausschuss und im NSU-II-Untersuchungsausschuss, knüpfte Kontakte. Jetzt tritt er wieder an, als Wackelkandidat mit Listenplatz 51. Um seine Chance zu wahren, will er so viel Wahlkampf machen, wie es eben geht. „Und es sind nur noch fünf Wochen!“ Hoffmann klingelt an der nächsten Haustür.

Text: Carmen Molitor

 

Susanne Ferschl, GBR-Vorsitzende von Nestlé, hat einen sicheren Listenplatz der Linkspartei

Am Tag der Bundestagswahl wird Susanne Ferschl eines bedauern: dass ihre Mutter sie nicht wählen kann. Die ist gebürtige Österreicherin und hat keinen deutschen Pass. Ansonsten läuft es für die Gesamtbetriebsratsvorsitzende von Nestlé Deutschland in der Politik derzeit bestens. Auf der bayerischen Landesliste der Linkspartei ist sie auf Platz drei und damit so gut wie sicher im Bundestag. Bislang stellen die bayerischen Linken vier Abgeordnete.

Susanne Ferschl, die Gesamtbetriebsratsvorsitzende der Nestlé Deutschland, hat bei der Linkspartei einen nahezu sicheren Listenplatz.

In der Linkspartei hat die 44-jährige Allgäuerin rasant Karriere gemacht. Vor drei Jahren sprach sie ein Gewerkschafter und Politiker der Linkspartei an, ob sie sich eine Mitgliedschaft vorstellen könne. Sie konnte.

Als NGG-Vorstandsmitglied (bis 2015), Betriebsratsvorsitzende und Aufsichtsratsmitglied von Nestlé ist sie in der Gewerkschaftsszene ein bekannter Name. Dass eine Partei irgendwann auf sie aufmerksam werden würde, lag nahe. Ob die SPD eine Chance bei ihr gehabt hätte? „Nein“, sagt Susanne Ferschl bestimmt. „Die SPD ist für mich nicht glaubwürdig. Sie redet in Wahlkämpfen immer von sozialer Gerechtigkeit, aber nach der Wahl macht sie eine andere Politik.“ Aus ihrem Landesverband stammt auch Klaus Ernst, IG-Metaller und ehemaliges SPD-Mitglied, der einst die Wahlalternative WASG gründete, die später zusammen mit der PDS in der Linkspartei aufgehen sollte.

Ihren Sprung in die Politik erklärt Susanne Ferschl mit den Grenzen, die sie als Betriebsrätin erlebt: „Ich dachte früher immer, es reicht aus, Betriebsratsarbeit zu machen, um die Arbeitsbedingungen der Menschen zu verbessern. Aber wir sind gegenüber den Rahmenbedingungen durch die Politik, wie Befristungen und Leiharbeit, oft hilflos.“

Nachfragen wegen ihrer spannungsgeladenen Doppelrolle als Betriebsrätin eines Weltkonzerns und ihrem Engagement in der Linkspartei ist sie mittlerweile gewohnt. „Viele sehen in der Linken noch die Ost-Partei“, meint Susanne Ferschl. Sie jedoch sieht „ programmatisch die größten Schnittmengen zu den Gewerkschaften“.

Ihre Parteikollegen wiederum hinterfragen kritisch die Rolle von Nestlé als mächtigem Lebensmittelkonzern, in dessen Aufsichtsrat sie ein Mandat hat. „Solange es den Kapitalismus gibt, wird es auch Nestlé geben. Die isolierte Kritik an einem Unternehmen halte ich für falsch. Es geht um das System“, antwortet sie dann. Und: „Außerdem bin ich Arbeitnehmervertreterin.“

Im Wahlkampf diskutiert die Kandidatin nun in den Fußgängerzonen mit den Bürgern über soziale Gerechtigkeit. „Bei mir in Kaufbeuren gibt es Stadtviertel mit elf Prozent Anteil an Hartz-IV-Beziehern“, erzählt sie. Und so liegt es nahe, dass Susanne Ferschl im Bundestag am liebsten in die Arbeits- und Sozialpolitik einsteigen würde, sie möchte sich starkmachen für die Einführung der Bürgerversicherung und eine stärkere Regulierung der Leiharbeit. „Ja, ich will mich für das Ende der sachgrundlosen Befristung einsetzen.“

Text: Gunnar Hinck

Aufmacherfoto: picture alliance / Daniel Kalker

 

WEITERE INFORMATIONEN

In 14 Tagen werden in der nächsten App-Ausgabe am 1. September weitere drei Kandidaten vorgestellt: Uwe Schmidt (ver.di/SPD), Nicole Specker (IG BCE/SPD) und Martin Heilig (GEW/Die Grünen)

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