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Magazin Mitbestimmung

: Die marktradikale Welle ebbt ab

Ausgabe 01+02/2007

Wenn sich der Staat immer kleiner macht, wird auch der Bereich, den der Citoyen, die Citoyenne mitbestimmen kann, immer kleiner. Höchste Zeit für eine Diskussion darüber, was der Markt kann und soll und ob er wirklich alles soll, was er zur Not vielleicht auch kann. Rät Erhard Eppler.



Von Erhard Eppler
Dr. Eppler war unter anderem von 1968 bis 1974 Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und langjähriger Vorsitzender der Grundwertekommission der SPD. 2005 hat er bei Suhrkamp das Buch "Auslaufmodell Staat?" veröffentlicht, das von der Friedrich-Ebert-Stiftung mit dem Preis "Das politische Buch 2006" ausgezeichnet wurde.


Geht es darum, aufzulisten, was der Staat unterlassen sollte, sind die seriösen Marktradikalen immer viel präziser als bei der Beschreibung der Aufgaben, die dem Staat bleiben sollen. Er solle für Recht und Ordnung sorgen, auch auf den Märkten, das Eigentum schützen und wohl auch die Eigentümer. Dazu gesteht man ihm auch sein Gewaltmonopol zu, eingeschränkt durch eine stürmisch wachsende Sicherheitsbranche. In der Praxis halten sich die Marktradikalen an die simple Devise: Im Zweifel für den Markt, gegen den Staat. Und das funktioniert so lange gut, wie der Staat trotzdem funktioniert. 

Nun hat ein gescheiter Amerikaner, Verfassungsrechtler, Historiker und Präsidentenberater unsere Wissenslücke gefüllt. Philip Bobbitt hat in einem - nicht übersetzten - Buch von fast 1000 Seiten (The Shield of Achilles, 2002) uns klargemacht, dass die Weltgeschichte, die schon viele Arten und Abarten des Staates hervorgebracht hat, auf den Marktstaat (market state) zuläuft. Er unterscheidet sogar mehrere Variationen des Marktstaates. Was sie gemein haben, ist dies: Der Staat ist nicht mehr zuständig für die Einzelnen, für die Menschen, die Bürger, sondern für die Märkte.

Diese müssen viele verlockende "opportunities" bieten. Die Bürger haben sich gefälligst an die Märkte zu wenden, sich ihrer zu bedienen, dort ihre Chancen zu nutzen. Tun sie es nicht, kann und will der Staat ihnen auch nicht helfen. So hat der Staat dafür zu sorgen, dass der Arbeitsmarkt - möglichst dereguliert - immer neue Arbeitschancen anbietet.

Jede und jeder kann sich bedienen. Wer es nicht kann, arbeitslos wird und bleibt, hat Pech gehabt. Der Staat ist für ihn nicht verantwortlich. Der Staat muss dafür sorgen, dass es einen lebendigen Bildungsmarkt gibt, wo man Bildung einkaufen kann, gute, sehr gute und weniger gute Schulen, je nach Geldbeutel, und sogar da, wo seit 500 Jahren der Kern staatlicher Autorität liegt, bei der inneren Sicherheit, verweist der Marktstaat seine Bürger an den Markt der Sicherheitsagenturen.

Von der sozialen Sicherheit ganz zu schweigen: Wozu gibt es Versicherungen? Jeder und jede kann sich am Versicherungsmarkt gegen alles versichern. Dass auch da "opportunities", vielleicht sogar Schnäppchen, zu haben sind, dafür hat der Markt zu sorgen. Und da die Märkte immer klüger sind als die Politiker, ist dies auch für die Menschen günstiger als staatliche Sozialpolitik.

Kurz: Der Citoyen und die Citoyenne werden zu Kunden. Demokratie wird zur Wahlfreiheit des Kunden. Sicher, deshalb werden die Parteien nicht abgeschafft, aber worüber sollen sie sich streiten? Gesundheitsreform? Unnötig, besorgt der Markt. Bildungsreform? Könnte sich allenfalls befassen mit Mindeststandards für - private - Schulen. Politik würde nicht abgeschafft, sie würde gegenstandslos. Markt und Demokratie liefen nicht mehr parallel, würden sich nicht nur gegenseitig stützen, sie würden identisch.

Wahrscheinlich wird es diesen Marktstaat in Reinkultur nie geben. Nach Bobbitt sind auch die Vereinigten Staaten noch ziemlich weit davon entfernt. Und trotzdem ist die Idee des Marktstaats wichtig, ja hilfreich. Vieles, was Marktradikale verlangen, propagieren oder auch durchsetzen, wird leichter verständlich, wenn man es auf das Ziel des Marktstaats bezieht. Man kann jetzt fragen: Ist es ein Schritt hin zum Marktstaat? Und vor allem: Wollen wir diesen Marktstaat oder wollen wir ihn nicht? Entspricht er den Traditionen und Grundwerten europäischer Demokratie oder widerspricht er ihnen?

Ließe man die Europäer darüber abstimmen, so wäre ein ziemlich eindeutiges Nein zu erwarten. Obwohl viele Europäer mit Entsetzen erfahren haben, wozu der Staat des 20. Jahrhunderts, also der Nationalstaat, fähig war: zwei mörderische Weltkriege, zwei mehr oder minder menschenfeindliche Diktaturen, die Degradierung des Bürgers zum Kanonenfutter, zum Mittel für die Zwecke des Staates. Es gibt gerade für Europäer gute Gründe, dem Staat gegenüber wachsam, ja misstrauisch zu sein.

Wer dem Staat Grenzen setzen will, findet immer noch offene Ohren. Und das ist gut so. Aber ein Marktstaat, der aus der Citoyenne eine Kundin macht? Die Europäer in West und Ost haben nicht vergessen, wie jämmerlich die Kommunisten bei dem Versuch scheiterten, den Markt durch Staat zu ersetzen, durch Bürokratie und Beschlüsse des Politbüros. Aber nur eine Minderheit zieht daraus den Schluss, nun müsse man Staat und Politik durch den Markt ersetzen.

Die Europäer erinnern sich noch, was es bedeutet, wenn der Staat Wahrheit verordnet, philosophische, historische, religiöse. Sie haben gelernt, dass der Staat für Wahrheit nicht zuständig ist, dass Wahrheit sich nicht beschließen lässt, auch nicht durch frei gewählte Parlamente. Aber sie wissen auch, dass der Staat sehr wohl zuständig ist für die Bedingungen der Wahrheitsfindung, zum Beispiel für Lehrstühle für Philosophie, auch wenn davon kein unmittelbarer ökonomischer Nutzen zu erwarten ist. Die gebrannten Kinder des 20. Jahrhunderts dürfen und wollen an ihre Wunden erinnern, auf sie verweisen, sie als Argument benutzen.

Aber das entbindet sie nicht von der Aufgabe, Entscheidungen für das 21. Jahrhundert zu treffen. Es könnte ja sein, dass die große Gefahr des 20. Jahrhunderts die überbordende, den Menschen zum Zweck erniedrigende Macht des Staates war, die Hauptgefahr des 21. Jahrhunderts dagegen der ohnmächtige, hilflose, erpressbare und schließlich zerfallende Staat. Und als andere Seite derselben Medaille eine entstaatlichte, privatisierte und am Ende chaotische Gewalt. Auf dem Weg vom Gewaltmonopol zum Gewaltmarkt sind manche Länder schon ziemlich weit gekommen, nicht nur in Afrika.

Wenn wir begriffen haben, dass der Staatsbürger zum Kunden gemacht werden soll, werden wir sensibel für alle kleinen Schritte, die genau dies bewirken. Wer vor 50 oder 40 Jahren in einem Gemeinderat saß, erinnert sich an heiße Debatten über Wasserversorgung, Wasserqualität, Wasserpreis, in Baden-Württemberg an das große politische Projekt der Bodenseewasserversorgung. In Kommunalwahlkämpfen mussten Parteien und Kandidaten darlegen, was sie davon hielten, wie sie dazu beitrügen. Sicher, die Citoyennne war auch Kundin der städtischen Werke, aber sie konnte auch als Citoyenne auf Entscheidungen einwirken. Ist die Wasserversorgung einmal in der Hand eines Konzerns, ist sie nur noch Kundin. Das Wasser, ohne das ein Mensch keine Woche überleben kann, ist dann eine Ware wie jede andere.

Was hier zum Thema Wasser zu sagen war, lässt sich auf alle Bereiche kommunaler Daseinsvorsorge übertragen. Bislang haben wir Privatisierungen allein danach beurteilt, wie sie sich - nach menschlichem Ermessen - auf Preise oder Qualität auswirken, was der Bürger als Kunde an Vorteilen oder Nachteilen zu erwarten hat.

Es wird Zeit, auch die Auswirkung auf die kommunale Selbstverwaltung, die kommunale Demokratie zu bedenken. Sonst könnte es sein, dass die Parteien eines Tages keine Kandidaten mehr für die Kommunalwahl finden, weil im Stadtrat kaum mehr etwas zu entscheiden ist. Jede Privatisierung, zumal wenn sie aus Finanznöten retten soll, kostet - wenn keine erstklassigen Juristen die Verträge ausgehandelt haben - ein Stück kommunaler Demokratie.

Was dem Markt übergeben wird, muss zur Ware werden. Also brauchen wir eine Diskussion darüber, was zur Ware werden darf und was nicht. Und die Einsicht, dass es Aufgabe des demokratischen Rechtsstaates ist, dafür zu sorgen, dass nicht zur Ware wird, was, nimmt man die Verfassung ernst, nicht zur Ware werden darf.

Bildung ist ein Menschenrecht, ein Bürgerrecht, dem der Staat zu dienen verpflichtet ist. Also ist Bildung keine Ware, die der eine sich leisten kann, die andere nicht. Sicher, wenn eine Volkshochschule ein paar Euro für einen Vertrag verlangt, weil sie Geld braucht und überdies klarmachen will, dass geistige Leistung etwas wert ist, muss dies noch nicht als Verstoß gegen den Geist der Verfassung gerügt werden. Aber Studiengebühren, sogar wenn es pragmatische Argumente dafür gibt, lassen sich sehr wohl als Schritt in eine Gesellschaft deuten, in der Bildung zur Ware wird. Dass die - meist gar nicht geringe - Gebühr für den Kindergarten nicht zu rechtfertigen ist, spricht sich langsam herum.

Auch Kultur ist nicht einfach eine Ware, die nach den Wettbewerbsgesetzen der Ökonomie an den Mann und die Frau zu bringen ist. Die deutschen Rundfunkgebühren sind mehr als ein Wettbewerbsvorteil gegenüber den Privaten. Sie stehen für einen kulturellen Auftrag. Der Staat hat nicht zu dekretieren, was Kultur ist, aber er ist verantwortlich dafür, dass Kultur - samt den Experimenten, die dazugehören - möglich wird, auch da, wo der Markt ihr keine Chance gäbe.

Symphonieorchester oder große Theater spielen nie so viel ein, wie sie kosten. Am Markt blieben wohl allenfalls ein paar Musicals übrig. Arbeitslose Orchestermusiker - und davon gibt es in Deutschland zu viele - sprechen nicht für unsere einstmals vorbildliche Musikkultur.

Wo die Sicherheit vor Verbrechen zur Ware wird, steht nicht weniger zur Disposition als der Staat selbst. Er entstand in Europa vor einem halben Jahrtausend als Bändiger privater Gewalt, etwa der Raubritter. Das Gewaltmonopol ist kein Attribut des Staates, es konstituiert den modernen Staat. Und es hat mit Gerechtigkeit zu tun. Es gibt keine ungerechtere Gesellschaft als eine, in der wenige sich Sicherheit kaufen können, die meisten nicht.

Eine Gesellschaft, in der unten, in den Slums, kriminelle Banden herrschen, während die Begüterten sich in "gated communities" einigeln, in Festungen innerhalb oder am Rand der Städte, ist gespalten. Wo, wie in Kalifornien, auf einen Polizisten schon vier Angestellte privater Sicherheitsfinnen kommen, Tendenz steigend, ist man schon ziemlich weit auf dem Weg vorn Citoyen zum Kunden. Wer sein Geld in - privatisierten - Gefängnissen angelegt hat, ist auch an ihrer Auslastung interessiert. Er freut sich, wenn - und das geschieht in den USA - sich die durchschnittliche Verweildauer im Gefängnis erhöht, und dies bei 2,1 Millionen Insassen.

Und in Deutschland? Wir sind noch lange nicht so weit. Aber die Sicherheitsbranche boomt, während landauf landab Stellen für die Polizei gestrichen werden. Die Privatisierung von Gefängnissen oder der forensischen Psychiatrie sind inzwischen seriöse Themen. Gut zu wissen: Wo der Bürger in Sachen Sicherheit zum Kunden wird, nähern wir uns dem Marktstaat, der dann wohl gar kein Staat mehr ist.

Und die soziale Sicherheit? Der demokratische Sozialstaat ist ein Kind des Rechtsstaats. Wenn die Citoyens und Citoyennes, die den Staat konstituieren, einklagbare Rechte haben, die sich aus der Würde des Menschen ableiten lassen, dann hat der Staat eine unmittelbare Verantwortung für seine Bürger, die sich an keinen Markt abschieben lässt. Schließlich haben diese Bürger unmittelbare Verantwortung für ihren Staat. Der Staat hat zum Beispiel nicht nur das Recht, eine Krankenversicherung für jeden und jede vorzuschreiben, er hat die Pflicht, dafür zu sorgen, dass keine Kranke ohne Pflege bleibt. Das ist nicht altmodisch, staatsfixiert, das ergibt sich aus der Verfassung. 

Es dürfte stimmen, dass jeder Sozialstaat in der Gefahr ist, Menschen zum Objekt von Bürokratie zu machen. Das hat mit Zahlen zu tun, der Zahl der Versicherten, der Zahl der Arztbesuche, der Rezepte und Behandlungen. Aber diese Zahlen würden ja nicht geringer, wären alle auf private Versicherung angewiesen. Die ellbogenstarken Lobbys gäbe es auch im Marktstaat, vielleicht noch mächtiger.

Aus alledem ergibt sich, dass der Sozialstaat nie perfekt, nie endgültig und unantastbar sein kann. Dass, zumal wenn die Demografie dazwischenkommt, immer neu justiert werden muss. Aber ein Argument gegen den Sozialstaat folgt aus dem allem nicht. Der demokratische Rechtsstaat ist die einzige funktionierende Methode, jegliche Gewalt, die private, die privatisierte, aber auch die staatliche, dem Recht zu unterwerfen. Wer ihn schwächt, setzt Gewalt frei. Genau dies geschieht heute vor allem im Südteil der Erde.

Der demokratische Rechtsstaat ist aber abhängig von der Loyalität seiner Bürger, der Citoyennes und Citoyens. Er ist ohne diese Loyalität nicht lebensfähig. Diese Loyalität erwirbt und behält kein Staat, der seine Bürger im Fall einer Krise, einer persönlichen wie Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit, oder einer Wirtschaftskrise an den Markt verweist und damit im Stich lässt. Loyalität entsteht nur, wo man sich aufeinander verlassen kann.

Der Marktstaat ist von seinem Erfinder Bobbitt sicher gedacht als Rechtsstaat. Jeder soll auf geschriebenes Recht pochen können. Aber ein Rechtsstaat ohne soziale Verantwortung wird nicht lebensfähig sein. Er ist das intellektuelle Konstrukt von ultraliberalen Ökonomen, die noch nie auch nur in einem Gemeinderat über einen Bebauungsplan abgestimmt haben.

Der demokratische Rechts- und Sozialstaat ist eine Errungenschaft europäischer Geschichte, an der Konservative, Liberale, später vor allem aber Sozialdemokraten gearbeitet haben, eine Errungenschaft, die nicht zufällig auf einem christlich geprägten Kontinent entstand. Sie ist es wert, verteidigt zu werden. Und da sie wohl nur in einem vereinigten Europa mit Erfolg verteidigt werden kann, muss sie Grundlage für ein "Europäisches Model" werden, auf das Christdemokraten und Sozialdemokraten sich einigen sollten, sobald die marktradikale Welle abgeflossen ist.

 

 

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